Ich hasse Divinity: Original Sin
Alte Schule, Ambitionen, null Komfort und Streitgespräche mit Katzen.
Ja, richtig gelesen. Ich hasse Divinity: Original Sin. Es hält mir gnadenlos vor Augen, wie bequem mich moderne RPGs haben werden lassen. Als ob ich zehn Jahre kein Fitnessstudio mehr von innen gesehen hätte und nun schon nach einer Minute keuchend vom Laufband kippe. "Freiheit" versprechen viele Rollenspiele. Bei Divinity: Original Sin spürt man sie wie einen Muskelkater.
Ich hänge auf meinem Stuhl und habe keinen Bock mehr, weil die Quests und Laufwege wie Gebirge vor mir aufragen und ich nur im Schneckentempo vorankomme. Was? Wo soll ich hin? Irgendwo im Norden? Wo sind diese Baracken noch gleich? Wie hieß der NPC, mit dem ich sprechen soll? Wo sind die Türschilder in diesem Kaff? Warum hat mich dieser Goblin in eine andere Dimension teleportiert? Kann das nicht schneller gehen? Komfortabler? Linearer? Leichter?
Nein, kann es nicht. Genau dafür bezahlt der nostalgische Fan fast eine Million Dollar allein auf Kickstarter. Zähneknirschend kaue ich mich durch. Beschrifte die Übersichtskarte, mache Notizen, lese Dialoge in Romanlänge. Dann werden meine Recken von einem Rudel Zombiewildschweine überrannt und ich hab vergessen zu speichern. Die Rolle zur Wiederbelebung liegt im falschen Inventar.
Noch nicht genug gelitten? Beim Feilschen mit einem NPC vergesse ich, im Handelsfenster den Gegenwert an Gold auf die Forderungsseite zu ziehen und schenke dem Typen Gegenstände für mehrere Hundert Münzen. Eine wichtige Tür lässt sich nicht per Dietrich öffnen, der Schlüssel ist nirgends, ein Schlag mit dem Schwert reduziert ihre Haltbarkeit nur um ein halbes Prozent. Prügel ich jetzt wirklich eine Dreiviertelstunde gegen das Holz, um weiterzukommen? Frust, Stolz, Überraschung, Langeweile, Begeisterung, Wut. Mir bleibt keine Emotion erspart.
Wer nur die isometrische Klickibunti-3D-Grafik betrachtet, gerät schnell aufs Glatteis. Die Engine ist solide, ja detailverliebt, schaut für meinen Geschmack aber ein wenig zu sehr nach der "Casual-Konkurrenz" aus. Ich hatte darum diverse Vorurteile, als ich den Titel zum ersten Mal sah. Unter der Haube steckt allerdings ein echtes Interaktionsmonster.
Old school trifft Gigantismus
'Original Sin' ist ein Prequel zum Klassiker Divine Divinity und wird ein RPG der ganz alten Schule werden. Keine Stützräder, dafür reichlich ambitionierte Features. Ganz neu auf der Wunschliste der Entwickler stehen zum Beispiel Tag-Nacht-Wechsel, ein Wettersystem und fixe Tagesabläufe für NPCs. Auch deshalb wurde der Titel gen Sommer diesen Jahres verschoben. Über Steams Early-Access-Programm kann man derzeit die Alphaversion spielen.
Ihr lenkt zwei Helden gleichzeitig. Entweder folgt dabei ein Recke automatisch dem anderen oder ihr teilt die Truppe auf. Später gesellen sich weitere Kämpfer zu euren Schützlingen, können aber jederzeit aufgrund von Streitigkeiten oder questbedingt aus der Party fliegen. Der Clou: Im Mehrspieler-Koop können zwei Spieler jeweils einen Helden steuern. Sonderlich schnell zu Fuß sind eure Charaktere übrigens nicht - für Divinity braucht man Zeit. Die Spielwelt ist riesig (!) und soll euch völlige Bewegungsfreiheit lassen. Wegpunkte oder Questmarker abklappern ist nicht.
