Mass Effect 2
Mehr Action- als Rollenspiel
Mass Effect 2 ist gerade für BioWare eine ungewöhnliche Fortsetzung. Neben den üblichen Verbesserungen, Updates und einer Weiterführung der Geschichte überrascht der Titel mit einer knallharten Streichpolitik, dem gleich mehrere unausgereifte, im Ansatz aber vielversprechende Rollenspiel-Elemente weichen mussten. Egal ob Charakterentwicklung, Item-System oder Erforschung der Spielwelt, bei der Operation sind neben verfaulten Bestandteilen auch eine ganze Menge sinnvolle Ideen herausgeschnitten worden. Was noch vorhanden ist, wurde zusammengekürzt, vereinfacht und in ein funktionierendes, aber beschränktes System integriert.
Übriggeblieben ist ein bombastischer Deckungs-Shooter mit einer eingängigen Rollenspiel-Struktur, einer epischen Geschichte, prächtigen Charakteren und einem Entscheidungsystem, das erneut Zeichen setzen wird. Ein gewaltiges Spiel, das aber trotz seiner überragenden Produktqualität die Spieler in zwei Lager spaltet. Während sich Action-Fans über die hervorragende Grafik, die deutlich spannenderen Feuergefechte und das simple Levelsystem freuen, trauern Rollenspieler ihrem Inventar, der komplexen Charakterentwicklung und selbst den mittelprächtigen Mako-Missionen hinterher. Ein Weg, der für hitzige Diskussionen sorgen wird.
Unumstritten präsentiert sich dagegen die grandiose Story samt komplexem Moralsystem, die direkt auf dem ersten Teil aufbaut. Wir schreiben das Jahr 2183. Euer Alter Ego Commander Shepard hat den ersten Ansturm der brutalen Maschinenrasse, den Reapern, erfolgreich zurückgeschlagen. Ihr habt die Milchstraße zumindest in einigen Punkten nach euren Wünschen geformt. Habt Kollegen geopfert, euch einen Ruf erarbeitet und am Ende das galaktische Konzil wiederaufgebaut. Entscheidungen, die sich auf eure Mass-Effect 2-Erfahrung auswirken, sie aber nicht auf den Kopf stellen. Dies haben die Entwickler erst im dritten Teil vor, doch dazu später mehr.
Dass die Hauptfigur gleich zu Beginn stirbt, habt ihr bestimmt schon durch diverse News und Videos mitbekommen. Ja, Shepard wird bei einem übermächtigen Angriff auf die Normandy getötet und von der Geheimorganisation Cerberus wieder zurück ins Leben geholt. Die Hintergründe und die zweifelhaften Absichten der menschlichen Lobbyisten erschließen sich euch erst nach und nach. Im ersten Teil musstet ihr zwar eine Cerberus-Basis auslöschen und seid dabei auf unethische Experimente gestoßen, trotzdem können nur treue Leser des Mass-Effect-Romans "Der Aufstieg" nachvollziehen, was es wirklich mit der rassistisch angehauchten Truppe samt ihrem charismatischen Anführer, dem Unbekannten, auf sich hat.
BioWare gibt damit die Marschrichtung vor: Im Gegensatz zu vergleichbaren Titeln gibt es nur selten Schwarz und Weiß. Eure meisten Handlungen spielen sich in einer weit gefassten Grauzone ab, die es schwer macht, sich für einen Pfad zu entscheiden. Natürlich kann man einer Organisation, die lügt, betrügt und mordet, nicht blind vertrauen. Doch Cerberus hat satte zwei Jahre und Millionen Credits in eure Wiederauferstehung investiert. Ihr verdankt dem Unbekannten also nichts Geringeres als euer Leben. Ein Dienst, der euer Gewissen später zum Teil schwer belastet.
Überhaupt wurde das System zwischen Gut und Böse, Vorbild und Abtrünnigem weiter ausgebaut. Wie schon im Vorgänger steht ihr vor Entscheidungen, bei denen es um Leben und Tod geht. Und BioWare geht diesmal noch einen Schritt weiter: Eure Handlungen scheinen diesmal deutlich weitreichendere Folgen zu haben. Die Zukunft ganzer Völker liegt in euren Händen. Wie sich das auf die Geschichte auswirkt, wird sich aber erst im dritten Teil zeigen. Fest steht, dass es zunehmend schwerer fällt, Entscheidungen zu treffen, wenn man sich bewusst macht, wie viel von einem simplen Befehl abhängt. Jede noch so einfache Wahl erhält damit eine persönliche Dimension.