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Lost in Random - Test: Die Würfel fallen für das kreativste Spiel des Jahres

Mut zu neuen Wegen in diesem Geheimtipp für den Herbst: Das düstere Märchen Lost in Random fühlt sich erfrischend anders an.

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Das charmante Märchen hat keine Angst, anders zu sein, und schafft einen cleveren Drahtseilakt zwischen Spaß und Ernst, Action und Strategie

Das charmante Märchen Lost in Random hat keine Angst, anders zu sein und schafft einen cleveren Drahtseilakt zwischen Spaß und Ernst, Action und Strategie.

Der Herbst steht vor der Tür und weht ein Adventure auf den Markt, das für die "gruselige Jahreszeit" wie geschaffen scheint: Lost in Random. Das düstere, kleine Märchen-Adventure hätte auch einfach "Judith-Spiel" heißen können, denn die schräge Spielwelt und die neurotischen Figuren lassen das Grufti-Kind in mir vor Freude herumspringen - nicht zu fröhlich natürlich, es muss ja düster bleiben! (Martin: "Drei Schritte vor und drei zurück…")

Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an das Indie-Abenteuer von Zoink und EA Originals, das so sehr an Tim Burton, Alice im Wunderland und Co. erinnert, doch ich wurde nicht enttäuscht. Für mich war Lost in Random ein kleiner Glückswurf, der sich nach etlichen Action-Adventures endlich mal wieder angenehm anders anfühlt.

Nur der Zufall ist Fair... oder?

Das Reich von Random wird - wie zu erwarten - vom Zufall regiert. Das wäre ja einigermaßen fair, aber diesen Zufall hält eine diktatorische Königin in den Händen. Diktatur UND Zufall? Geht, denn die böse Herrscherin presst sich das Schicksal so in Form, wie sie es haben will.

So ist das Reich in 6 Gebiete geteilt und allein der dunkle Würfel der Königin entscheidet, wo man leben darf, von der Gosse in Onecroft bis hin zum Glanz von Sixtopia. Ist der Würfel gefallen, gibt es am eigenen Schicksal nichts mehr zu rütteln.

So kommt es, dass die "Einserin" Odd an ihrem 12. Geburtstag den Würfel rollt und von der Königin nach Sixtopia verschleppt wird. Ihre Schwester Even spürt schnell, dass an diesem Deal etwas nicht stimmt und macht sich auf den Weg, Odd zu retten. Dabei stößt sie per Zufall (da ist er wieder!) auf Dicey, einen lebenden Würfel, der nicht nur zu ihrem Freund, sondern auch zu ihrer mächtigsten Waffe wird: Plötzlich hat sie eine Chance in der unfairen Welt von Random und gegen das gemeine Regime der Königin.

Diese fantasievolle Story ist voll von irren Figuren, die man trotzdem lieb gewinnt, vom riesenhaften Bürgermeister bis hin zum sanften, dreiäugigen Monster und dazu gibt es schlagfertige Texten, die ihresgleichen suchen: Jeder Dialog - unter anderem von Comic-Autor Ryan North - und jeder Satz scheinen genau richtig platziert.

Vielen Straßen von Random habe ich mit einem verschmitzten Grinsen durchquert, während mir Wortspiele oder schräge Sprüche fast feuerwerkartig um die Ohren flogen - auf Englisch mit deutschen Untertiteln, wobei manche Scherze im Original natürlich besser kommen.

Die ganze Groteske kommentiert ein herrlich ironischer Erzähler, der nicht selten die vierte Wand durchbricht und den einfachsten Klick zu einer bizarren Märchenepisode machen kann - drückt euch zum Beispiel mal durch die Bildergalerie in Evens Haus und hört euch alle Storys über die bucklige Verwandtschaft an, es lohnt sich!

Dann gibt es aber auch noch düstere Geistergeschichten-Elemente wie Drogentrip-artige Albträume, die Even von ihrer Schwester erzählen oder die Begegnung mit einem uralten Wesen aus düsteren Legenden. Diesen Drahtseilakt zwischen Melancholie, Grusel und Leichtigkeit schafft das Coming-of-Age-Märchen spielend und der zieht sich durch alle Gebiete von Random.

Gosse, Kriegsgebiet oder Sündenpfuhl - was darf's sein?

Even schlägt sich nämlich auf lineare Weise Schritt für Schritt durch alle sechs Gebiete von Random. Zwar fühlen sich alle Regionen schräg und bedrohlich an, aber jede hat ihren eigenen Twist, der die Reise erfrischend kreativ macht.

Gut, das trifft nicht in allen Facetten zu: Die NPCs könnten zum Beispiel etwas abwechslungsreicher aussehen, die farbenfrohen Grundideen voller Grusel, Irrsinn und Humor machen aber jede Stadt von Random zu etwas Besonderem.

