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Lilly Looking Through - Test

Eine extrem kurze und extrem schön gemalte Geschichte der Zeit.

Wie war das damals, als ich noch ein kleines Kind war, in einer Welt, die unendlich groß und voller unbegreiflicher Geheimnisse vor mir lag? In der alles mit allem verbunden zu sein schien und einen tieferen, verzauberten Sinn besaß? Als ich noch durch unverdrossenes Ausprobieren vorwärtskam und den Zweck der Zahnräder hinter den Kulissen erst viel später begreifen sollte? Was wäre, wenn ich mit meinem heutigen Wissen noch mal zurückgehen könnte, um die Weichen anders zu stellen? Wenn subtile Änderungen in der Vergangenheit gewaltige Auswirkungen auf die Gegenwart haben - wie spürbar ist da mein Einfluss für kommende Generationen?

Ihr stellt euch solche Fragen? Ohne irgendwelche Chemie eingeworfen zu haben? Ausgezeichnet! Dann haltet schon mal euren Geldbeutel bereit. Nach dem Durchspielen von 'Lilly Looking Through' kennt ihr zwar auch nicht die Antworten darauf, habt aber reichlich frischen Stoff zum Grübeln.

Lillys Abenteuer wird in wunderschönen Bildern erzählt, die so manchem Kinderbuch gut zu Gesicht gestanden hätten.

Ich war sehr gespannt auf das komplette Abenteuer der kleinen Zeitreisenden, nachdem ich neulich meine Vorschau geschrieben hatte. Was da dank Kickstarter beim Indie-Studio Geeta Games in Michigan entstand, schien genau das richtige Spiel für den Nachwuchs von Oldschool-Adventure-Papas und -Mamas zu sein. Lilly und ihre Welt versprühen den fantastisch-mystischen Charme eines Kinderbuchs von Michael Ende oder Animes von Hayao Miyazaki, während die Rätsel der vertrauten Myst-Schule folgen. Die Umwelt wird zum Mysterium (sic), der Zweck der Zahnräder, Hebel und Knöpfe zum Rätsel. Kein Wunder, dass Lillys Abenteuer in ähnlichen Bahnen funktioniert, wie der Klassiker, schließlich hat Designer Steve Hoogendyk an Myst 3: Exile und den Nachfolgern mitgearbeitet.

Allerdings kann ich meiner Preview leider nur wenig Neues hinzufügen, außer der Erkenntnis, dass der Titel viel zu schnell vorbei ist und auch in der Release-Fassung seine Macken hat. Zum Beispiel trüben noch immer diverse verpixelte Objekte das ansonsten so harmonische Bild.

Größtes Manko bleiben aber die geringe Spielzeit und das extrem lineare Gameplay: Bestenfalls zwei bis drei Stunden wird ein passionierter Adventurefreund versenken können, bevor er den Abspann sieht. Ärgerlich ist, dass ein Großteil der Zeit für die Animationsphasen draufgeht. Dass man diese nicht unterbrechen kann, mag zwar ästhetisch schlüssig sein, doch viele Rätsel erfordern zunächst einmal wildes Ausprobieren, gefolgt von komplizierten Klickorgien - das zieht sich.

Das zeitreisende Kind braucht zu viel Zeit

Lilly würde ich gerne auf den Arm nehmen und sagen: 'Lass mich mal. Sonst sitzen wir morgen noch da.'

So süß die kleine Heldin auch ist: Es nervt mich, gefühlt Hunderte Male denselben Schalter zu ziehen, Knopf zu drücken oder ein Rad zu drehen, wenn ich im Anschluss untätig Däumchendrehen muss, bis Lilly mit ihren Patschehändchen die ihr zugedachte Aufgabe erledigt hat und ich endlich fortfahren darf. So müssen sich junge Eltern fühlen, wenn sie auf dem Spielplatz ihrem Nachwuchs beim Backen eines Sandkuchen zugucken, der immer wieder in sich zusammenfällt. Nur bei den eigenen Kindern bringt man wohl die Geduld auf, sie einfach machen zu lassen, damit sie Eigenständigkeit lernen.

