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Lost Sphear - Test

Auf dem Weg, aber noch nicht unter den Besten (der 90er).

Ein dynamisches Kampfsystem und eine schöne Geschichte kämpfen gegen Textboxen, Zeitschinderei und verloren wirkende Sub-Spielsysteme.

Tokyo RPG Factory möchte so sehr das Square der Mittneunziger sein, dass es fast schmerzt. Aber ist das wirklich sinnvoll? Zumindest in der letzten Konsequenz? Ein Beispiel dafür in ihrem neuen Spiel, Lost Sphear, ist die Textpräsentation. Während der Rest der Grafik eher an ein höher aufgelöstes Spiel der ersten oder zweiten PlayStation erinnert, stammen die Textboxen klar erkennbar aus der SNES-Zeit. Jede enthält nur wenige Worte und die gerne mal ausufernden Dialoge, die ohnehin schon oft genug eher vorhersehbar sind und bis in die Plattitüden-Untiefen reichen, ziehen sich hin wie ein Spaziergang durch knietiefen Treibsand. Man kommt schon weiter, aber es daueeeert...

Falls ihr dachtet, dass I am Setsuna perfekt gewesen wäre, wenn es nur ein Inn gegeben hätte: Jetzt hat jede Stadt eins!

Damals war klar, warum nur zehn Worte gleichzeitig dargestellt wurden. In einer 240p-Auflösung war es nötig für die Lesbarkeit. Heute nicht und bei aller Retro-Hingabe, die Lost Sphear keineswegs erfolglos feiern möchte, wäre dies ein Kompromiss, den man ganz, ganz dringend hätte eingehen müssen. Vor allem, wenn die Grundprämisse zwar spannend genug, aber in der Ausgestaltung nur bedingt tauglich für 20 oder mehr Stunden ist. Die Welt verschwindet nach und nach als weißer Nebel, was mehr als nur ein wenig an Michael Endes Klassiker erinnert, zumal ein Kind mit Erinnerungen diese Welt zurückbringen und stellenweise auch formen kann. Dieses Kind ist hier eher ein schwertschwingender Ende-Teen, Anfang-Twen, mit wechselnder Begleitung, der durch viele Städte, Dörfer und Dungeons muss, bevor die Welt wieder ist, wie sie sein sollte. Dieser Teil der Geschichte ist durchaus stark, vor allem, weil ihr die Erinnerungen erst "sammeln" müsst, die wichtigen in Gesprächen, die teilweise nicht einmal schlecht geschrieben sind. Es ist nur nervig, sie Halbsatz für Halbsatz weiterdrücken zu müssen.

Vieles andere ist nur marginal spannend und kann nicht verheimlichen, dass es existiert, um das Spiel über die Zehn-Stunden-Marke zu strecken, bei der es vielleicht hätte bleiben sollen. Das gilt vor allem für viel Backtracking durch bekannte und oft nur Minuten zuvor besuchte Bereiche, Gegner-Recycling und gerade zum Ende hin langweilige Zwangs-Fetch-Quests. Eine wirklich starke Geschichte weiß auch, was gutes Timing ist und wann dagegen verstoßen werden darf. Lost Sphear folgt entweder in dem Punkt auch den 16-Bit-Tagen, die genau das erst in ihrer Zeit zu lernen begannen, oder man weiß es heute noch nicht besser. Bug oder Feature, schwer zu sagen. Zumindest sind die Charaktere durchweg liebenswert, wenn auch deutlich auf der Klischee-Seite der Zeichnung. Aber das gehört hier dazu und sorgt dafür, dass das angestrebte 16-/32-Bit-Feeling durchaus pointiert sitzt.

Ihr schaltet neue Bereiche mit 'generischen' Erinnerungen frei, indem ihr diese Türme öffnet. Hier sucht ihr euch verschiedene Boosts und Modifikatoren aus, die nur einen Nachteil haben - wenn ihr diese ändern wollt, müsst ihr über die halbe Welt rennen, um den richtigen Turm zu finden.

