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Massive Chalice - Test

Das beste Double-Fine-Spiel seit Psychonauts.

Eurogamer.de - Empfehlenswert Badge
Nicht die tiefgründigste, aber schön vielschichtige und angenehm flotte Rundenstrategie mit motivierender Heldenzucht über Generationen.

Es ist ein bisschen spät dran, zugegeben. Im Kickstarter-Pitch rechnete Double Fine noch mit September 2014 als Erscheinungstermin für Massive Chalice. Doch abgesehen davon ist das, was die Kalifornier diese Woche lieferten, tatsächlich ziemlich genau das, was sie vor ziemlich genau zwei Jahren versprachen: Rundenstrategie der XCOM-Schule, Königreich-Management und Heldenzucht-Simulation über drei Jahrhunderte hinweg.

Double Fine ist nicht unbedingt für rein systemisch besonders ausgefuchste Spiele bekannt, weshalb das Bedürfnis des Studios, ein vielschichtiges Taktik- und Strategiespiel zu schmieden durchaus kritisch beäugt werden durfte. Dann wiederum war mit Brad Muir der Designer hauptverantwortlich, der mechanisch schon immer am meisten auf dem Kasten hatte. Sein Iron Brigade war wundervoll ausgereift und setzte schon vor drei Jahren Zeichen, dass auch spielerisch anspruchsvollere Kost von den San Franciscoer Humoristen um Tim Schafer kommen kann. Und tatsächlich ist Massive Chalice das vermutlich beste Spiel des Studios seit Psychonauts.

Schreitet die Kadenz bis zur Kartenmitte vor, ist das Spiel verloren. Zwischen den Kämpfen beschleunigt ihr den Verlauf der Zeit mithilfe des Schaltfeldes oben rechts.

Zu allererst sollte man jedoch vielleicht umreißen, was Massive Chalice nicht ist: Mitnichten habt ihr es hier mit dem tiefschürfendsten Taktikspiel zu tun, das ihr in diesem Jahr spielen werdet. Seine Besonderheit liegt in der Art, wie es die verschiedenen Ebenen seines ohne große Spannungsverluste mehrfach durchspielbaren Szenarios zu einer einzigen und durchaus motivierenden Übung in Verzweiflungsresistenz zusammenzurrt. In dieser Hinsicht ist es fast näher an FTL, in dem ihr das Beste aus den euch zu einem guten Teil zufällig zugewürfelten Mitteln und Dilemmata zu machen versucht, als an XCOM oder Fire Emblem. Minmaxer und Kopfrechner, die sich auf harte Zahlen und Wahrscheinlichkeiten stützen, werden weniger bedient als Krisenmanager.

300 virtuelle Jahre müsst ihr in Massive Chalices mittelalterlichem Reich dem Ansturm der Cadence-Monster standhalten - denn dann ist der magische Kelch aus dem Titel, dessen Double-Fine-typische Spitzfindigkeiten den ansonsten durchaus bedrohlichen Ton etwas aufheitern, gefüllt und kann die Bedrohung auf magische Weise auslöschen. Wie XCOMs Aliens greift die Kadenz in unregelmäßigen Abständen zwei Ländereien eurer stilisierten Weltkarte auf einmal an. Nur eine Invasion könnt ihr im Taktikgefecht mit eurem fünfköpfigen Heldentrupp zurückschlagen, in der anderen schreitet automatisch die Korruption voran. Geschieht Letzteres drei Mal, ist der Landstrich unwiderruflich verloren.

Und weil die tapferen Streiter in aller Regel nicht automatisch auf eurer Türschwelle antanzen, entscheidet ihr euch im Forschungsbereich zunächst für die Errichtung einer Burg in einem von euch zu bestimmenden Landstrich. Setzt einen Helden oder eine Heldin auf den Thron, vermählt ihn oder sie mit einem Partner und hofft, dass sich reichlich Nachwuchs einstellt. Hier beginnen zahlreiche teils schmerzhafte Abwägeprozesse: Ein Held, den ihr zum Regenten ernennt, zieht sich nämlich aus dem aktiven Wehrdienst zurück, steht euch für Schlachten daher nicht mehr zur Verfügung. Die Chancen stehen gerade zu Beginn nicht schlecht, dass ihr eure besten Leute lange nicht gleichwertig ersetzen könnt. Trotzdem ist ein erfahrener Krieger wichtig, weil er in seiner Heimstatt auch seinem Nachwuchs einiges an Erfahrung mit auf den Weg gibt, bevor der mit 16 ebenfalls in den Krieg zieht.

"Minmaxer und Kopfrechner, die sich auf harte Zahlen und Wahrscheinlichkeiten stützen, werden weniger bedient als Krisenmanager."

Auf Wunsch spielt ihr Massive Chalice alternativ mit albernen Namen und Schlachtrufen.

Die Reihe weiterer Probleme ist ebenfalls nicht zu vernachlässigen: Soll der Nachwuchs eines Regenten dessen Klasse - derer gibt es zu Beginn drei - beibehalten, muss der Partner in derselben Klasse ausgebildet sein. Eine Vereinigung ungleicher Streiterschulen hat die Entstehung von insgesamt sechs Hybridklassen zur Folge. Will man die Zusammenstellung seiner Streitkräfte also gezielt steuern, muss man lange überlegen, will man nicht Opfer der Vererbungslehre werden. Eure Leute geben nämlich nicht nur Talente und gute charakterliche Eigenschaften weiter, sondern auch Gebrechen und andere wenig erstrebenswerte Seiten.

