Hitman: Paris Intro-Pack - Test
Man könnte es auch Blood Money 2 nennen.
Man muss im neuen Hitman nicht akribisch nach Fehlern oder Logiklücken suchen. Es ist ein mit komplexen Systemen entworfenes Werk, das im weitesten Sinne menschliches Verhalten simuliert. Und da wir hier von einem Videospiel reden, nun, ihr wisst, dass das nicht hundertprozentig klappt. Tat es noch nie bei einer Reihe, die einen im Genlabor gezüchteten Killer auf die Jagd nach Zielpersonen rund um den Globus schickt, in ihrem sozialen oder beruflichen Umfeld meist. Wie ihr euch ihnen nähern wollt - euer Ding. Mit welchen abstrus zum Unfall hingebogenen Waffen oder in welcher Verkleidung - das auch.
Hitman unterscheidet feinfühliger zwischen "Gegner sieht dich und schießt" und "Gegner zu weit weg, schießt nicht" und fügt dazwischen so manche Graustufe ein. In den beiden Einführungsmissionen und der in Paris abgehaltenen Vernissage findet man sie wieder, die kleinen, in sich geschlossenen Mikrouniversen eines Blood Money, die Locations mit diesmal Hunderten von NPCs und ihren ambientischen Geschichten.
Es gibt nicht nur die Guten und die Bösen, sondern gesellschaftliche Schichten, die in ihrer kleinen Welt alle ihren eigenen Platz haben. Oder besser gesagt: die Befugnis, bestimmte Dinge zu tun, für die andere längst als blutiger Haufen geendet wären. Nehmen wir die Vernissage in Paris: Als Gast mit Einladung kann Agent 47 durch den Vordereingang rein und den Festlichkeiten beiwohnen, aber im Backstage-Bereich hat er nun mal nichts verloren. Schafft man es dann, sich einen Stylisten zu schnappen und sein Shirt überzuwerfen, ist das keine Garantie für den Zugang zum zweiten Stockwerk, wo eine der Zielpersonen eine verabscheuenswürdige Versteigerung mit brisanten Informationen abhält.
Als Scheich dagegen, als VIP-Gast, darf man sich frei bewegen, bis hoch zur Auktion und dort mitbieten. Obwohl 47 im Gesicht nun mal so gar nicht scheichig aussieht. Wie gesagt, man muss in so einem Ansatz nicht lange nach Fehlern suchen. Sie springen euch quasi an, etwa wenn man als sowjetischer Soldat getarnt einem hochrangigen KGB-Mann auf die Toilette folgt, ihn umhaut, seine Uniform überwirft und sich niemand wundert, dass der Kerl plötzlich keinen Bart mehr hat. Oder wenn man Sicherheitsleute mit Münzwürfen in einen Geräteschuppen lockt. Oder man im Leibwächter-Outfit nur dann nicht auffliegt, wenn man in einer wichtigen Szene die Taste zum "Untertauchen" drückt, obwohl man damit nur eine leicht andere Körperhaltung einnimmt.
Das Lustigste im Sinne des Figurenverhaltens ist der Bodyguard von Viktor Novikov aus dem Paris-Abschnitt. Er verfolgt seinen Chef auf dessen Route durch den Palast, Küche, Bühne, Backstage, wohin auch immer. Da sich die Laufwege irgendwann wiederholen, kommen die beiden immer wieder in der Küche vorbei. Der Leibwächter greift jedes Mal in die vorher mit Rattengift versetzten Frühlingsröllchen, bekommt einen Magenkrampf und flüchtet aufs Klo. Jedes Mal erneut. Erinnert irgendwie an die Simpsons-Folge, in der Lisa mit Bart das Hamsterexperiment durchführt.
Es sind die alten Tricks, die Spielsysteme unter Ausnutzung ihrer Schwächen gegen sich zu richten. Trotz aller Versuche, lebensnahes Verhalten beinahe als kleine Gesellschaftsstudie nachzustellen, bleibt es in erster Linie ein Videospiel.
Dennoch stören mich diese Holperer entlang des Weges nicht, weil dieser Weg eben einer von vielen und Hitman ein Spiel der Unwägbarkeiten ist. Wir haben hier massenweise NPCs, bestückt mit Reaktionen auf Systeme wie Verkleidung, Bewaffnung, Schleichen, Sperrzonen und räumlichen Abstand. Und darunter kommen sie von Zeit zu Zeit zum Vorschein, die kleinen magischen Momente, mit denen man nicht rechnete. Zum Beispiel beim IAGO-Gast im Garten, der eine Einladung zur Auktion hat. Nachdem ich ihn von hinten überrumpelte, ließ ich ihn gedankenlos liegen. Ein Palastmitarbeiter kam vorbei, fand den Leblosen, machte lautstark einen Aufriss und lockte damit die Wachen vom Hintereingang weg.