Das wichtigste Element neben der Geschichte ist natürlich der Kampf. Nach dem etwas sehr schlichten Active-Time-Kämpfen des Vorgängers I am Setsuna kommt nun etwas Grandia in den Mix, indem ihr zwar nach wie vor auf den Balken warten müsst, der sich bis zur Aktionsauswahl füllt, dann aber die Figur für die Aktion selbst positionieren dürft. Das hat eine Menge Auswirkungen auf die Taktik, denn in Grüppchen stehende Charaktere sind anfällig für Flächeneffekte. Je nach Attacke könnt ihr selbst einen günstigen Winkel suchen, um möglichst viele Feinde zu erwischen. Wenn ihr ein Monster näher an ein anderes mit einem starken Schlag heranprügelt, hat der Magier danach bessere Chancen, beide mitzunehmen. Dazu kommen viele Buffs und Debuffs verschiedener Elemente, es ist nicht übertrieben tiefgründig, aber schon mal die dringend benötigte Komplexitätserweiterung, um die Monotonie des Vorgängers zumindest etwas aufzubrechen. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass sich jedes der Altvorderensysteme etwas geschliffener anfühlte - spielt zum Beispiel eine Runde Grandia 2 auf dem PC, wenn ihr das austesten möchtet - und vor allem charakterstärker. Tokyo RPG Factory hat noch nicht seinen eigenen Touch gefunden, der das Kampfsystem zu mehr werden lässt als einer solide gelungenen Hommage an ein lose definiertes "Damals".

Fernkämpfer sind fast genauso stark wie Nahkämpfer, haben aber mit solchen Reichweiten einen viele Vorteile. Jeder Feind in dieser Linie wird getroffen werden, selbst starke AoE-Schläge kommen kaum in die Nähe dessen

Auch die nach einem Viertel des Weges in das Spiel kommenden "Mech"-Verwandlungen helfen nur bedingt. Diese haben eine doppelte Funktion. Auf der Karte - auf der übrigens nie gekämpft wird, es gibt keine Zufallskämpfe - und in Dungeons öffnen sie manchmal Wege. Im Kampf habt ihr für eine begrenzte und taktisch natürlich am besten sinnvoll einzusetzende Zeit einen dicken Bonus, der vor allem bei manchen Bossen Pflicht ist, wenn ihr nicht alle Heiltränke in Rekordzeit verfüttern möchtet. An der Dynamik oder Funktionsweise der Kämpfe ändert sich nichts. Trotzdem, so funktional und taktisch nicht ganz so belanglos die Kämpfe sind, selbst die härteren Bosse werden euch spätestens im zweiten Anlauf, wenn ihr ihre Spezialangriffe kennt, nie ins Schwitzen bringen, da die Lösungsmöglichkeiten im Rahmen des begrenzten Systems zu offensichtlich sind. Trotzdem, in kurzen Schüben für ein oder zwei Stunden war es ein System, das mich gut unterhielt. Nur nichts, was sich für einen langen Abend mit Herausforderungen frisch hält.

Was zwischen den Kämpfen und der Story passiert, ist ein wildes Best-of von Features aus vielen verschiedenen J-RPG-Ecken. Nur schien man sich eher bedient zu haben, weil man es irgendwo sah und mochte und nicht, weil es das eigene Spiel groß weiterbringen würde. Nehmt das Kochen und Crafting. Leckere Snacks aus den diesmal prominent vorhandenen Inns - ja, man hörte auf die Kritik aus I am Setsuna - geben euch Status-Boosts, aber neben ein paar generischen Dingen müsst ihr für die besten Sachen Glück haben oder wie sinnlos herumwandern, um die passenden Zutaten zu finden. Nur um dann so kurze wie eigentlich unnötige Schübe zu bekommen. Unnötig, weil ich nach ein paar Versuchen das System links liegen ließ und danach nie den Verdacht hatte, viel zu verpassen. Eure Waffen könnt ihr mit bestimmten Items deutlich verbessern, aber warum diese Variante zusätzlich zum Verkauf einfach weiterer Waffen existiert, ist nicht ganz klar. Man macht es halt, weil es nötig ist, aber Gedanken lohnt es kaum daran zu verschwenden, denn mit dem nächsten Set hat sich die aktuelle Konfiguration eh erledigt.

Das Magie- und Spezialangriff-System ist umfangreich und sogar relativ komplex, setzt aber eine Menge Grind voraus, um es wirklich nutzen zu können.

Das Magiesystem ist noch am pflegeleichtesten, da ihr die meisten Ressourcen in den Kämpfen ohnehin sammelt - es setzt halt nur ordentliches Grinding voraus, wenn ihr alle Möglichkeiten ausnutzen möchtet. Vor allem bleiben die Zauber nützlich, die Mühe lohnt sich also deutlich mehr als die später im Verlauf sehr teuren Waffenupgrades. Es ist auch ein sehr umfangreiches System, in dem ihr jeden Zauber - oder eher Spezialangriff in vielen Fällen - noch mal weiter modifizieren könnt. Das macht den Kampf zwar nicht weiter zu einem Komplexitätswunder, aber mit der Bewegung hilft deutlich mehr, als alles andere den Kampf lang genug frisch genug zu halten.