Bittere Ironie: Ausgerechnet Threedom oder auch Dreiheit wird von einem sinnlosen Krieg geplagt

Immer wieder denkt man fälschlich: "Das Gebiet war gerade cool, das wird mein Liebstes!" Und dann kommt die nächste Siedlung mit irrwitzigen Ideen und verrückten Storys um die Ecke geschlichen wie der Schattenmann persönlich und man merkt: zu früh geurteilt!

Während Twotown herrliche Verrücktheit mit Psycho-Grusel-Touch versprüht, ist das Kriegsgebiet Threedom mit den krachenden Schützengräben beinahe eine Art traurige Realsatire - der Wahnsinn des echten Lebens quasi. Wenn man dann denkt, man habe alles gesehen, geht es in Fourberg plötzlich in eine sündige Kasino-Meile, dann in die Stadt der Kartenmacher und zuletzt ins Reich der Königin selbst.

All das gibt es mit schön schräger Vertonung und dem herrlich exzentrischen Soundtrack des Stanley-Parabel-Komponisten Blake Robinson und der spielbare Tim-Burton-Film ist komplett!

Der Sieg ist nur einen Würfelwurf entfernt!

Gut, Lost in Random hat also viel Atmosphäre und geniale Texte, tappt aber zum Glück nicht in die Falle, ein schickes Story-Spiel ohne nennenswertes Gameplay zu sein. Vielmehr passt das Spielprinzip ideal zu Handlung: Sinnvoll genug, um es zu durchschauen, aber auch "random" genug, um sich in Evens irre Welt einzufügen.

Neben der bösen Königin steht Even auch ihre Handlangerin Nanny Fortuna im Weg... was für ein Charakterdesign!

Passend zur Brettspielwelt könnt ihr nämlich in der Schlacht euren Würfel Dicey rollen und dadurch die Zeit kurz einfrieren. Aus Action wird Taktik, denn jetzt kommen auch Spielkarten hinzu, mit denen ihr bestimmte Effekte erzeugen könnt. Standardmäßig kann sich die Even nämlich nur mit einer Steinschleuder verteidigen, die Karten geben ihr aber immer mehr mächtige Waffen, Bomben, Heiltränke und Co. an die Hand.

Würfelaugen und Karten sorgen dann für den nötigen Zufallsmoment, den eine Welt Namens Random braucht und auch wenn es kompliziert klingt, geht dieses System recht schnell in Fleisch und Blut über. Etwas mehr schräge Karteneffekte hätten gerade am Anfang vielleicht nicht geschadet, aber die Halb-Echtzeit-Schlachten machen richtig Spaß und man versucht jede Runde noch besser mit den Karten zu meistern.

Außerdem gibt es auch noch zahlreiche Brettspiel-Arenen und Bosskämpfe für besondere Begegnungen: Da gelten ganz eigene Spielregeln und können euch selbst im normalen Modus teils angenehm fordern. Es gibt aber auch noch einen schweren Modus für richtige Herausforderungen oder einen leichten für Story-Fans. Letztere können sich übrigens auch noch zahlreiche Märchenseiten reinziehen, die in der Welt verstreut und im Erzählonkel-Stil stimmungsvoll vertont sind.

Ja, die wilde Mischung aus Zufall, Action und Taktik hätte man auch an die Wand fahren können... tut Lost in Random aber nicht. Hier zahlt sich der Mut zum Neuen aus und sticht mal wieder angenehm aus dem Einheitsbrei vieler Action-Adventures heraus.

Etwas zu "random" ist vielleicht nur die leicht hakelige Steuerung von Even, die am PC etwas Geduld erfordert: Warum gibt es in so vielen Spielen eigentlich Kämpfe mit wenig eleganter Maussteuerung? Ich empfehle hier ein Gamepad, das macht das Brettspielabenteuer viel angenehmer!

Lost in Random Fazit - originelle Ideen und geistreicher Witz gehen Hand in Hand

Für mich ist Lost in Random mit der irren Spielwelt, der Musik und den "halloweenigen" Gefühl tatsächlich eine glatte sechs auf dem Würfel, aber ein paar kleine Patches würden dem Adventure trotzdem nicht schaden. Gerade die Steuerung fühlt sich manchmal an, als würde Even einen vollen Einkaufswagen lenken. Etwas mehr Abwechslung in den Karten-Effekten oder sogar ein paar Minigames hätte in den ersten Kapiteln vielleicht auch nicht geschadet.

Das braucht das Märchenabenteuer aber nicht, um unterhaltsam zu sein. Trotz der kleinen Makel ist Evens Reise nämlich der perfekte, düstere kleine Zaubertrank gegen den Gameplay-Einheitsbrei zahlreicher Action-Adventures und man will allen, die mal wieder Lust auf richtig Geistreicheres und Witziges haben, nur zurufen: Trink mich!

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