Mass Effect 3 - Eine zweite Meinung
Die Mutter aller Enden
Zu Mass Effect 3 ist ja bereits seit heute früh unser Test samt zweistelliger Note auf der Seite zu lesen. Dennoch liegt es uns am Herzen, euch, wie schon das eine oder andere Mal zuvor, eine zweite Meinung zum Spiel präsentieren. Wenn es dieser Titel nicht rechtfertigt, welcher dann? Eine detailliertere Gameplay-Kritik und Beschreibungen einzelner Features sparen wir uns und euch für diesen zweiten Text, ebenso wie eine separate Note, solche Dinge findet ihr in dem Test.
Und noch etwas: Natürlich kann man nicht über den letzten Teil einer Trilogie reden, ohne das Ende beziehungsweise die Endgültigkeit des Spiels zu thematisieren. Selbstverständlich wird aber mit keiner Silbe erwähnt, was passiert, wie es ausgeht, wer stirbt oder lebt. Das solltet ihr schon noch selbst erleben.
Für Mass Effect als Reihe gibt es viele Worte. Ambitioniert, redselig, ein bisschen unstet im Mischungsverhältnis seiner Ingredienzen, aber auf jeden Fall immer episch und voller glaubwürdiger Figuren. Mit dem dritten Teil muss man nun noch ein paar neue finden, reiht es sich mit seinem spektakulären Finale bei einer überaus seltenen Gattung Spiel ein: Nämlich die, die um die Wirkung eines echten Endes weiß. BioWare zieht nach drei beachtlichen Spielen in viereinhalb Jahren ein für alle Mal den Stecker und dreht auch noch die Sicherung raus. In Zeiten immer kürzerer Produktzyklen ist dies der vermutlich größte Erfolg dieser Saga und für Spiele allgemein: Durch seinen Willen zum großen Abgang wird Mass Effect zu einem der großen, relevanten Werke dieses Mediums.
Natürlich variiert die Endgültigkeit, mit der im Finale von Mass Effect 3 das Universum von Commander Shepard auf den Kopf gestellt wird, je nachdem, welche Entscheidungen ihr im Verlauf traft und wie viele Ressourcen ihr zur Verteidigung auf der Meta-Ebene des Spiels erbeutet habt. Nichtsdestotrotz erschrecken und überraschen die beiden bisher gesichteten Abspänne, mit einer Konsequenz, die vermittelt: Das war es! Selbst wenn die Autoren einen Weg fänden, es irgendwie neuzustarten, sorgt dieser Abschluss dafür, dass man etwaige Folgespiele mit derselben Leichtigkeit ignorieren könnte, wie man zum Beispiel die Star-Wars-Prequels ignoriert, die gerüchteweise gedreht wurden. Insofern verdient Mass Effect sich jedes Gramm Wehmut, das in den ungezählten Kritiken mitschwingt, die seit heute das Netz fluten, wie die Reaper eine randvoll mit köstlichem, organischen Leben gefüllte Galaxie.
Ich gebe zu, ich persönlich bin kein Fan des Konzeptes, vom Spieler für ein "perfektes" Ende das Erledigen beinahe aller der teilweise etwas banalen bis rein logistischen Nebenquests zu verlangen. Immerhin kosten auch die Zeit, während die Reaper täglich und galaxieweit milliardenfach morden. Oft genug gelingt es BioWare, seine Sub-Aufträge gut zum Kontext einer parallel gelagerten Hauptquest zu gestalten, etwa, wenn die optionale Rettung eines bestimmten Generals für noch mehr Unterstützung durch die Fraktion sorgt, um deren Gunst ihr gerade buhlt. Wenn alle Rollenspiele ihre sekundären Missionen so klug mit der Hauptgeschichte verzahnten, das Genre wäre um eine seiner zentralen schlechten Angewohnheiten leichter. Dennoch ist auch Mass Effect 3 nicht gegen diese gefeit. Denn es appelliert mit zusätzlichen Zählern für euren Punktestand, der die Bereitschaft für den Krieg misst und damit über die Art des Endes sowie über Leben und Tod bestimmt, eher an Fleiß und Pflichtgefühl als an euren Spaß mit den gestellten Aufgaben.
Dabei könnten mir einige der klar als nebensächlich erkennbaren Bittsteller und ihre Problemchen in dieser Situation egaler nicht sein. Doch auch das gehört wohl zum Weltenretter-Auftrag: Entscheidungen zu treffen, wann es gut gewesen ist. Man kann nicht alle retten, nicht überall sein - auch wenn der grüne Balken in der Schlachtenzentrale etwas anderes impliziert. Es ist einfach zu viel. Diesem Gefühl von Überforderung wird Mass Effect 3 letzten Endes sehr gut gerecht, wenngleich ich mir gewünscht hätte, dass hier eher kluge Entscheidungen als die Beflissenheit, auch noch die letzte Besorgungsquest oder den letzten generischen Vernichtungskampf gegen nur leidlich interessante Bösewichte aus Reihe drei auszufechten, belohnt würde. So läuft man Gefahr, die gebotene Zügigkeit der Umstände und die Bedrohung der totalen Auslöschung durch die Reaper aus den Augen zu verlieren.
