Massive Chalice - gewinnt Double Fine Vertrauen zurück?
Der Taktikritt durch die Jahrhunderte ist zumindest ein guter Anfang.
Double Fine weht derzeit ein steifer Wind ins Gesicht: Im Fall Broken Age, das einst den Kickstarter-Trend lostrat, unterschätzte man den Aufwand und konnte bis heute die geplante zweite Episode nicht liefern. Und dann stellte der Entwickler auch noch die Dwarf-Fortress-Hommage Space Base DF-9 nur mehr schlecht als recht fertig. Tim Schafers Team musste eine der bittersten Lektionen lernen: wie weh es tut, wenn allgegenwärtige Fan-Zuneigung in Wut umschlägt.
Über all der Aufregung konnte man beinahe vergessen, dass die San Franciscoer mit Massive Chalice ja noch ein weiteres Kickstarter-Schwergewicht im Feuer haben. Das Strategiespiel unter der Regie von Brad Muir (Kopf hinter Iron Brigade, aber auch an Psychonauts und Brütal Legend maßgeblich beteiligt) machte in den nicht ganz eineinhalb Jahren seit dem Crowdfunding-Erfolg genügend Fortschritt, um jetzt auf Steam im Rahmen des Early-Access-Programms zu erscheinen. Einen Durchlauf durch den Mix aus XCOM und Heldenzuchtsimulation später ist klar: Was Double Fine hier geliefert hat, ist schon jetzt überraschend stabil, inhaltlich ausgereift und unterhaltsam. Fast hat man das Gefühl, schon ein fertiges Spiel vor sich zu haben.
Worum geht's? Nun, im Grunde übersetzt Massive Chalice das XCOM-Konzept der Erdenverteidigung vor Außerirdischen auf ein Fantasy-Reich, das ewig und drei Tage von den Bestien der Kadenz überfallen wird. Über das Land wacht der titelspendende gigantische Kelch, dem zwei weise Stimmen innewohnen. Zum Schutz vor der Kadenz schufen sie den Spielercharakter als unsterblichen Herrscher, der die Gefilde verteidigen soll, bis das auf Swimming-Pool-Maße ausgewachsene Trinkgerät nach 300 Jahren seinen maximalen Füllstand erreicht hat. Ich kann nur raten, womit sich der Kelch füllt, während wir die ganze Arbeit machen, aber egal, ob wir es mit geweihtem Wasser, schierer, flüssiger Liebe oder Crystal Pepsi zu tun haben: Der Kelch ist in der Lage, die Existenz der Kadenz nach genau drei Jahrhunderten zu beenden. Bis dahin heißt es: durchhalten!
Metaspiel und Taktikkämpfe halten sich wie beim großen Vorbild die Waage, auf der Strategieebene fesselt Massive Chalice aber mit einem eigenwilligen, hochinteressanten Kniff. Während man sich in XCOM vornehmlich darauf besinnt, eine vergleichsweise überschaubare Anzahl an Soldaten durch Upgrades zu hegen und pflegen, macht die größere Zeitspanne der Kadenz-Invasion es notwendig, dass ihr euch gleich mehrere Dynastien an Helden aufbaut. Zu Beginn solltet ihr in den umliegenden Ländereien Festungen bauen, einen Regenten bestimmen und ihn mit einem geeigneten Partner vermählen. Jeder Elternteil hat neben seiner Heldenklasse, die der König in jedem Fall an seinen Nachwuchs weitergibt, verschiedene Eigenschaften physischer und charakterlicher Natur vom Asthma bis hin zur Leichtsinnigkeit. Und die setzen sich im Rahmen einer simplen Vererbungslehre in Folgegenerationen fort.
