I Am Alive - Test
... wenn man das so nennen kann
Etwas Finesse ergibt sich dadurch, dass ihr die restlichen Messermänner auch mit einer leeren Bleispritze meist noch eine Weile unter Kontrolle habt - wissen diese doch nicht, wie viel Munition noch in eurem Magazin haust. Haltet ihr die Täuschung lange genug aufrecht, kommandiert ihr sie zu einem Abgrund oder vor ein Lagerfeuer, um sie in ihr Verderben zu treten. Gelegentlich ergeben sich die verrohten Wegelagerer auch, wenn ihr ihren Leithammel erledigt. Dennoch läuft es nach einer Zeit arg schematisch ab. Euch graut vor derartigen Situationen eher, weil es schade ist um die gute Munition. Gerade gegen Ende hin, als das Spiel etwas zu freimütig auf Konfrontationskurs geht, artet es ein wenig in oben erwähntes Schema F aus, das auch die unterschiedlich mutigen KI-Routinen nicht mehr kaschieren können.
Doch auch dieses simple System ist über die übersichtliche, aber nicht zu kurze Dauer von knapp sechs Stunden netto auf Normal, gut sieben Stunden auf "Survivor" noch für einige spannende Momente gut. Das Spiel überrascht nämlich oft in der Art und Weise, wie ihr überhaupt in diese Kampf-Situationen geratet. Doch dazu darf man eigentlich nicht mehr sagen. Das sollte man selbst erlebt haben. Lasst euch nur gesagt sein, dass es bedeutend schwieriger ist, in so einer Situation die richtige Entscheidung zu treffen, wenn sie euch unvorbereitet ereilt. Die Option, den Kämpfen öfter durch geschicktes Schleichen aus dem Weg zu gehen, hätte hier allerdings Wunder gewirkt - gerade in einem Spiel, in dem man sparsam mit seinen überschaubaren Mitteln umgehen will.
Zentraler Aufhänger sind die Retrys, im Grunde eure "Leben", die ihr dafür erhaltet, anderen friedfertigen Überlebenden aus Notsituationen zu helfen. Dieser Belohnungsmechanismus funktioniert allerdings nur auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad so, wie wohl ursprünglich angedacht. Auf "Normal" ist das Spiel schlicht zu freigiebig mit neuen Versuchen und lädt sie an jedem Checkpoint wieder auf den Standardwert auf, was die Spannung schmälert. Dennoch packt einen die Suche nach Leidensgenossen, denen man mit Medipacks aushilft oder eine letzte Zigarette besorgt.
Es sind tieftraurige, kleine Geschichten, für die Ubisoft Shanghai wenig mehr tut, als euch das Szenenbild aufzubauen. Es gibt meist nur einen Satz Dialog, was einerseits schade ist, andererseits aber auch eurer Fantasie etwas Freiraum lässt, wenn ihr euch denn traut, sie aufzubringen. Teilweise bricht es einem wirklich das Herz. Einer jungen Frau etwa erledigte ich ihre Peiniger, nur um festzustellen, dass ich nach dem Kampf nicht mehr die Munition hatte, ihre Handschellen zu zerschießen. Ich habe sie nie wieder gesehen. Musste weiter, hatte jemand Wichtigeres zu retten. So dachte ich jedenfalls damals. Vermutlich sitzt sie immer noch dort, auf ewig eins mit der Parkbank, an der ihre Sklaventreiber sie ketteten, während die dicke, verrußte Luft ihre verheulten Hilfeschreie verschluckt.
Es ist diese Sorte Tritt in die Brust, die I Am Alive reihenweise austeilt. Wo andere Spiele auf Nummer sicher gehen würden, irgendwo neben diesem NPC noch ein paar Kugeln herumzuliegen lassen, müsst ihr hier einfach damit leben, trotz bester Absichten als Retter versagt zu haben. Wie ich schon sagte, in Zeiten von spielerischen Allmachtsfantasien und auf Hochglanz-polierten Feel-Good-Produktionen ist ein Spiel, das gezielt darauf aus ist, schlechte Laune zu verbreiten, ein riskantes Projekt - ein rares Gut, bei dem sich jederzeit darüber im Klaren ist, hier etwas Besonderes zu erleben.
