Marvel‘s Midnight Suns könnte für den Card-Battler werden, was Returnal für das Roguelike ist
Und keine Sorge: Man wird keine Karten kaufen können
Ich zähle nicht zu den größten Fans von Disneys (oder irgendeines anderen) Superhelden-Imperium, aber eins muss ich Marvel lassen: Mit Videospielen kennt man sich dort offenbar aus. Immerhin war es weder Firaxis noch Mutterfirma Take-Two, von denen die Order kam: „Macht mal ein Spiel mit Superhelden! Die sind gerade in.“ Vielmehr waren es Vertreter von Marvel selbst, die bei den Entwicklern anklopften und fragten, ob man sich dort ein entsprechendes Projekt vorstellen könne. Das konnte man und so haben die XCOM-Macher in den vergangenen vier Jahren nicht am Ausbau ihrer Alien-Invasion gearbeitet, sondern Iron Man & Co. Ihr ureigenes Taktik-Abenteuer auf den Leib geschneidert.
So erzählen es jedenfalls Creative Director Jake Solomon und Executive Producer Garth DeAngelis, die das Spiel direkt bei Firaxis ausführlich vorstellen. Anschließend habe ich genau wie eine ganze Reihe an Kollegen mehr als vier Stunden lang die Kampagne von Marvel’s Midnight Suns gespielt, unterbrochen nur von einem ausführlichen Interview mit DeAngelis. Das sind die Informationen und Erfahrungen, auf denen diese Vorschau basiert.
Spätestens mit vor allem Solomon am Ruder wird dabei schnell klar, dass Midnight Suns alles andere als ein lukrativer Lizenzschnellschuss sein soll. Der Kopf hinter dem modernen XCOM hat sicherlich Besseres zu tun als dem bewährten Konzept lediglich einen neuen Anstrich sowie ein paar bekannte Gesichter zu verpassen. Tatsächlich hatte man die Idee einer XCOM-ähnlichen Rundentaktik zwar diskutiert, aber schnell wieder verworfen. Denn dass Superhelden ganz behutsam von einer Deckung zur nächsten ziehen, ergibt wenig Sinn. Mächtige Krieger wie sie stehen vielmehr mitten im Gefecht und teilen mit ihren charakteristischen Fähigkeiten aus – das ist die Idee, um die Solomon und sein Team laut DeAngelis „viele, viele Monate“ lang ein Spielkonzept entwickelt haben, das gleichzeitig zugänglicher und beim reinen Zuschauen schon unterhaltsamer sein soll als XCOM.
Außerdem brauchen solche Krieger selbstverständlich einen Grund in den Kampf zu ziehen und den fanden die Entwickler in einer Reihe von Ereignissen, die Marvel vor einigen Jahrzehnten unter dem Namen Midnight Sons veröffentlichte. Die so betitelte Heldentruppe bestand aus Charakteren, die in verschiedenster Form mit dem Mystischen zu tun haben. Kein Wunder; musste sie doch einer Dämonin namens Lilith das Handwerk legen.
Und ja: Damals waren es die „Sons“, während es heute die „Suns“ sind, um Heldinnen gleichwertig einzubeziehen. Das ist schon deshalb von Belang, weil man in Midnight Suns zum ersten Mal eine Superheldin oder einen Superhelden aus dem Hause Marvel angefangen beim Geschlecht selbst erstellt. Nur die Rolle dieser Figur ist natürlich vorgegeben. Immerhin handelt es sich um das Kind von Lilith, die aus ihrer einstigen Verbannung zurückgeholt wurde und ein noch größeres Übel beschwören will. Das ist der Grund, aus dem die Midnight Suns wieder zusammenkommen.