Lilly hingegen würde ich gerne auf den Arm nehmen und sagen: "Lass mich mal. Sonst sitzen wir morgen noch da." Insofern könnte man das Spiel auch großartig zur Vorbereitung werdender Mamas und Papas einsetzen. Mir persönlich wäre es freilich lieber gewesen, die Macher hätten das Gameplay ein wenig gerafft und dafür mehr Rätsel eingebaut. Die Zeitreise-Fliegerbrille, mit der Lilly sogar im Sprung nahtlos zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechseln kann, hätte so viel mehr hergegeben!

So niedlich das Kind auch ausschaut, es braucht einfach zu lange, um die ganzen Hebel und Knöpfe zu bedienen.

Darum frage ich mich, welche Zielgruppe Geeta Games im Blick hatte, als sie das Adventure entworfen haben. Kinder im Grundschulalter? Selbst wenn der Nachwuchs aus kleinen da Vincis besteht und sofort alle Apparaturen im Spiel durchschaut, ohne die eingebaute Hilfefunktion zur Markierung von Hotspots zu bemühen - das Adventure dürfte den Kids aufgrund der langatmigen Animationsphasen und Ausprobier-Passagen schnell langweilig werden. Ähnliches gilt für ältere Semester. In der Zeit, die Lilly zum Durchdeklinieren ihrer Aktionen braucht, könnte man schließlich die neuesten Entwicklungen auf seinem Smartphone verpassen. Gar nicht zeitgemäß, so was.

Und Erwachsene? Die finden das Szenario und die kleine Heldin sicher bezaubernd und lassen sich vermutlich auch nicht von Klickereien oder Wartezeiten ins Bockshorn jagen, dürften dann jedoch - wie gesagt - von der kurzen Spielzeit und den linearen Rätseln enttäuscht sein.

Wer sein Gehirn in den typisch verqueren Bahnen klassischer Adventures beanspruchen will, kommt bei Lillys Abenteuer nicht so recht auf seine Kosten - es gibt kein Zurück und kein Inventar. Auch wenn der Titel nur mit 9 Euro in der Standardversion auf Steam und 20 Dollar als Deluxeversion mit Artworks auf der offiziellen Seite oder als Box im Handel zu Buche schlägt, ist das noch immer ziemlich viel Geld für ziemlich wenig Adventure.

Wenn man den Titel aber nicht als Beschäftigungstherapie für Knobelfans begreift, sondern als ein metaphernreiches Kunstwerk, entdeckt man in Lilly Looking Through sehr viel Tiefgang. Das Spiel ist kein Roman, sondern eine wunderschöne Kurzgeschichte, über die man auch nach dem Lesen noch lange nachdenken kann. Der Plot wird nicht vorgekaut und auf dem Silbertablett serviert, die Protagonisten bleiben meist stumm, die traumartige Welt und ihre Geheimnisse muss man als gegeben hinnehmen - erklärt wird praktisch nichts. Gerade dadurch gewinnt das Spiel unheimlich an Atmosphäre. Man folgt gerne der anrührenden Geschichte um Lilly und ihren Bruder, der Schluss überrascht und lässt reichlich Interpretationsspielraum zu. Genug Material fürs nächste Philosophische Quartett inklusive. Für mich wäre das bereits die paar Euro wert. Als Dank an Geeta Games, dass ich wieder ein bisschen Kind sein durfte. Die Fragen, die ich eingangs stellte - sie stecken alle in diesem Adventure. Die Antworten müsst ihr selbst finden.

7 / 10

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Frank Erik Walter Avatar
Frank Erik Walter: Tagsüber arbeitet Frank als freier Journalist. Nachts jagt er seit 2010 flüchtige MMOs für Eurogamer.de und die MMO PRO. Skittles und Tetris sind sein Kryptonit.

Informationen zu unserer Test-Philosophie findest du unter "So testen wir".

In diesem artikel

Lilly Looking Through

PC, Mac

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