Ich laufe also mit meinen beiden frischgebackenen Helden los und habe keinen blassen Schimmer, wohin ich eigentlich muss. Im Inventar ein Zettel. Wir sollen in der Stadt Cyseal in einer Mordsache ermitteln. Aha. Plötzlich verstellen mir Killerkrabben den Weg. Das Kampfsystem ist rundenbasiert - hier folgen die Entwickler dem allgemeinen RPG-Trend. Hat man erst kürzlich so ähnlich in Banner Saga oder Blackguards gesehen. Wer die Initiative hat und zuerst zieht, wird ausgewürfelt. Mit Aktionspunkten bewegt ihr euch oder attackiert den Feind. Alternativ dürft ihr eure Punkte horten. In den Vorgängern hat man die Monster noch in Echtzeit gemetzelt (hatte was von Ultima Online damals, nur dass man per Pausetaste innehalten und Tränke einwerfen konnte). Das neue System passt wunderbar zum restlichen Spiel: Nehmt euch Zeit, aktiviert die Denknudel und weidet euch an den komplexen Möglichkeiten.
Ich laufe also mit meinen beiden frischgebackenen Helden los und habe keinen blassen Schimmer, wohin ich eigentlich muss.
Andere Dinge werden Veteranen sofort vertraut vorkommen. Ich kann Gegenstände in der Umgebung per Klicken und Ziehen verschieben. Kisten, Stühle, Möbel - wer will, lässt keinen Stein auf dem anderen, findet Schätze oder verborgene Schalter zu Geheimtüren oder richtet einfach nur ein hübsches Durcheinander an. Was ins Auge sticht: Für so ziemlich jeden Gegenstand gibt es eine praktische Verwendungs- oder Interaktionsmöglichkeit. Ob Nägel, Töpfe, Angelruten, Becher, Eimer, Sextant oder Hammer - für irgendwas ist der Kram immer zu gebrauchen. Ich will eine Waffe basteln? Da hau ich mal eben ein paar Nägel durch diesen Ast und erhalte eine schöne Keule. Eine Leiche ist zu exhumieren? Wie gut, dass ich den Spaten vorhin eingesteckt habe. Mein Inventar? Nach wenigen Minuten gesprengt.
Auch bei Fertigkeiten und Magie darf fröhlich kombiniert werden. Die Elemente folgen der natürlichen Logik. Gegner per Regenzauber durchnässen und per Stromschlag im Dutzendpack brutzeln? Feuerbälle auf Ölfässer schmeißen und den Feinden beim Kokeln zugucken? Monster, die in Pfützen stehen, per Eiszauber festfrieren lassen? Alles machbar. Die Regenzauber-Schriftrolle, die ich unterwegs aufgelesen habe, erweist sich als überaus praktisch beim Löschen eines brennenden Schiffes.
Wo bitte geht's nach irgendwo?
Meine Helden finden einen Toten am Fuße einer Klippe und sein Tagebuch. Der Gute hat geglaubt, er könne fliegen. Die Charaktere unterhalten sich über den verblendeten Tropf und beginnen ein regelrechtes Streitgespräch über seine Motive. Ziemlich schizophren, beide Seiten des Dialogs zu lenken, obwohl man alleine vor dem Bildschirm sitzt. Im Mehrspieler-Koop-Modus, wenn jeder Held von einem anderen Spieler kontrolliert wird, schaut die Sache anders aus. Wer die höheren Werte für Argumentation, Charme oder Bedrohlichkeit hat, entscheidet dann die Gespräche zu seinen Gunsten und kann so den Verlauf von Quests bestimmen - ohne dass der andere etwas dagegen tun kann. Eine interessante Idee.