Genauer gesagt sind es Captain Marvel, Iron Man, Wolverine, Blade, Doctor Strange, Ghost Rider, Spider-Man, Magik, Nico Minoru und andere sowie eben Hunter, die Lilith und ihren Schergen das Handwerk legen sollen und dafür in der Abbey Quartier beziehen: einer ehemaligen Festung nahe Massachusetts. Von dort aus startet man Haupt- sowie zahlreiche Nebenmissionen in New York, dem Südwesten Amerikas und auch in fremden Dimensionen, auf die Firaxis noch nicht näher einging. Innerhalb aller Schauplätze soll es dabei eine Vielzahl sehr verschiedener Levels geben, wobei die Nebenmissionen in Sachen Ort, Tageszeit und Wetterverhältnisse bei jedem Neustart einer Kampagne frisch zusammengewürfelt werden.
Dieser Überbau erinnert an XCOM, zumal man auch hier wählt, ob man mit den einführenden Missionen ein Tutorial spielt oder ohne Händchenhalten in die Kampagne startet. Beim ersten Mal sollten allerdings auch Veteranen die Erklärungen aktivieren, denn Midnight Suns teilt sich laut Solomon keine Spielmechanik mit seinen vorherigen Spielen. Außerdem gibt es diesmal keinen Ironman-Modus (mal ganz davon abgesehen, dass man den ohnehin hätte umbenennen müssen), weil Superhelden nicht sterben können. Werden sie KO geschlagen, gehen sie lediglich bis zum Ende eines Gefechts zu Boden, können aber je nach Schwierigkeitsgrad unterschiedlich oft wiederbelebt werden. Wiederholen müsste man den Kampf erst, wenn alle Charaktere bewusstlos geschlagen sind.
Keine Sorge, ihr Hardcore-Experten: Es gibt neben dem normalen zwar einen niedrigeren, aber auch ganze sechs (!) höhere Schwierigkeitsgrade, zwischen denen man während der Kampagne wechseln darf. An einer Herausforderung dürfte es nicht mangeln.
Karten statt Kästchen
Nur worin besteht die eigentlich? Wenn man nicht über Kästchenfelder von Deckung zu Deckung zieht, was ist dann das Prinzip? Ganz einfach: Man bekommt in jeder Runde eine zufällige Auswahl der Fähigkeiten aller am Kampf teilnehmenden Helden zugeteilt, von denen man maximal drei benutzen kann. Ganz recht, das ist das Schema bekannter Card-Battler wie Slay the Spire oder Fights in Tight Spaces und tatsächlich macht DeAngelis keinen Hehl daraus, dass man sich von denen hat inspirieren lassen. Er könnte es auch schlecht verneinen, da die Fähigkeiten auch hier als Karten dargestellt werden.
Die Kunst liegt also nicht im klassischen Stellungsspiel, sondern darin, mit den ausgelosten Aktionen möglichst großen Schaden anzurichten – wobei sich bestimmte Fähigkeiten hervorragend ergänzen oder gegenseitig verstärken und man nicht nur die aktuelle Runde, sondern auch den weiteren Verlauf des Gefechts im Auge behalten sollte. Und das hat bei dem kurzen Anspielen (mehr sind vier Stunden bei einem großen Taktikspiel ja nicht) schon richtig Spaß gemacht!
Zum einen gefällt mir das Prinzip für sich genommen schon, da man durch die immer anders verteilten Handlungsmöglichkeiten stets ein neues „Combat Puzzle“ lösen muss, wie Solomon es nennt. Zum anderen, und das könnte aus meiner Sicht der eigentliche Clou sein, erweitert Firaxis den gewöhnlichen Card-Battler um Elemente traditioneller Rundentaktik, die dem reinen Kartenziehen eine neue Dimension hinzufügen.
So muss man sich zwar nicht mit dem herkömmlichen Positionsverschieben befassen, trotzdem spielt die Stellung der Helden aber eine Rolle, wenn man Gegner etwa von einem Hausdach schubsen will. Das geht schließlich nur, wenn der mit dieser Fähigkeit versehene Charakter im richtigen Winkel vor dem gewünschten Bösewicht steht. Man kann die Fieslinge zudem in Wände, Hubschrauber und ihre eigenen Kumpels drücken, was zusätzlichen Schaden anrichtet.
