Kyn - Wikingergemetzel in der Sechserparty
Rollenspiel-Fusion-Food aus den Niederlanden.
Langsam wachsen mir wirklich graue Haare und zwar büschelweise. Nicht nur in der traurigen Realität, auch im übertragenen Sinne. Viele Stunden habe ich nun bereits in das Rollenspiel Kyn des niederländischen Entwicklers Tangrin gesteckt und immer wieder verliere ich mich in seinen Crafting-Menüs - stets im Hinterkopf die Frage: Was soll ich mir nun basteln? Und für welche meiner Spielfiguren? Crafting-Materialien sind in Kyn zwar grundsätzlich häufig zu finden, aber um eine wirklich mächtige Axt oder eine besonders starke Rüstung zu basteln, braucht es viele davon, häufig auch sehr seltene.
So entsteht immer wieder die Qual der Wahl: Welche Figur braucht jetzt gerade was am dringendsten? Nicht falsch verstehen: Es macht Spaß, über diesen Fragen zu grübeln. Aber es ist eben auch ein wenig anstrengend. Spielfiguren gibt es in Kyn zu Beginn übrigens nur zwei, da ist die Grübelei noch nicht so schwer. Später werden es allerdings sechs. Dabei ist das Spiel kein klassischer Baldur's-Gate-Klon - viel eher eine unorthodoxe Kreuzung aus ebendiesem Spiel und Diablo.
Eure Spielfiguren steuert ihr in Kyn in Echtzeit. Letztere kann verlangsamt werden, um einzelnen Figuren in relativer Ruhe neue Befehle zu geben - das aber nur für begrenzte Zeit. Eine Möglichkeit, wie in Divinity: Original Sin das Geschehen komplett anzuhalten, gibt es nicht. „Diablo war mir immer ein bisschen zu flach", sagt Victor Legerstee, einer der nur zwei Entwickler im Gespräch. „Du musst einfach dauernd klicken. Außerdem hat man nur eine Spielfigur und damit kann man nicht wirklich flexibel sein." Ziel bei der Entwicklung von Kyn war es demnach, dem Spieler mehr Freiheiten zu geben. „Rollenspiele wie Baldur's Gate fand ich aber immer ein wenig zu langsam und zu repetitiv. Deshalb hatten wir die Idee, einfach beide Spielkonzepte zu vereinen", so Legerstee weiter.
Eine Idee, die ihm und seinem Kompagnon Cavit Ozturk aber erst im Laufe der Entwicklung kam. Ursprünglich sollte Kyn nämlich ganz anders aussehen: Vor etwa viereinhalb Jahren begann das Projekt als das simple Vorhaben, ein kleines Tower-Defense-Spiel zu entwickeln. Ozturk und Legerstee verdienten ihr Geld in dieser Zeit mit Auftragsarbeiten für Banken. Kyn entwickelten die beiden zunächst nebenbei - dann wurde das Projekt größer und größer. „Wir haben immer gedacht, dass wir das Spiel in ein paar Monaten fertig entwickeln können. Dann haben wir unsere Deadline immer um ein paar Monate nach hinten verschoben", erzählt Ozturk. „Wir haben immer sieben Tage die Woche und zwölf bis 16 Stunden pro Tag gearbeitet, weil wir dachten, wir seien fast fertig." Aus einem Tower-Defense-Spiel mit Wikinger-Setting wurde so ein groß angelegtes Rollenspiel.
Die Wikinger-Kulisse ist geblieben, hinzu kamen allerdings Unmengen an Ausrüstungsgegenständen, verschiedenen Gegnertypen und Fähigkeiten. Vor allem aber ging es den Entwicklern um das Kombinieren ebendieser Skills, Rüstungen und Waffen. „Der größte Einfluss bei der Entwicklung von Kyn war Guild Wars", sagt Legerstee. „Da gab es einen Modus namens 'Guild vs. Guild', in dem es darum ging, dass zwei Gruppen aus jeweils sechs Spielern gegeneinander kämpften. Die Spieler mussten verschiedene Skills kombinieren und herausfinden, welche Kombination die beste für eine bestimmte Situation ist." Genau diese Erfahrung wollen die Entwickler mit Kyn in ein Singleplayer-Spiel übertragen.
