Last Day of June: Was wärt ihr bereit zu tun, um einen geliebten Menschen zu retten?
Im Gespräch mit Game Director Massimo Guarini.
Was wärt ihr bereit zu tun, um einen geliebten Menschen zu retten? Wie weit geht ihr dafür? Ignoriert ihr alle Konsequenzen, Hauptsache euren oder eurem Liebsten geht es gut? Mit dieser Frage beschäftigt sich Last Day of June vom italienischen Entwicklerstudio Ovosonico. Alles beginnt damit, dass Carl und June einen wundervollen Tag an ihrem Lieblingsort am See verbringen, bevor das Schicksal zuschlägt und ein Autounfall June aus dem Leben reißt.
Einige Zeit später stellt Carl fest, dass die von June gezeichneten Gemälde ein Eigenleben entwickeln und indem er sie berührt, ist es ihm möglich, die Vergangenheit zu verändern. Ganz so einfach lässt sich der Tod nicht austricksen, denn es braucht die richtige Kombination an veränderten Erinnerungen, um June zu retten.
Die Idee zu dem Spiel kam Game Director Massimo Guarini (Murasaki Baby, Shadows of the Damned), als er sich das Musikvideo zu Steven Wilsons Song "Drive Home" anschaute. "Ich war im wahrsten Sinne des Wortes überwältigt von der wundervollen Gegenüberstellung von Melancholie und Hoffnung in diesem kurzen Video", sagt er im Gespräch mit Eurogamer.de. Es inspirierte ihn zu einer Geschichte für ein Spiel, in dem die Spieler die Geschichte durch Reue und Akzeptanz erleben. "Das sind zwei häufig auftretende und starke Emotionen, die wir alle erlebt haben."
"Ich bin fest davon überzeugt, dass Spiele ein unglaublich ausdrucksstarkes Werkzeug sind. Ich stellte mich vor die Herausforderung, die Spieler eine persönliche, emotionale Reise durch Spielmechaniken erleben zu lassen - nicht nur durch Dialoge und animierte Sequenzen", fügt er hinzu. Da Wilsons Song ihn inspirierte, war es für Guarini wichtig, ihn mit an Bord holen. Seine erste Reaktion war zurückhaltend.
"Steven interessiert sich nicht für Videospiele, so wie es viele andere nicht tun. Ich sagte mir, dass er nicht wissen könne, ob ihm Videospiele tatsächlich gefallen oder nicht. Zumindest nicht auf die Art, wie ich es tue", erklärt er. Daher erstellte das Team einen ersten spielbaren Prototyp mit der Anfangsszene, in der sich Carl und June am Pier befinden. Es waren rund zehn Minuten Gameplay und der Prototyp nutzte eine erste Version des Shaders, der für den einzigartigen Stil des Spiels sorgt.
"Als ich Steven den Prototyp zeigte, berührte mich seine Reaktion. 'Ich wusste nicht, dass Videospiele so sein können...', sagte er, sichtlich überrascht. Steven war absolut begeistert. Er erlaubte mir, all die Songs aus seiner Laufbahn aufzugreifen, die ich wollte. Es war eine Ehre für mich, die Freiheit zu bekommen, seine Werke in einem anderen Unterhaltungsmedium neu zu interpretieren. Das Resultat daraus ist Last Day of June."
Für Guarini war es am schwierigsten, eine emotionale Geschichte durch die interaktive Natur von Spielmechaniken zu vermitteln. "Das zu erreichen ist nicht einfach", merkt er an. "Es braucht eine enorme Menge an Fokus und die Courage, unnötige Elemente zugunsten einer klaren Vision zu verwerfen. Als Spieleentwickler sollten wir davor zurückschrecken, uns die Sprache anderer Medien einzuverleiben, zum Beispiel von Filmen. Konzentrieren wir uns eher auf unsere eigene Sprache, die Interaktivität."
Da es im Spiel um die Veränderung der Vergangenheit geht, ergeben sich verschiedene Möglichkeiten und Konsequenzen. In einer langen Pre-Production- und Design-Phase entstand ein System, das natürlich und glaubwürdig erschien. "Last Day of June war eines der kompliziertesten Spiele, die ich je designte. Es kam häufig vor, dass eine Änderung bei einem einzelnen Element das gesamte Kartenhaus in sich zusammenstürzen ließ", erzählt er.
Guarini ist überzeugt, dass Spiele in der Lage sind, ähnliche Emotionen zu wecken wie Bücher oder Filme. Alleine durch traurige Dialoge und lange, nicht-interaktive Sequenzen sei das allerdings nicht möglich. Kinder ließen beim Spielen mit Spielzeug ja auch ihre Fantasie spielen, um Lücken zu füllen. Bei einem Videospiel sei dies ebenso möglich.
Emotionale Bindungen zwischen Spieler und Charakteren lassen sich knüpfen, indem der Spieler die Motivationen einer Figur nachvollziehen und teilen kann. "Für normale Leute ist es schwierig, mit einem Space Marine oder Superhelden mitzufühlen. Es ist auf jeden Fall einfacher, Mitgefühl für eine verletzliche und normal aussehende Person zu empfinden, die zum Beispiel einen Verlust erlitten hat", sagt er. "Es ging uns darum, uns mit normalen, alltäglichen Ereignissen zu befassen. Unser Ziel war, die Weltlichkeit bestimmter Geschehnisse und ihre tiefgreifenden Auswirkungen auf unsere Leben hervorzuheben."
