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Martha Is Dead - Test: Als wäre der Zweite Weltkrieg nicht schrecklich genug

Das italienische Studio LKA inszeniert ein komplexes Psychodrama über menschliche Abgründe und den Schrecken des Krieges.

Auf dem Papier ist die Geschichte um Marthas Tod ein starker Thriller, doch das verliert sich in einer Vielzahl zusammenhangsloser Motive.

Martha ist tot - aber warum eigentlich? Darum geht es im zweiten Spiel des Studios, das schon mit The Town of Light die Psyche einer Protagonistin beleuchtet hat und das auch diesmal tut. Denn in der Rolle von Marthas Zwillingsschwester Giulia sucht man nicht nur einen Weg, ihren schweren Verlust zu verarbeiten. Es geht auch darum, wie die junge Frau den Zweiten Weltkriegs erlebt, der anno '44 in ihrem Land tobte.

Giulia wohnt mit ihren Eltern auf einem ländlichen Anwesen in der Nähe von Florenz. Idyllische Hügel umgeben das Haus, ein Wald schließt daran an und zwitschernde Vögel durchbrechen die sommerliche Ruhe. Nur hin und wieder brummen einzelne Kampfflugzeuge in niedriger Höhe vorbei, während das Radio vom Vorrücken der Alliierten berichtet. Die stimmungsvolle Kulisse ist ein gelungener Schauplatz, wobei man sich weitgehend frei im Haus sowie auf anliegenden Pfaden bewegen kann.

Und einer davon führt durch den Wald zu jenem See, an dem Giulia gleich zu Beginn ihre tote Schwester findet. Was daraufhin passiert, werde ich an dieser Stelle nicht verraten. Lasst euch aber gesagt sein, dass die Entwickler völlig zurecht auf Szenen hinweisen, deren Darstellung von Verwundungen es in sich haben. Ich kann jedenfalls nachvollziehen, warum Sony diese in den PlayStation-Versionen glatt entfernen ließ. Nicht, dass sie damit richtig gehandelt hätten - das komplette Gegenteil ist der Fall! Dass Sony seine erwachsenen Kunden auf diese Art bevormundet, ist ein sehr enttäuschender Fall unsinniger Zensur. Zumal die entsprechenden Bilder in keiner Form zum Selbstzweck verwendet werden, sondern für die Geschichte wichtig sind. Losgelöst davon will ich aber anmerken, dass ich diese Momente in der ungeschnittenen PC- bzw. Xbox-Fassung als durchaus anspruchsvoll für den Magen empfand.

Vor allem eins machen die Entwickler damit klar: Martha Is Dead ist eine sehr düstere Erzählung. Denn während man mehr und mehr über die vergangenen Geschehnisse erfährt, wird der nahe Krieg immer greifbarer und wird natürlich auch Giulia selbst Teil der Geschehnisse, die man aufzuklären versucht. Denkt nur nicht, Martha Is Dead sei ein Adventure, in dem man zahlreiche Rätsel löst oder gar Spuren aktiv verfolgt! Es handelt sich vielmehr um ein atmosphärisch starkes Erzählspiel in der Tradition von Dear Esther oder What Remains of Edith Finch.

Teilhaben statt zuschauen

Man genießt allerdings eine gewisse Freiheit und kann zum Beispiel die Aufgaben einer kleinen Missionsliste in beliebiger Reihenfolge erledigen. Und was mir besonders gut gefällt: Man führt einige wiederkehrende Aktionen nicht über einen einzelnen Knopfdruck aus, sondern bedient mit mehreren Handgriffen etwa eine zeitgemäße Kamera. Die Fotos entwickelt man später auf ähnliche Art. Immerhin kann Giulia fast jederzeit ein Bild aufnehmen, was an manchen Stellen notwendig, an anderen rein optional, ist. Dabei sieht man überall dort angenehm unscheinbare Markierungen, wo ein Bild in irgendeiner Form erzählerisch relevant ist, sodass man nie gezwungen ist, ziellos draufloszuknipsen.

An entsprechenden Stellen holt man also die Kamera hervor, kann dann verschiedene Linsen oder Farbfilter verwenden sowie die Kamera auf einen Tripod stellen. Außerdem müssen Brennweite und Belichtungszeit stimmen. In der Dunkelkammer belichtet man anschließend das Negativ, wofür man bei Bedarf den zu vergrößernden Ausschnitt wählt und das fertige Foto rechtzeitig aus der Entwicklerflüssigkeit zieht. Wie gesagt: Insgesamt wird man recht geradlinig geleitet. Dass viele Aktionen so greifbar sind, verleiht dem eigenen Tun aber ein spürbares Gewicht. Man ist eher Teil des Geschehens als beim reinen Durchlaufen und Anklicken.

Die entscheidende Frage ist aber selbstverständlich, wie gut die Geschichte funktioniert, da sie doch klar im Mittelpunkt steht. Und darauf gibt es zwei sehr unterschiedliche Antworten. Wobei ich in den folgenden Zeilen zumindest den thematischen Rahmen abstecken und damit einige Inhalte anreißen muss. Wer davon nichts wissen will, kann die folgenden zwei Absätze überspringen und ab "Stichpunkte vorlesen statt selbst erleben" sorgenfrei weiterlesen.