Grafisch darf man natürlich keine Wunder erwarten, das wäre auch am Ziel des Spiels vorbeiprogrammiert. Der Look der 32-Bit-Zeit wurde gut eingefangen, die Farben sind kräftig, es ist nur schade, dass viele der Örtlichkeiten, vor allem die Dungeons, oft genug schlicht grau- und braun-generisch daherkommen. Aber auch das gehört irgendwie zu dieser Art Hommage, durch wie viele öde Dungeons man damals gestolpert ist, lässt sich kaum zählen. Die Musik bietet nach dem sehr schönen, auf Dauer aber einseitigen I am Setsuna die ganze Palette an J-RPG-Glorie. Von ruhigen, nachdenklichen Melodien bis zu großer Pathos-Dramatik ist alles dabei, aber leider, muss ich sagen, ist das der Teil, an dem Lost Sphear endgültig hinter den von ihm so verehrten Altvorderen zurückstehen muss: Sie haben oft zeitlose Klassiker von einigen der einflussreichsten Komponisten des Genres hervorgebracht. Diese hatten auch den Vorteil, dass es noch nicht so viele Smashhits gab und eine einfach Melodie sich oft tief in das kollektive Unterbewusstsein einer Generation eingrub, um dort zur Legende überhöht zu werden. Der noch junge Tomoki Miyoshi dürfte auf dem Weg dahin sein, hat unglaublich viel Talent und wir werden noch viel von ihm hören. Aber ich bezweifle, dass Lost Sphear in zehn Jahren zu den großen Werken gehört, die seine Vita anführen.

An Bosskämpfen gibt es natürlich keinen Mangel. Bei dem einen oder anderen musste ich dann sogar die guten Heiltränke auspacken.

In vielen Punkten schafft Lost Sphear genau, was es möchte, nämlich auf gute Art die Nostalgie für diese alten J-RPGs mit einem neuen Spiel zu bedienen. Daran gibt es nicht viel auszusetzen. Gleichzeitig sollte Tokyo RPG Factory versuchen, die Nostalgie auch zu überwinden. Diese Spiele damals haben sich immer weiterentwickelt, es brauchte eine Menge Iterationen, bis aus Dragon Quest ein Chrono Trigger wurde. Der Versuch ist klar da, es stecken viele für sich gar nicht schlechte Systeme und Mechaniken in Lost Sphear, die zu einem nicht geringen Teil in einem Spiel festhängen, das nicht so viel mit ihnen anzufangen weiß. Jedes davon wäre früher ein eigenes Spiel gewesen. Ein weiterer Ansatz zur Verfeinerung einer Formel, die für ein Weilchen einen Teil der Welt beherrschte. Vor allem sollte sich das nächste Spiel dieser nach wie vor extrem vielversprechenden Truppe um ein paar zu heftige Anflüge von Nostalgie kümmern, die das Spiel zurückhalten: die zu kurzen und zu vielen Textboxen, das Hin- und Herwandern durch bereits besuchte Räume, das Strecken eines Spiels, das davon nicht profitiert. Wenn ihnen das gelingt und sie alle Ideen sinnvoller unterbringen, kann schon das dritte Spiel sein, was Lost Sphear sein sollte: die ideale Erinnerung an eine schöne Zeit damals, eine Mischung aus den Lektionen der Gegenwart und dem Guten, was die Nostalgie erst bedingt. Das wird ein besseres Spiel als seine Vorbilder und kann ihnen dennoch angemessen huldigen. Lost Sphear ist so nah dran und doch noch so weit weg. Aber hey, ein ganz nettes Spiel bleibt es auch so noch.

Entwickler/Publisher: Tokyo RPG Factory/Square Enix - Erscheint für: PC, PS4, Switch - Preis: ca. 50 Euro - Erscheint am: erhältlich - Getestete Version: PS4 - Sprache: Deutsch, Englisch (Text), japanische Kampfansagen optional - Mikrotransaktionen: Nein

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Martin Woger Avatar
Martin Woger: Chefredakteur seit 2011, Gamer seit 1984, Mensch seit 1975, mag PC-Engines und alles sonst, was nicht FIFA oder RTS heißt.

Informationen zu unserer Test-Philosophie findest du unter "So testen wir".

In diesem artikel

Lost Sphear

PS4, PC, Nintendo Switch

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