Hitman ist nicht durchinszeniert im Tunnel, sondern mäandert in die Richtung, nach der euch ist, mitten hinein in die Art von Mikrokosmos, in dem sich nicht alles allein um den Spieler dreht. Oft aber um Mittelsmänner oder Erpressung, wenn man sich Zeit nimmt, Zielpersonen verfolgt und ihnen lauscht. Viele kleine Dialoge dienen einzig ihrer Charakterisierung. Eine Mission kann fünf Minuten oder zwei Stunden dauern. Das Ziel kann mit dem Kopf in der Kloschüssel enden oder mit einem halbherzig ausgeführten Kopfschuss, weil die Gelegenheit gerade günstig schien und dann doch in einer Fensterflucht gipfelte, die mit mehr Geduld und Zeit nicht hätte sein müssen.
In erster Linie erwecken die Locations den Eindruck lebendiger Orte, in zweiter Linie sind es Levels, in die eine Spielmechanik eingeflossen ist. Während der Tutorials merkt man das noch nicht so stark. Auf der Pariser Modenschau landet man inmitten so vieler Gespräche von Gästen, Sicherheitspersonal oder Bediensteten im Palast. Natürlich nur, sobald 47 in der Nähe steht, insofern ist man doch irgendwie Mittelpunkt des spielerischen Geschehens, aber es wirkt einfach leb- und weitestgehend glaubhaft. Zumal Entwickler Io-Interactive viel Blick für Kleinigkeiten übrig hat.
Man hätte ja einen Standardspruch aufnehmen können, wenn 47 in falschem Outfit einen ihm nicht zugänglichen Bereich betreten will. So was wie "Sorry, hier kein Zutritt". Aber nein. Als Kellner darf er sich anhören "Du machst dich lächerlich, geh woanders Gläser abräumen", als Event-Techniker etwas anderes. Im nächsten Monat erscheinenden Italien-Abschnitt kann er sich beispielsweise als Kiffer verkleiden und hört von den Wachen des Grundstücks "Du bist zu spät dran für Woodstock". Solche Niedlichkeiten machen seinen Weg durch die vorbereiteten Gänge und Stockwerke, in denen die eine oder andere Brechstange dann doch ein wenig zu plakativ fürs absurde Attentat platziert ist, dennoch amüsant. Besonders weil sie oft genau das sind: amüsant.
Ich sehe dich nicht wieder, Frau mit dem Drink an der Ecke, die gerade übers "Simsen" redete, und du mich nicht, aber du warst Teil dieser kurzen Szene und als solcher eine Bereicherung. Io-Interactives Autoren haben es immer noch drauf, dem Leveldesign zugehörige NPCs als (weitgehend) natürlichen Teil des Geschehens abzubilden. Überall ist was los, im riesigen Weinkeller ebenso wie im Garten oder auf dem Dachboden.
Das gilt auch für die Zielpersonen, deren Routen sich ohne Zutun rasch wiederholen, aber sie lassen sich auf vielfältige Arten davon weglocken. Den Spion im Abschluss-Tutorial kann man als Mechaniker zu seinem Jet in der Halle beordern, dessen Schleudersitz nach 47s Handgriff nicht mehr so deaktiviert ist wie gedacht und den Kerl in den Orbit schießt. Bei Novikov und seiner Partnerin zählte ich pro Kopf mehr als fünf groß vorbereitete Möglichkeiten und ich habe mit Sicherheit nicht alles entdeckt.
Wie gesagt, der schnelle Kopfschuss zwischendurch klappt immer, falls man es mit heiler Haut zum Extraktionspunkt schafft. Als Shooter könnt ihr Hitman vergessen. Funktioniert einfach nicht. 47 hält kaum zwei Kugeln stand. Wenn er die komplette Sicherheitsmannschaft gegen sich hat, kann er nur rennen und hoffen, irgendwo eine Verkleidung zu finden, oder sich gleich ergeben. Was einem Neuladen des Spielstands gleichkommt. Und der lässt sich gern mal Zeit.
Technisch hat das Spiel noch seine Macken. Menüs öffnen sich erst mit einiger Verzögerung - vor allem bei der Karte nervig -, mit vielen gleichzeitig sichtbaren Personen macht die Bildrate hin und wieder einen Knicks. Und nach einem Hoppala einen Spielstand zu laden, das kann im schlimmsten Fall bis zu einer Minute dauern.
Aus Absolution hinübergerettet wurde der um den Sandbox-Gedanken herum gestrickte Contracts-Modus. Dort könnt ihr jeden beliebigen NPC wie in einem Missionseditor als Zielperson festlegen, dazu Regeln, durch welchen Gegenstand er sterben soll.
Hitman also, ein einziges Lauern und Händereiben bis zum großen Moment. Ein sich gern zurücknehmendes Spiel, dem makaberes Töten genauso wichtig ist wie das Abbild einer in sich geschlossenen Gesellschaft, in die man sich auf verschiedenen Wegen hineinschummeln kann. Es ist ein Ansatz, der dem letztlich doch recht linearen Absolution ein Stück weit zuwiderläuft. Vom unerkannten Schlendern über den roten Teppich bis zum Ersäufen in der Kloschüssel kann jeder sein eigenes Tempo verfolgen. Erstaunlich, dass außer Io-Interactive niemand diese Art von Spiel macht. Mit Blick auf den restlichen Markt sieht man hier nicht eins von Hunderten, sondern das eine. Noch dazu eins, das in der ersten Episode keinen Trick verlernt hat.