Auch der Level, den der Stammhalter einer Dynastie hat, spielt eine Rolle. Setzt ihr euren besten Krieger auf den Thron, verleiht er seinen Nachkommen einen satten Erfahrungspunktebonus. Ihr verliert ihn dadurch aber auf dem Schlachtfeld. Ähnliches gilt auch für die anderen Anlagen, die ihr in mehreren Jahren Bauzeit auf einem freien Feld errichtet: Hat sich ein Krieger durch eine tolle Kombination an körperlichen und persönlichen Eigenschaften bewährt, beruft ihn zum Standartenträger eines Ausbildungslagers, wo sie auf den Nachwuchs abfärben können. Helden mit hohem Intuitionswert setzt ihr am besten auf einen von drei vakanten Weisenposten, damit sie die Bauzeit von Einrichtungen oder die Forschungsdauer von neuen Waffen, Rüstungen und Gegenständen verkürzen. Während ihr die Zeitleiste unermüdlich weiterticken lasst und all eure Helden nicht nur stärker, sondern irgendwann auch alt und grau werden und schließlich sterben, sitzt ihr alle naselang zwischen den Stühlen, ob ihr Taktik- oder Strategieebene stärken wollt.
Im Prinzip ein bekanntes und bewährtes Dilemma, hier aber in einer Form, die vielen Entscheidungen ein fast schon tragisches Gewicht verleiht. In jedem Fall sollte man immer gut hingucken, zwischen wem man die Hochzeitsglocken läuten lässt. Bevor ich begriffen hatte, dass allein der Regent die Heldenklasse bestimmt, musste ich über Dekaden mit einem Trupp ohne echte Fernkämpfer auskommen. Im Spielkontext ergibt das Sinn, weil das Königspaar die Ausbildung der Jugend vornimmt und es so zu einer strategischen Überlegung wird, welche der immer im Dreierpack angegriffenen Länder man verteidigt, damit es nicht der Verderbnis anheimfällt. Man muss nur eben achtgeben, was man tut.
"Zufällige Ereignisse, in denen euer Multiple-Choice-Input verlangt wird, erinnern unterdessen an FTL: Faster Than Light."
Zufällige Ereignisse, in denen euer Multiple-Choice-Input verlangt wird, erinnern unterdessen an FTL: Faster Than Light, neben XCOM einer der Taktikdauerbrenner der letzten Jahre. Ich hätte mir beinahe noch mehr dieser schweren Bauchentscheidungen gewünscht, auch wenn sie teilweise wirklich bittere Folgen nach sich zogen. Zwei meiner besten Kämpfer zeugten unehelichen Nachwuchs, den ich zur Strafe ins Heim gab - glaubt mir, die Alternativen waren auch nicht besser -, wodurch beide fortan "niedergeschlagen" und damit weit weniger effektive Kämpfer waren.
Die Taktikebene beginnt trotz des flotten Zwei-Aktionen-Systems - zweimal bewegen oder doch nur einmal und noch eine Aktion wählen? - ein wenig zäh, weil die Möglichkeiten eurer Krieger nur mit Waffe, Rüstung und einem Verbrauchsgegenstand denen der Kadenz schlicht nicht gewachsen sind. Sie sterben zu Beginn wirklich wie die Fliegen. Das ändert sich aber recht schnell, weil die Helden, die entweder schwerer Nahkampfexperte, Armbrustjäger oder Alchemist in ihrer Berufsbeschreibung stehen haben, auf den Stufen zwei, vier, sechs, acht und zehn je eine von zwei neuen Fähigkeiten wählen dürfen.