Wer rein technische Maßstäbe als Gradmesser für Qualität anlegt, für den ist dieses Spiel allerdings nicht gemacht, ist es doch selbst nach all der Entwicklungszeit noch immer spürbar unfertig. Es sieht definitiv nach Low Budget aus und zwar in dem Grad, der es offen ersichtlich macht, dass die monochrome Farbwahl und der alles verschlingende Staub, der sich so atmosphärisch, dreckig und allgegenwärtig auch gut in jedem Silent Hill machen würde, nicht allein eine stilistische Entscheidung sind. Teile der Animationen und Texturen dürften Konsolen der letzten Generation vor keine größere Herausforderung stellen und regelmäßig würde man sich dann doch wünschen, zumindest über die zentralen Figuren mal etwas zu erfahren. Doch wo man selbst tausend Fragen hat, bleiben sie meistens unerklärlich stumm. Auch hier war nicht allein der Wille zum Stil Mutter des Gedanken, es scheint einfach ein Autor gefehlt zu haben, der die Handelnden etwas mit Leben füllt. So müsst ihr das übernehmen.
Auch das Ende kommt viel abrupter und vor allem anders, als man es erwartet hätte. Es kommt jedoch definitiv nicht ohne Ansage, weshalb ich schon auf die Diskussionen hier gespannt bin. Es ist vielleicht nicht so schön sauber und rund, wie man das als Kernzielgruppen-Videospieler mittlerweile gerne hat, wird dem Ton des Erlebnisses aber in vollem Umfang gerecht. Man bleibt erst einmal eine Weile sprachlos sitzen. Ich könnte eine Parallele zu einem bekannten Kinofilm ziehen, doch dann könnte ich auch genau so gut hierein schreiben, was am Schluss passiert.
Natürlich wird in der etwas zu spärlich gestützten Handlung von I Am Alive zu keiner Sekunde die poetische Macht entfaltet, wie sie einem in der geistigen Buchvorlage McCarthys alle zwanzig Seiten die Tränen in die Augen trieb. Dafür lässt Ubisoft Shanghai seine Spielumgebung aber eine umso grausigere Sprache sprechen: Hier ein Bürostuhl, an dem noch die Fesseln von einer unmenschlichen Befragung - oder Schlimmerem - rühren, dort ein Skelett neben dem links und rechts zwei kleinere Schädel zu erkennen sind, hinter einem Gitter in einem Abwasserkanal eine entsetzliche Entdeckung. Und an einer Stelle bekommen es die Designer sogar hin, allein durch Implikationen und ohne es einem unter die Nase zu reiben, höllische Angst vor einem Inventar-Gegenstand zu verbreiten.
Natürlich könnte es etwas besser sein, fertiger und vielleicht seine exzellenten Ideen etwas weiter ausformulieren. Aber im Grunde stimmt auch: Wer in diesem im besten Sinne fürchterlichen Erlebnis die Fassung aufbringt, mit Zettel und Stift Unzulänglichkeiten und Versäumnisse zu notieren, der hat es nicht verdient. Besser dran ist, wer die Erdbeben-Risse in der Spiel-Fassade toleriert und ganz durch sie ins Spiel hinein kriecht. Dann verfehlt es seine beachtliche Wirkung nicht. Wir brauchen mehr dieser kaputten, trostlosen, bitteren Spiele. Und in dieser Konsolengeneration ist I Am Alive, der Titel, den man schon längst unter den Trümmern seiner eigenen Entwicklung verloren wähnte, das trostloseste und bitterste von allen. Mutig.