Und wenn wir schon beim Meckern sind: Das Spiel trapst ein bisschen in die beliebte Hollywood-Falle, die Stärke seiner Nemesis eine Idee zu dehnbar zu interpretieren. Reichte in Teil eins kaum die gesamte vereinte Flotte alles empfindsamen Lebens aus, der Sovereign die Stirn zu bieten, werden die Reaper hier in einigen für die Handlung recht praktischen Situationen nicht mehr ganz mit der einschüchternden Unantastbarkeit gezeichnet, die sie im Vorfeld als so urgewaltliche Auslöscher darstellte. Immerhin tauscht das Spiel für diese Sprünge in der Logik einige der spektakulärsten Panoramen der an intergalaktischen Postkartenmotiven nicht eben armen Seriengeschichte ein. Wenn ihr es seht, werdet ihr wissen, was ich meine.
Wer wie ich den sehr charakterbezogenen Ansatz des Vorgängers schätzte, wird in Mass Effect 3 unter Umständen auch die deutlich interessanter gefächerte Crew des Vorgängers vermissen. Die ältesten Begleiter Shepards sind alle vollzählig und in Top-Form, gewähren dem hartgesottenen Supersoldaten sehr menschelnde und intime Momente. Seiten, die ihm bisher etwas abgingen. In dieser Hinsicht spielt BioWare erneut groß auf. Die neuen Ergänzungen zum Team, etwa der stereotype Latino-Panzer James sowie ein Überraschungsgast im Außendienst hinterlassen jedoch keinen besonderen Eindruck. Und der Versuch der Kanadier, männlichen Shepards eine homosexuelle Romanzen-Option anzubieten, ist nicht nur arg alibimäßig, sondern mindestens auch ungeschickt ausgefallen. Bei einer Auswahl von sechs potentiellen Party-Mitgliedern sind zwei Blindgänger etwas mehr, als ich von BioWare erwartet hätte, was zudem die unerklärliche und drastische Marginalisierung einiger wichtiger Nebenfiguren aus Teil 2 etwas unverständlich macht.
"Als Spielereihe mit Gedächtnis verfolgte die Saga einen einzigartigen Ansatz. Jeder neue Serieneintrag zehrte in bisher ungekanntem Maße von dem davor und wertete ihn im Gegenzug nachträglich auf, verlieh ihm an Gewicht."
Doch was hatte das Team auch für eine Wahl? Eine Serienhistorie mit ungezählten Variablen, Wahlmöglichkeiten, Figuren und Leben-oder-Tod-Entscheidungen wollte hier binnen eines 30-Stunden-Erlebnisses zu Ende erzählt werden. Ein Unterfangen, bei dem selbst ein spektakuläres Scheitern noch verzeihbar gewesen wäre. Stattdessen nimmt BioWare das Gewirr aus Handlungsfäden selbstbewusst und konzentriert in die Hand und knüpft am Ende mit großem Fingerspitzengefühl etwas daraus, das die wichtigsten aller Fragen sehr befriedigend beantwortet und zugleich die bedeutendsten Charaktere würdig ihrem Schicksal zuführt. Am Ende gelingt es ihnen gar, ein paar faszinierende neue Gedanken aufzuwerfen, die dafür garantieren, dass man sich weit über den Abspann hinaus noch mit diesem als Reihe wohl größtem aller Spiele-Abenteuer befasst.
Bei allen Errungenschaften, Versäumnissen und fragwürdig inszenierten Alien-Romanzen, ist es doch das Erinnern dieser Spiele an eure Leistungen und Entscheidungen, worüber man in Zukunft sprechen wird, wenn man sich über Mass Effect unterhält: Als Spielereihe mit Gedächtnis verfolgte die Saga einen einzigartigen Ansatz. Jeder neue Serieneintrag zehrte in bisher ungekanntem Maße von dem davor und wertete ihn im Gegenzug nachträglich auf, verlieh ihm an Gewicht. Den bisher so auf sich selbst bezogenen Videospielen zeigte BioWare damit einen Weg der Weiterentwicklung auf, der mit technischen oder gar nur grafischen Aspekten nicht die Spur zu tun hat.
Den Mut, mit Mass Effect 3 jetzt so luftdicht und entschlossen den Deckel auf dieses wegweisende Erlebnis zu pappen, kann man Entwickler und Hersteller nicht hoch genug anrechnen.