Mit der Geschichte von Last Day of June wollten die Entwickler eine Botschaft vermitteln und gleichzeitig Raum für Interpretationen lassen. Die Spieler ziehen am Ende ihre eigenen Schlüsse aus dem, was sie erlebt haben. Zur Unterstützung dieser düsteren, bittersüßen Erzählung suchte das Team nach Kontrasten. So entstanden die Charakterdesigns mit ihren Cartoon-artigen Proportionen und die melancholischen Farbpaletten, die in einem einzigartigen Zusammenspiel resultieren.
"Um den poetischen und zugänglichen Look zu erreichen, konzentrierten wir uns auf zwei wichtige Dinge: Das Shading und die Charaktere", erklärt Guarini. "Unser eigens entwickelter 'Marmalade'-Shader vermischt Formen und Farben miteinander, um einen malerischen Look zu erzeugen. Er zieht impressionistische Maler wie Monet als Inspiration heran und behält gleichzeitig seine eigene Identität."
"Die Charaktere, die in dieser Welt leben, gestalteten wir so, dass sie sich witzig und zugleich unheimlich anfühlen. Gemeinsam mit Adam Oehlers (Autor der Graphic Novel Dear Little Emmie) erschufen wir ein Erscheinungsbild, das an Charaktere aus einer vergessenen Kindersendung erinnert. Das Dorf im Spiel gestalteten wir nach europäischem Vorbild. Zugleich erinnert es an ein Dorf aus einem Märchen und greift die ländliche Architektur in Großbritannien, Belgien und Frankreich auf."
Ein Kritikpunkt am Spiel ist, dass die sich wiederholenden Sequenzen zu lange laufen. Zwar gestaltete das Team kürzere Versionen dafür, doch Guarini wünscht sich, er und sein Team hätten mehr Zeit mit der Verfeinerung dieses Systems verbracht. "Damit der Spieler diese Teile überspringt, ohne dass die emotionale Wirkung verloren geht", sagt er. "Leider war es nicht möglich, das umzusetzen, da wir uns der Gold-Master-Version näherten und das Risiko zu hoch war."
Ein paar Rätsel gibt es in Last Day of June, wenngleich sie nicht komplex ausfallen. Dahinter steckt Absicht, denn was wäre schlimmer als ein kniffliges Rätsel, das den Spieler aufhält und aus der emotionalen Geschichte herausreißt? "Wir dachten, dass es uninteressant und nutzlos wäre, den Spieler in Rätsel zu drängen, nur weil es möglich ist", erläutert er. "Wie jede andere Geschichte entfaltet auch diese ihre maximale Wirkung, wenn beim Spieler eine konstante, emotionale Spannung entsteht."
Insgesamt sei die Entwicklung des Spiels aber ohne größere Probleme verlaufen. Dabei erinnert sich Guarini an eine besondere Szene: "Es gab da einen lustigen und inspirierenden Bug, der dafür sorgte, dass Carl ohne speziellen Grund mit seinem Rollstuhl hinauf in den Himmel flog", erzählt er. "Als Designer den Bug meldeten, nahmen sie ein Video davon auf. Darin war zu sehen, wie Carl in der Dunkelheit der Nacht am Mond vorbeifliegt. Auf die gleiche Art und Weise wie Elliot mit seinem Fahrrad in dieser berüchtigten Szene von E.T."
Auf der Switch kämpft Last Day of June in einzelnen Szenen leicht mit der Framerate, ohne dabei in Spielspaß-störende Bereiche abzudriften. Für das Studio wäre es möglich gewesen, das zu beheben. Am Ende war es ihnen jedoch wichtiger, dass die künstlerische Vision erhalten bleibt. "Das Spiel entstand mit Unity 3D und brachte die Engine durch die umfangreiche Nutzung von Custom-Shadern sowie den Mix aus offenen und geschlossenen Umgebungen, die eine spezielle Beleuchtungstechnik erfordern, an ihre Grenzen", sagt Guarini. "Auf den leistungsstärkeren Konsolen ist die Bildrate stabil und wir gaben unser Bestes, um sicherzustellen, dass es auf der Switch ebenso gut läuft."
"Wir hätten diese seltenen Probleme beheben können, indem wir die Art und Weise verändern, wie Shader und die Beleuchtung arbeiten. Das hätte in weniger interessanten Grafik- und Beleuchtungseffekten resultiert. Letzten Endes entschieden wir uns dafür, der ursprünglichen künstlerischen Vision treu zu bleiben und Switch-Nutzern ein sehr gutaussehendes Spiel zu geben, das dem Vergleich mit den anderen Versionen standhält."
Die Reaktionen auf das Spiel empfand Guarini als überwältigend. Nach wie vor erhalte das Studio Nachrichten von Spielern aller Altersgruppen und jeden Geschlechts aus aller Welt, die ihnen schreiben, wie sie das Spiel erlebt haben. "Ich kann mich glücklich schätzen, all diese aufrichtigen Reaktionen zu erhalten. Sie zeigen, dass Videospiele ein ausdrucksstarkes Werkzeug sind, wann immer es um die universelle Sprache der menschlichen Emotionen geht."
Derzeit werkelt das Team an seinem nächsten Projekt. Mehr dazu verrät er zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Als Studio durchlaufe Ovosonico nun seine "nächste große Evolutionsphase". Für die Zukunft verspricht er daher Ambitioniertes. Nach Last Day of June könnt ihr auf jeden Fall gespannt darauf sein.