Ausgesprochen spaßig fand ich auch Magiks magische Portale, deren Ausrichtung man beim Aktivieren eigenhändig justiert. Feinde, die man noch im selben oder einem der späteren Züge durch ein solches Portal boxt, fliegen in die zuvor gewählte Richtung, was sich unverschämt gut anfühlt! Stark ist auch Captain Marvels Photonenstrahl, der sämtliche Gegner in seiner „Flugbahn“ versengt. Die Helden greifen und werfen außerdem explosive Fässer, nutzen niedrige Objekte als Sprungbretter für akrobatische Angriffe und vieles mehr.
Solomon stachelte sein Team offenbar unablässig mit der Parole an: „Das Schlachtfeld ist ein Spielplatz“. Und das Ergebnis ist ein Kampfsystem, welches die zweidimensionale Ebene des Kartenziehens um ein zwar vereinfachtes, aber ebenso wertvolles Stellungsspiel ergänzt.
Es kommt ja noch hinzu, dass man einmal pro Runde einen beliebigen Helden an einen frei wählbaren Fleck des Levels ziehen darf. Ihr seht zum Beispiel, wie Captain Marvel vielleicht drei Feinde gleichzeitig mit ihrem Energiestrahl treffen könnte, wenn sie nur etwas weiter nördlich stehen würde? Dann stellt sie einfach dorthin und [BÄMM]!
Einige Fähigkeiten muss man dabei zunächst aufladen, indem man mehrere Aktionen ausführt – was wiederum dadurch erleichtert wird, dass man nach dem Aktivieren bestimmter Karten einen der drei Aktionspunkte zurückerhält, falls man damit einen Bösewicht erledigt. Man könnte daher die eigentlich letzte Aktion womöglich so nutzen, dass Blade einen KO-Schlag ausführt, für den er sich direkt vor sein Ziel bewegt. Weil er nach dem Angriff dort stehenbleibt, hat man nun vielleicht die Chance, einen weiteren Feind so in einen Gegner zu schieben, dass beide noch im selben Zug zu Boden gehen. Dieses Ausnutzen der passiven Bewegung wertet die Combat Puzzles zusätzlich auf.
Wer mit wem?
Nun ist nicht alles davon brandneu. In Midnight Suns kommen Inspiriertes und Einfallsreiches aber so zusammen, dass es dem vertrauten Card-Batteln den Anstrich großer Rundentaktik verleiht – was auch für ein weiteres Element gelten könnte, das ich noch gar nicht erwähnt hatte. DeAngelis erwähnt nämlich, dass Firaxis nicht nur von anderen Taktiksystemen inspiriert wurde, sondern auch von ganz anderen Abenteuern wie Fire Emblem und Persona. Und so erkundet man zwischen den Einsätzen in Ruhe die Abbey, um sich mit anderen Superhelden zu unterhalten, mit ihnen zu trainieren und gelegentlich gar kleine Nebenaufgaben für sie zu erledigen.
Wie in einem Rollenspiel streift man als Hunter dann durch die Festung sowie das umliegende Anwesen, unterhält sich mit den Kameraden, verbringt Filmabende mit ihnen, macht Spaziergänge oder etwas anderes. Sicher, das meiste davon wird über profane Dialogfenster abgewickelt. Interessant ist es aber dennoch, da man auf diese Art Freundschaften knüpft und befreundete Mitstreiter in folgenden Kämpfen sowohl Kombos, also mächtige Fähigkeiten anbieten als auch Buffs und zusätzliche Kostüme freischalten. Immerhin hat man vor vielen Gefechten die Wahl, welche Charaktere daran teilnehmen, kann also sein Wunschteam perfektionieren.