Auf jeden Fall stecken in Martha Is Dead zahlreiche Motive, die für sich genommen eine sehr dichte Charakterzeichnung ausmachen. Drei Aspekte spielen dabei wichtige Rollen, von denen das Schreckgespenst des Krieges nicht nur als thematischer Hintergrund dient, da sich manche daran verknüpfte Ereignisse auch auf Giulias Anwesen abspielen. Ein zweiter Aspekt ist logischerweise der Tod Marthas, dessen Aufklärung als roter Faden dient und der sich als drittes auch auf Giulias Gedankenwelt auswirkt. Was der Tod ihrer Zwillingsschwester mit ihr macht, ist nämlich der emotionale Kern - das und die Frage, wodurch die Beziehung zu ihrer Familie in der Vergangenheit geprägt war.

Da gibt es immerhin Lücken in ihrer Erinnerung, die man zu schließen versucht. Man erlebt Albträume, in denen Giulia durch einen Wald rennt, lauscht den Erinnerungen an ihr Kindermädchen und deren Geschichte von einem Geist, den Giulia bald selbst zu sehen glaubt. Was real ist oder sich nur in ihrem Kopf abspielt, gehört schon bald zu den wichtigsten Fragen. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist ohnehin problematisch, während ihr Vater als deutscher Offizier nicht gerade für Stabilität in dieser Zeit sorgt. In Verbindung mit einigen der zuvor erwähnten und auf PlayStation leider entfernten Szenen, zeichnet LKA eine eindringliche Charakterstudie, die mich auch nach dem Abspann noch beschäftigt.

Stichpunkte lesen statt selbst erleben

Und so ist Martha Is Dead nicht nur Krimi, sondern hin und wieder auch angenehm gruselig, was es zu einem sehr stimmungsvollen Erlebnis macht - anfangs jedenfalls. Denn irgendwann bemerkt man, dass viele dieser Motive zwar ausführlich genug angesprochen werden, als Teile des interaktiven Erlebens aber untergehen. Macht man auf einem Foto etwa eine wichtige Erkenntnis, leitet weder die für sich genommen sehr gute Musik darauf hin, noch sieht man, wie Giulia das Foto vielleicht extra in die Hand nimmt, während ihr langsam dämmert, was sie da sieht. Stattdessen zählt sie den Fakt kurz auf und weiter geht's.

Nun erzählt sie ihre Geschichte ohnehin von einem Punkt in der Zukunft aus, was die Nüchternheit plausibel macht. Aus dramaturgischer Sicht müsste aber mehr passieren. Es wirkt, als fehlten den Entwicklern die handwerklichen Mittel, um ihre ambitionierte Erzählung technisch so zu umzusetzen, damit sie auch ihre volle Wirkung entfalten kann. In vielen entscheidenden Momenten wird man als Spieler nicht weit genug hineingezogen, weshalb ich mich selbst nach dem bewegenden Abschluss wie ein ferner Beobachter gefühlt habe.

Zu allem Überfluss hat LKA außerdem zu viel hineingesteckt, was zusätzlich dazu beiträgt, dass viele der interessanten Motive nicht ausführlich genug in der Erzählung verankert sind. Sie wirken wie eigenständige Fremdkörper, anstatt die zentralen Aspekte zu ergänzen. Den Zweiten Weltkrieg hätte es zum Beispiel gar nicht gebraucht - zumindest nicht in Form von gleich zwei mehr oder weniger großen Nebenplots, die der eigentlichen Handlung Platz rauben, ohne sie zu sinnvoll zu stützen.

Martha Is Dead - Test-Fazit

Unterm Strich ist es aber spannend Giulia und ihre Geschichte kennenzulernen, wobei sich neben idyllischen Momenten und grusligem Schauer vor allem zwei, drei krasse Szenen ins Gedächtnis einbrennen - jedenfalls dann, wenn ihr auf PC oder Xbox und nicht der geschnittenen PlayStation-Fassung unterwegs seid. Weil man einige Aktionen sehr wirklichkeitstreu nachahmt, ist man dabei dichter am Geschehen als in vergleichbaren Erlebnissen. Und wenn man am Ende noch einmal in Giulias Augen blickt, erkennt man eine Person, die man nicht mit drei einfachen Worten umreißen kann - das ist aus meiner Sicht der größte Verdienst des Spiels. Gleichzeitig wird ihre Geschichte aber auch verwässert, denn in der Mischung aus Zweitem Weltkrieg, Charakterstudie und Mordfall ist mindestens ein Element zu viel. Dadurch wird manches nur stichpunktartig angerissen und lenkt sogar vom roten Faden ab, anstatt ihn zu verstärken. Das Charakterportrait im Kern ist also klasse. Ein Beschränken aufs Wesentliche hätte ihm allerdings sehr gutgetan.

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