Homo Machina - Test: Die Mensch-Maschine
Der Körper als Industriedenkmal
Es gibt selten ein Spiel, das sich wirklich bewusst mit dem historischen Werk nur eines einzigen Menschen auseinandersetzt, aber Homo Machina ist so eins. Es dreht sich einzig und allein um das Schaffen von Fritz Kahn. Kahn lebte von 1888 bis 1968, er war ein deutscher Arzt, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Leuten die Funktion des menschlichen Körpers zu erklären, indem er in diversen Publikationen dessen Funktionen als eine Art Fabrik darstellte, wie sie in den 1920er Jahren existiert hat. Das Spiel selbst nennt Kahn einen „Pionier der Infografik" und ganz falsch ist das nicht. Er verstand es sehr gut komplexe Sachverhalte auf leicht verständliche Grafiken herunterzubrechen, die in kurzer Zeit für jedermann verständlich sind. Kurzum: Fritz Kahn war gleichzeitig das Galileo, das GEO-Magazin und die Sendung mit der Maus seiner Zeit. Und genau dieser Errungenschaft zollen Entwickler Darjeeling und Publisher Arte mit Homo Machina Tribut.
Homo Machina beginnt mit dem Aufwachen eines Menschen. Ganz oben in seinem Kopf wohnt der Direktor, er ist leicht ablenkbar, lutscht gerne Bonbons, kümmert sich aber ansonsten relativ gewissenhaft um die Leitung seines Unternehmens. Und sein Unternehmen, das ist die Koordinierung des Homo Sapiens. Der Direktor schaltet das Nervenzentrum an, weckt die Gefühle auf und kümmert sich anschließend darum, die Kollegen, die im Auge arbeiten, dazu anzuweisen, selbiges zu öffnen. Hier kommt ihr in Spiel. Ihr müsst die Linse richtig einstellen, visualisiert als alte Kamera, anschließend mit einer Kurbel das Lid öffnen und schließlich das Bild so einstellen, dass es scharf wird. Kahn schaffte es auf diese Weise, den Leuten der 20er Jahre zu erklären, was ein Auge macht. Klar, es sieht, aber wie arbeitet es? Wie eine Linse eben. Aber er verzichtete darauf, auf Grundlage physikalischer Gesetze zu erklären, wie eine Linse funktioniert, er visualisierte es mit einem Fotoapparat - etwas, das jeder kennt und von dem zumindest jeder weiß, was es prinzipiell macht.
Ja, sowas nennt man heute populärwissenschaftlich und zahlreiche Wissenschaftler würden dieser allzu simplen Darstellung wohl widersprechen, weil sie viele Details unterschlägt und einige vielleicht sogar etwas schief darstellt. Aber es hilft, den Menschen zu erklären, wie etwas grundsätzlich funktioniert - und das ist tausendmal besser als wenn sie es gar nicht wüssten und ihr Auge für einen magischen Ball aus Gallertmasse hielten. In Homo Machina geht es im weiteren Verlauf darum, was der gesteuerte Mensch seinen Tag über macht. Das große Ziel: Ein Treffen mit einer angebeteten weiblichen Person noch am gleichen Abend. Der Direktor ist deshalb aufgeregt und treibt seine Fabrikarbeiter umso schneller an: Die Informationen aus dem Auge müssen schnell weiterverarbeitet werden und korrekt interpretiert, der Frühstückskaffee will als wohlschmeckend wahrgenommen werden.
All das bewältigt ihr, indem ihr mehr oder weniger simple Minispiele absolviert. Beispielsweise indem ihr bestimmte Körperteile aktiviert, aber nur jene, die euch vorher per Leuchtsignal gezeigt wurden. Oder indem ihr eine Wasserkanone auf den festsitzenden Rotz in der Nase dreht und das so herausspült. Und ja, wären diese Minispiele ohne jeden Kontext, sie wären langweilig und nicht erwähnenswert. Es ist das sehr liebevoll gestaltete Umfeld, das sie zu wahrem Leben erweckt, es sind diese kleinen Kunstwerke, die den Werken von Fritz Kahn recht genau nachempfunden und behutsam an den heutigen Stand der Wissenschaft angepasst wurden. Wenn ihr regelmäßig den Herzschlag erhöht, weil euer Mensch jetzt die Person getroffen hat, in die er verliebt ist, dann feuert euch der Direktor an: „Los, beeilen Sie sich, mein Freund!" Gleichzeitig wirkt das Gebäude, das da offenbar um das Herz herum steht wie eine Ansammlung aus Tesla-Spulen und Lochkartenrechnern. Und das finde ich unheimlich charmant.
Als Kind habe ich sehr gern „Es war einmal ... das Leben" gesehen. Eine Fernsehserie aus Frankreich, die mit Comicfiguren dargestellt hat, wie der menschliche Körper funktioniert und zwar mit einem ganz ähnlichen Ansatz wie Fritz Kahn. Nur eben nicht mit der Darstellung des Körpers als Fabrik. Vielmehr wurde jedes kleine Teilchen personifiziert, die Abwehrzellen waren Polizisten, die Blutkörper ehrliche Arbeiter. Ich habe es gemocht, auch weil es so ziemlich jede kindliche Frage beantwortete, die den menschlichen Körper betraf, inklusive zahlreicher denkbarer Krankheiten. So weit geht Homo Machina leider nicht. Das gesamte Spiel dreht sich um den Kopf, alles darunter wird überhaupt nicht thematisiert - mit Ausnahme des Herzens. Und genau deshalb ist das Spiel auch nach rund anderthalb bis zwei Stunden vorbei. Das Date ist währenddessen noch in vollem Gange. Und so nett das Spiel bis dahin war, so schade finde ich es, dass es dann nicht weitergeht. Es hätte sich öffnen können, mir eine Art Reise durch den menschlichen Körper anbieten, ein paar Quests in der Lunge vielleicht, zur Abwehr einer Pollenallergie? Gibts aber nicht. Dafür kostet das Spiel aber auch nur etwa so viel wie ein Bier. Und das sollte euch Homo Machina schon wert sein.
Homo Machina ist ganz sicher nicht über alle Zweifel erhaben, weil es von Arte kommt und einen künstlerischen Anstrich hat. Aber man merkt dem Spiel eben an, dass es von seinen Entwicklern mit sehr viel Liebe zum Detail gestaltet wurde. Wenn ihr die kleinen Lampen, die überall in den industriellen Körperwelten herumhängen, antippt, dann sprühen sie Funken. Der Hirndirektor freut sich über Erfolge seines Menschen, seine Angestellten necken ihn und er merkt es nicht. Die Minispiele selbst sind zugegeben kein Meilenstein des Game Designs, aber es macht meistens trotzdem Spaß herauszufinden, wie diese kleinen Rätsel zu lösen sind. Deshalb ist Homo Machina letztlich ein kleines, kompaktes Paket für wenig Geld, das euch Einblick in die frühen Tage der Populärwissenschaft gibt. Ein schönes, liebenswertes Erlebnis, das ich nicht missen möchte.
Entwickler/Publisher: Darjeeling/ARTE Experience - Erscheint für: iOS, Android - Preis: 3,49 Euro - Erscheint am: erhätlich - Getestete Version: iOS - Sprache: deutsche Texte - Mikrotransaktionen: Nein