Wir gehen weiter, begegnen zwei betrunkenen Legionären. Die nächste Eigenheit von Original Sin wird deutlich: NPCs haben viel zu erzählen. Ich meine richtig viel. Eine endlose Textlawine rollt über mich hinweg. Zehn Gesprächspunkte plus Zwischenfragen pro Dialog sind die Regel. Trotzdem solltet ihr aufmerksam lesen und euch einen Notizblock neben die Maus legen. Wer bei wichtigen Questgebern den entscheidenden Hinweis übersieht, wird mit dem automatischen Journal später nicht viel Freude haben - darin steht oft nur schwammiges Blasülz. Kann an der Alphaversion liegen, doch ich fürchte, dieser Mangel ist Absicht. Schließlich haben die Autoren Hektoliter Herzblut investiert. Zum Trost gibt es Insider-Gags und verschrobene Charakterzeichnungen. Die Texte sind überaus witzig.
Mit Tieren sprechen? Warum nicht. Es erweist sich als überaus praktisch, streunende Katzen, Kühe und Hunde zu befragen.
Wie viel Handlungsfreiheit euch zugestanden wird, überrascht mich immer wieder. Noch mehr freilich, wie plausibel die NPCs auf euer Tun reagieren. Öffne ich ungefragt eine Tür, verschiebe einen Gegenstand oder versuche gar, etwas in mein Inventar zu stecken, werde ich sofort von den umstehenden Figuren angepöbelt. Also muss ich Schleichen, Schlösserknacken und Taschendiebstahl perfektionieren, sofern ich mich dem Diebeshandwerk verschreiben will. Putzig, dass sich meine Helden metaphorisch in einem Busch verstecken und auf Zehenspitzen trippeln, wenn ich den Stealth-Modus aktiviere. Die Sichtlinien von NPCs werden dabei durch Kegel eingeblendet. Erinnert an Metal Gear Solid und Konsorten.
Von den Socken haut mich, in was für merkwürdige Fertigkeiten ich Punkte stecken kann. Mit Tieren sprechen? Warum nicht. Es erweist sich als überaus praktisch, streunende Katzen, Kühe und Hunde zu befragen. Zusätzliche Quests kommen dabei rum, witzige Dialoge sowieso, der Hund des Ermordeten aus der Hauptquest wird zum wertvollen Zeugen, seine Nase kann den Täter überführen - ein alternativer Lösungsweg tut sich auf. Davon gibt die offene Spielwelt einige her. Da ist sie wieder, diese Freiheit. Und auf einmal macht sie Spaß. Die Atmung wird ruhiger. Gewöhnung setzt ein. Frust und Wut werden seltener, die Faszination nimmt zu.
Ob das Projekt über die Ambitionen seiner Entwickler stolpert? Das ist die größte Sorge, die mich bei Divinity: Original Sin derzeit umtreibt. Ich habe bestenfalls die Oberfläche des Spiels geschrammt. Ob ein Epos darunter schlummert und welche Ausmaße es annimmt, kann ich auf Basis der Alphaversion und nach der kurzen Zeit nur vermuten. Sicher ist, dass der Titel einige Leute anfangs überfordern, ja, langweilen könnte. Viele weinen 'den guten alten Zeiten' (TM) hinterher. Spätestens wenn die komplette Party in DSA: Sternenschweif an einer Erkältung krepiert oder der Held des ersten Diablo in Zeitlupe durch die Dungeons zuckelt, trocknen die Nostalgie-Tränen wieder. Aber vielleicht ist es nur Bequemlichkeit, die da aus mir spricht.
Wer sich auf das langsame Tempo, die gewaltige Textmenge und die Komplexität des Spieles einlässt, wird daran wachsen. Rückblickend ist das Machwerk der Larian Studios bereits in der Alphaversion eine faszinierende Erfahrung. Der Koop-Modus und der im Paket enthaltene Editor für Mehrspielerabenteuer dürften die finale Version entweder auf den RPG-Olymp katapultieren oder zum Nischenprodukt für schrullige Nerds degradieren. Vielleicht beides auf einmal. Meine RPG-Muskeln von einst, sie gewinnen wieder an Kraft. Dafür liebe ich Divinity: Original Sin.