Über eure Fähigkeiten könnt ihr dabei in Kyn relativ frei verfügen. Stets sind drei davon anwählbar - welche das sind, lässt sich jederzeit ändern. Es kommt allerdings vor allem auf die richtige Ausrüstung an - und gute Ausrüstung ist selten. „60 bis 70 Prozent aller Items, die du in Kyn findest, sind Crafting-Items. Crafting ist die zentrale Komponente im Spiel", sagt Ozturk. Denn: Die mächtigsten Rüstungen und Waffen können überhaupt nur so entstehen. Nun liegt die Idee nahe, dass es einfach sein könnte, das Spiel einfach nach neuen Materialien abzugrasen, tumbes Grinding sozusagen. Genau das lassen die Entwickler aber nicht zu, denn Kyn hat keine offene Spielwelt, sondern besteht aus einzelnen Abschnitten, nach denen ihr immer wieder in eine Stadt zurückkehrt. Einmal besuchte Abschnitte könnt ihr kein zweites Mal besuchen. Grinding ist unmöglich. Klassische Erfahrungspunkte gibt es nicht - stattdessen könnt ihr nach jedem Abschnitt automatisch fünf Punkte auf die Grundwerte der Charaktere verteilen. Zu selten aufzuleveln und damit irgendwann bestimmte Stellen im Spiel nicht mehr schaffen zu können, ist somit ebenfalls unmöglich.
Bis Kyn am 28. Juli offiziell via Steam erhältlich sein wird, wollen die Entwickler dem Spiel noch den letzten Feinschliff verpassen. Hinzukommen sollen neben ein paar neuen Designs für Rüstungen und Händlern, die während der Missionen verfügbar sind, auch Änderungen an der Geschichte. Auf die Frage, welche Elemente es nicht in das Spiel geschafft haben, die Tangrin aber eigentlich gerne integriert hätte, antwortet Legerstee: „Wir bereuen es wirklich, dass wir es nicht geschafft haben, weibliche Spielfiguren zu integrieren." Die Entwickler hatten negatives Feedback dafür erhalten, dass der Spieler keine weiblichen Figuren steuern kann - bei sechs spielbaren Charakteren. „Wir wollten das Spiel einfach in einer bestimmten Zeit fertig bekommen und haben uns daher auf einen Typ Rüstung konzentriert. Aber hätten wir für all diese Ausrüstungsgegenstände noch einmal weibliche Varianten machen wollen, hätte uns das Monate gekostet", so der Entwickler weiter.
Die Entwicklung eines Spiels mit einem Kern-Team von nur zwei Personen scheint ohnehin Fluch und Segen gleichzeitig zu sein. Einerseits mache das die Dinge sehr unkompliziert. „Wir können Neuerungen innerhalb weniger Stunden in das Spiel einbauen. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und arbeiten gut zusammen", sagt Legerstee. Andererseits entstünden durch ein so kleines Team auch Probleme beim Zeitmanagement. „Normalerweise bräuchte man für so ein Projekt ein Team von acht bis zehn Leuten, besser 20."
Wie Kyn letztlich ankommen wird, wird sich wohl schon in der ersten Woche nach Release zeigen. Legerstee und Ozturk sind spürbar nervös, sie sehnen den Termin herbei, um endlich zu erfahren, ob ihr Spiel ein Erfolg wird oder nicht. Sollte Kyn ein Flop werden, würden sich beide wohl wieder ihren Auftragsarbeiten widmen. Vielleicht wieder für Banken. Potenzial hat das Spiel allerdings allemal. Etwas hektisch und unübersichtlich wirken die Kämpfe noch, manchmal versperrt ein riesiges Dach oder ein Baumwipfel durch die starre Kameraführung die Sicht auf das Spielgeschehen. Davon ganz abgesehen zeigt Kyn aber in jedem Spielabschnitt neue Ideen: Hier müsst ihr ein Katapult eskortieren, da ein Dorf evakuieren, demnächst eine belagerte Stadt befreien und eine Stunde später womöglich ein Monstrum aus der Wikinger-Mythologie erschlagen. Die umfangreichen Crafting-Möglichkeiten sind faszinierend, die Qual der Wahl wird zum Genuss. Ende Juli wird sich zeigen, ob das für einen kommerziellen Erfolg reicht.