Ich muss zugeben, als Volition vor einiger Zeit nach fast einer Dekade Saints-Pause ein Reboot der Serie angekündigt hat und die neuen Protagonisten vorstellte, da war ich noch sehr, sehr skeptisch. Was soll wohl nach Superheldenkräften, Alieninvasoren und einem Besuch in der Hölle noch kommen, was den WTF-Faktor signifikant steigert? Und sind die zerbrechlich wirkenden Mädchen und Jungen der vierköpfigen Kern-Truppe nicht viel zu glatt, um als beinharte Gangster durchzugehen, vor denen gleich drei schwer bewaffnete Gangs in der fiktiven Metropole Santo Ileso zittern?
Aber die Third Street Saints sind jetzt Geschichte und das gezeigte Gameplay-Material mit der neuen Crew versprach einfach ein herrlich schräges, kunterbuntes, Chaos, bei dem nichts unmöglich scheint, Hauptsache es knallt und rummst ordentlich. Und der oder die Boss-Protagonist(in) muss auch nicht wie Ruby Rose aussehen, sondern kann dank üppigem Charakter-Editor nach Lust und Laune (miss)gestaltet werden. Muskelbepackter Hüne mit Clownschuhen und blasiert klingendem britischem Akzent, Bein- und / oder Armprothesen, Narben und Tattoos oder vielleicht ein erkennbar weiblicher Körper mit einer Haut in allen Farben des Regenbogens und dazu eine tiefe männliche Stimme. Kann man alles machen. Seid ihr mit der Wahl unzufrieden, ändert ihr jederzeit Optik und Outfit, wenn ihr nicht gerade mitten in einer Storymission steckt.
Das sind übrigens nicht die einzigen Optionen, mit denen ihr Saints Row an eure Wünsche und Vorstellungen anpassen könnt: Recht früh im Spiel steht euch eine Garage zur Verfügung, in der ihr eure stetig wachsende Fahrzeugsammlung verstaut. Klar, wenn ihr ein Vehikel braucht, dann finden sich genug Autos, Busse oder Motorräder in Santo Ileso, die ihr euch bei Bedarf einfach schnappt. Das geht auch, wenn ein Auto an euch vorbeifährt und ihr mit einem beherzten Sprung durch das Seitenfenster Carnapping zu eurem ellenlangen Strafregister hinzufügt.
Aber nur in der Garage lassen sich die Fahrzeuge so richtig aufmotzen, zum Beispiel mit einem Schleudersitz, der ideal als Startrampe für einen Flug mit dem Wingsuit dient. Auch hier gilt: Wenn es euch gefällt, macht es, auch wenn ihr dann mit einem rollenden Piratenschiff durch die Wüste brettert. Empfehlenswert ist eine extra gepanzerte Karosserie, denn ihr könnt eure motorisierten Gegner mit Rammattacken von der Straße befördern. Euer Fahrzeug nimmt übrigens ebenfalls bei Crashs sichtbar Schaden, komplett schrotten lässt es sich aber kaum, auch wenn ihr als Kamikaze-Fahrer unterwegs seid. Was sich sonst so anpassen lässt, da wären unter anderem die Waffen, die jeweils über einen freischaltbaren Spezialschuss verfügen sowie die Ausstattung des Hauptquartiers der Saints, welches stilecht in einer alten Kirche untergebracht ist.
Genug der Vorrede: Wie sich Saints Row spielt, konnte ich jetzt endlich persönlich in Erfahrung bringen, dabei die ersten Storymissionen meistern und mich schon mal etwas in der offenen Spielwelt umschauen. Es geht schon mal gleich gut los mit einem Cliffhanger. Eine rauschende Party der bereits als Gangster-Größen etablierten Saints wird überfallen. Chaos, Ballerei, Explosionen, Gesteinsbrocken fliegen durch die Luft, die Kamera zoomt bedeutungsschwanger auf ein Handy mit zersplitterter Scheibe und dann wird alles dunkel. Keine Sorge, den Antihelden wird schon nichts Dramatisches passiert sein, aber jetzt geht es erst einmal ein paar Monate in die Vergangenheit. Euer Boss ist zu dem Zeitpunkt noch kein Boss, sondern lebt mit den Freunden Kevin, Neenah und Eli in einer WG und hat gerade einen neuen Job angenommen.