Auch hier lieferte XCOM eine schöne Blaupause. Der Caberjack, die gepanzerte Wuchtbrumme, die eine Art gezackten Baumstamm als Waffe schwingt, wechselt mit dem "Charge" blitzschnell seine Position und rammt dabei Gegner aus dem Weg. Auf Level vier kann er Feinde nach Nahkampftreffern von sich abprallen lassen oder kassierte Schläge in einen Wut-Buff umwandeln. Auf Level sechs entscheidet ihr euch zwischen einer Rundumattacke und der Möglichkeit, kontrolliert den Aggro aller Feinde in Sichtlinie zu ziehen und so weiter. Auch Alchemist und Jäger entscheiden sich auf ihrer schmalen, aber zwischen sinnigen Extremen gespannten Karriereleiter zwischen Angriff und Teamfähigkeit beziehungsweise potenziell lebensverlängernden Maßnahmen. Die Items, die es zu erforschen gab, erzeugten bis auf wenige Ausnahmen - ein Stein, der zwar die Gesamtgesundheit reduziert, mit jedem gelandeten Treffer aber auch Gesundheit des Helden wiederherstellt, ein "Skipping Stone", mit dem Held und Monster die Positionen tauschen - noch nicht den größten Schnappreflex bei mir, aber hier werde ich in Zukunft sicher noch experimentieren. Schließlich ist Massive Chalice auf mehrere Durchläufe angelegt.
" Schon in XCOM war das nicht anders. Die taktische Tiefe, die das Spiel aus dieser Lesbarkeit und Übersichtlichkeit zog, ist eine der größten Stärken."
Die Anzahl verschiedener Gegnergattungen hält sich ebenso wie die Spannbreite der Heldenklassen in einem überschaubaren Rahmen. "Bulwark" genannte wandelnde Bäume sind Fernkämpfer, die nach einem erlittenen Treffer dermaßen aushärten, dass sie für den Rest der Runde kaum verletzbar sind. Die geisterhaften "Lapses" fügen nicht den größten Schaden zu, ziehen stattdessen aber ordentlich Erfahrungspunkte ab, und die "Wrinkler" prügeln euren Schützlingen mit jedem Treffer fünf der so kostbaren Lebensjahre aus dem Leib. Vier weitere Feinde und jeweils als "Advanced", also fortgeschritten, deklarierte Versionen davon komplettieren das überschaubare Invasorenfeld. Selten stellt ihr euch mehr als drei Gattungen auf einmal. Schon in XCOM war das nicht anders. Die taktische Tiefe, die das Spiel aus dieser Lesbarkeit und Übersichtlichkeit zog, ist eine der größten Stärken. Massive Chalice geht in die gleiche Richtung, auch wenn es kein Deckungssystem gibt und man bis ungefähr zur Mitte des Spiels seine Schlachten lieber im Rückwärtsgang schlägt, um die Gegner in einen Flaschenhals des Levels zu lotsen.
In jedem Fall liegt hier ein vielleicht nicht unbedingt eigenständiges, dafür aber temporeiches und schlüssiges Regelwerk zugrunde, dessen Balance sich jetzt schon sehen lassen kann und das intuitiver daherkommt als beispielsweise das schon ziemlich fesselnde The Banner Saga (mehr dazu lest ihr in unserem Banner-Saga-Test). Massive Chalice gefällt noch dazu mit seinem reduzierten, aber ausdrucksstarken Stil in den Schlachten, während sich die zentrale Strategieebene mit Details und Leben aktuell noch etwas zu sehr zurückhält. Auch an der Performance muss und wird Double Fine noch arbeiten, denn im Moment ruckelt das Scrolling auf meinem recht potenten Rechner deutlich mehr, als es sollte.
Also: Massive Chalice stellt schon kurz nach seinem Early-Access-Debüt wieder viel Vertrauen in Double Fines Fähigkeit her, ein Spiel der skizzierten Grundidee gemäß und vor allem termingerecht zu liefern. Obendrauf fesselt es mit dem berühmten "Nur-noch-eine-Runde-Effekt", der die besten aller rundenbasierten Strategie- und Taktikspiele auszeichnet, nur dass hier aus einer Runde schnell mal eine ganze Heldengeneration wird. Schon jetzt lässt sich sagen, dass Massive Chalice aller Voraussicht nach seine Kickstarter-Unterstützer in vollem Umfang zufriedenstellen wird. Wenn das endgültige Produkt das hält, was die Early-Access-Version verspricht, könnte es sogar seinen Platz direkt neben Psychonauts einnehmen: als eines der definierenden Spiele dieses liebenswerten Studios.