Weil man an einem Abend (das gesellige Zusammensein steht immer erst nach dem täglichen Gefecht zur Verfügung) nur eine begrenzte Anzahl an Aktivitäten ausführen kann, will somit gut überlegt sein, mit welchen Figuren man Zeit verbringt – wie man in den Multiple-Choice-Unterhaltungen auf sie reagiert, scheint mir dagegen weniger wichtig zu sein. Zumindest habe ich selbst für provozierende Antworten immer wieder Freundschaftspunkte erhalten. Mit anderen Worten: Das Beziehungssystem ist sicherlich nicht das eines komplexen Rollenspiels. Entscheidend ist, wen man überhaupt anspricht.
Abgesehen davon entwickelt man Hunter über manche Antworten eher zum Heiler oder zum Damage-Dealer und stellt in der Abbey bei Bedarf die Kartendecks aller Charaktere neu zusammen. Man erforscht weitere Fähigkeiten, modifiziert vorhandene und produziert Gegenstände zum einmaligen Einsatz im Kampf. Wie gesagt: Im Überbau erinnert so einiges an XCOM und auch wenn die Entwicklung im Hauptquartier in den ersten Stunden noch lange nicht in die Tiefe geht, wird spätestens daran doch klar, dass dieses Midnight Suns eben nicht nur ein cleverer Card-Battler ist, sondern das Prinzip in ein ausgewachsenes Taktik-Schwergewicht überträgt.
Nun bin ich nicht gerade begeistert darüber, dass in der Abbey überall Sammelobjekte und sogar für den Ausbau mancher Fähigkeiten benötigte Ressourcen herumliegen. Das Auflesen dieser bunten Punkte fühlt sich nach stumpfer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme an. Auf Nachfrage versichert mir DeAngelis allerdings, dass die wichtigste Einnahmequelle dieser Materialien die Nebenmissionen sein werden und das Leuchten im Hauptquartier nur als kleiner Bonus dient.
Ihr habt auf die Beziehungskiste in der Abbey ohnehin keinen Bock? Dann lasst es! Offenbar kann man darauf fast komplett verzichten und stets von einer Mission zur nächsten springen. Mir scheint zwar, dass man auf diese Weise einen sehr interessanten Teil des Spiels verpassen würde, aber das müsstet ihr mit eurem Gewissen ausmachen.
Ein letztes Wort schließlich zu den geplanten Download-Inhalten, denn das betont Firaxis: Obwohl es sich um Rundentaktik mit Karten handelt, wird man keine Fähigkeiten über Mikrotransaktionen kaufen können. Lediglich einzelne Superhelden sollen als DLC-Pakete zur Verfügung stehen, wobei derzeit bereits vier in Arbeit sind. Weiterhin werde es eine Menge kosmetischer Inhalte geben und auch für die Kampagne soll es inhaltliche Erweiterungen geben, die ähnlich wie jene aus XCOM 2 die Kampagne des Hauptspiels ergänzen.
Lange Vorschau, kurzer Sinn: Marvel’s Midnight Suns könnte locker zum nächsten Hit der XCOM-Macher werden! Schon in den ersten Stunden hatte ich viel Spaß damit, die verschiedenen Fähigkeiten der Superhelden auf immer neue Art zu kombinieren und dabei das genauso unkomplizierte wie unglaublich wichtige Stellungsspiel zu nutzen – Bösewichte in Stromkästen oder von Häuserdächern zu schubsen, geht immer. Dazu die dem Anschein nach angenehm umfangreiche Charakterentwicklung im Hauptquartier, liebevolle Details wie der coole Fotomodus sowie die Tatsache, dass ein einziger Durchgang der Kampagne einschließlich aller Nebenmissionen mehr als 60 Stunden dauern soll. Wenn ihr mich fragt, haben die Sonnen der Mitternacht damit das Zeug, ähnliches für den Card-Battler zu leisten, was Returnal für das Roguelike getan hat: es aus seiner Independent-Wiege auf das große Triple-A-Podest zu hieven.