Um sich das teure Leben in dem Moloch Santo Ileso leisten zu können, habt ihr euch als Söldner bei den Marshalls anwerben lassen. Eine paramilitärische Truppe, die für Geld wirklich alles macht und über ein fettes Arsenal an hochmodernen Waffen verfügt. Die erste Mission heißt „The first f@cking Day“ und das trifft es ziemlich gut. Als Kanonenfutter werdet ihr mit einem Trupp Marshalls auf die befeindeten Los Panteros losgelassen, ein allzeit gewaltbereiter Haufen an Schlägern, der sich in einer verkommenen Westernstadt verschanzt hat. Was folgt ist eine atemlose Abfolge von sich immer weiter ins Absurde steigernden Actionszenen, wenn ihr MG-Stellungen aushebt, mit dem Geschützturm eines Panzerwagens Dutzende Gegner niedermäht und euch zum Finale mit dem örtlichen Ober-Panteros einen Zweikampf liefert, während ihr auf einem Düsenjet herumklettert und nebenbei Feinde ringsum mit Blei versorgt.
Da ihr den Auftrag quasi im Alleingang erfolgreich zu Ende bringt, dürft ihr euch in weiteren Missionen für die Marshalls euren Sold verdienen. Und die sind nicht minder abgedreht, so kapert ihr einen schwer bewachten Konvoi mit wertvoller Fracht, in dem ihr euch von LKW zu LKW vorarbeitet und dabei links und rechts Fahrzeuge mit Raketenwerfern abschießt, um euch ein angeblich unersetzliches Artefakt in den Besitz der Marshalls zu bringen. Da bleibt das mysteriöse Teil, was wohl noch im Verlauf der Story eine wichtige Rolle spielt, aber nicht, denn auch die Idols, eine Watch-Dogs-mäßige Gruppierung von Ravern, die eine neue Weltordnung ausrufen möchten, will das Exponat ebenfalls an sich reißen.
Es kommt, wie es kommen muss: Trotz vollem körperlichem Einsatz verliert ihr letztendlich das wertvolle Stück und werdet mit Schimpf und Schande aus der Truppe ausgestoßen. Das ist dann der Gründungszeitpunkt der neuen Saints und das Quartett beschließt, sich einem Leben des Verbrechens zu widmen, die Konkurrenz auszuradieren und ein Gangster-Imperium zu errichten. Das nötige Startkapital verschafft ihr euch in den zahlreichen Nebenmissionen, in denen ihr Meth-Labore aushebt, Fahrzeuge klaut, die feindlichen Gangs beraubt oder Versicherungsbetrug ausübt, in dem ihr euch in irrwitzigen Szenen in den Straßenverkehr werft und möglichst oft von einem Auto in die Luft schleudern lasst. Jeder virtuelle Knochenbruch spült Geld in die Kasse.
Vielleicht habt ihr es schon bemerkt, mir haben die kriminellen Tätigkeiten in Santo Ileso richtig Spaß gemacht. Das alles ist derart abgedreht und bar jeder Bodenhaftung, so wie ein Saints Row eben meiner Meinung nach sein muss. Und dazu braucht es weder Aliens noch Superkräfte oder Dildos. Rund vier Stunden konnte ich von Beginn an spielen, das ist natürlich viel zu wenig, um alle Facetten in Augenschein zu nehmen, zumal sich die Welt erst später vollständig öffnet und somit mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Ich habe aber schon einiges an Erfahrungspunkten und virtuellen Dollars verdient, die ich in die Fähigkeiten meines Bosses investiert habe. Mit Spezial-Attacken, wie dem Ananas-Express, bei dem ihr einem Gegner eine Handgranate in die Hose steckt und mit Schwung in Richtung seiner Kumpels werft, wuchtigen Takedowns, Gadgets wie Annäherungsminen oder Spezialwaffen, wie eine Piñata-Kanone oder ein riesiger Zeigefinger, aus dem ihr Kugeln verschießt, lassen sich die Kämpfe überstehen. Denn bereits auf dem mittleren Schwierigkeitsgrad, Entrepreneur, stürmen Massen an Gegnern auf euch ein. Darunter Minibosse mit Schilden und besonders mächtigen Waffen, die euch im Handumdrehen Richtung letzten Checkpoint schicken.
Was ich sehen und spielen konnte, das hat mir auf jeden Fall gefallen. Die Missionen sind vielfältig und unterhaltsam, die abwechslungsreiche Landschaft schick in Szene gesetzt. Das, auch wenn die Grafik jetzt definitiv keine Next-Gen-Offenbarung darstellt, und das Spiel sich zu keiner Zeit ernst nimmt. Emotionale Momente könnten bei den Kumpel-Missionen aufblitzen, wenn ihr Eli, Neenah und Kevin bei ihren persönlichen Problemen helft. Aber schon kurz darauf sitzt ihr dann bestimmt wieder am Steuer eines Helikopters und ballert Raketen auf eure Feinde.