Ebenso unterscheiden sie sich in ihrer Zeugungsfähigkeit drastisch. Ihr meint, eigentlich einen echten Zucht-Supermann mit wenigen Schwächen an der Hand zu haben? Was, wenn er unfruchtbar ist oder der einzige verfügbare Partner eine eventuelle Zeugungsschwäche nicht mit seiner Potenz ausgleicht? Was, wenn die zur Trauung geeigneten Gegenstücke Sprösslinge einer Klasse hervorbrächten, an der wahrlich kein Mangel besteht. Was, wenn euer geplanter Stammvater zwar verdammt erfahren ist, und ihr auch die perfekte Mutter für eine Linie zielgenauester Scharfschützen habt, die ihr so dringend benötigt, der eine Elternteil aber den Malus "Dumm" mitbringt und der andere eine Lernschwäche? Was, wenn euer perfektes Paar sich trennen will oder die bessere Hälfte noch jungen Alters stirbt?

Und dann hätten wir von den Zufallsereignissen noch gar nicht angefangen, in denen ihr im aus FTL: Faster Than Light bekannten Multiple-Choice-Verfahren in einer bestimmten Bredouille eine Entscheidung treffen müsst. Und die kann schon mal das Leben eines lieb gewonnenen Helden kosten. Auch die Optionen, eine Trainingsfestung zu errichten und hier einen Streiter als Drill-Sergeant abzustellen, oder die Erforschung - ob Burg, neue Rüstung oder Waffe, ihr erforscht immer nur ein Projekt auf einmal - mittels der endgültigen Berufung gestählter Kämpfer als Weise zu beschleunigen, werfen quälende Personalfragen auf, die ein strategischer Geist allein nicht bewältigt.

Fegefeuer der Befindlichkeiten.

Trotz der farbenfrohen, abstrakten Art-Direction und dem schnippischen Ton, den die gespaltene Persönlichkeit des Kelches anschlägt, liegt über dem gesamten Kampf gegen die Kadenz eine gewisse melancholische Schwere, allein der Unausweichlichkeit der Dinge wegen. Zwischen den einzelnen Schlachten, die ihr schlagt, liegen oftmals Jahrzehnte. Eurem Go-to-Haudrauf von einem auf den nächsten Kampf mit grauem Haarschopf und langem Bart zu sehen, versetzt einem schon einen kleinen Stich. Klar, so innig wie mit den XCOM-Soldaten wird man mit Massive Chalices Kriegern nicht. Jeder von ihnen hat nur drei bis fünf gute Kämpfe in sich, bevor der Tod (und möglicherweise die Vererbung einer legendären Waffe) beziehungsweise ein Posten als Trainer oder Weiser winken. Aber man spürt den Zahn der Zeit durchaus, während die Situation immer prekärer wird, man jede Entscheidung hinterfragt und nicht sicher ist im Wettrüsten mit der Kadenz noch mitzuhalten.

Die eigentlichen Gefechte sind unterdessen nicht allzu komplex, aber keinesfalls schlecht. Das Zwei-Aktionen-System von XCOM vereinfacht auch hier den groben Ablauf und sorgt für ein angenehm schnelles Fortkommen in den Fights. Höhenunterschiede auf den Karten gibt es nicht, ebenso wenig wie ein Deckungssystem und Flankierungs- oder Umzinglungsboni. Dichtes Gebüsch auf einigen Feldern gewährt ein wenig Schutz, wenn man einen Kämpfer darin platziert. Die drei Grund- und sechs Mischklassen an Kriegern lassen sich grob in Nahkämpfer, Mitteldistanz-Effektradius-Glaskanone und Heckenschütze einteilen, verfügen aber jeweils über einen eigenen Fertigkeitenbaum, der die Gewichtung ihrer Einsatzbereiche etwas verschiebt.

Die eigentliche Tiefe dieses recht einfach gestrickten Systems kommt vor allem durch die Beschaffenheit und Position der Gegner zueinander ins Spiel. Beispiel gefällig? Die Lapses, geisterhafte Sirenen, entziehen einem Kämpfer mit jedem Treffer Erfahrungspunkte, was sogar in einem Abstieg auf einen früheren Level enden kann. Dafür betäuben sie aber in einem Umkreis einiger Felder alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, sobald man sie erschlägt. Ruptures explodieren in einen Pool Rüstungen und Lebenspunkte zersetzender Säure, während Bulwarks, wandelnde Baumwesen, in jeder Runde nur einmal beschädigt werden können, weil sie nach dem ersten Treffer verknöchern.

Es dauert ein wenig, bis man begreift, wie man die Fähigkeiten der Feinde zu seinem eigenen Nutzen ausspielt.

Dies sind nur die drei ersten Feindesklassen von vielen. Aber schon sie sind ein gutes Anschauungsmaterial dafür, was man zu berücksichtigen hat. Diverse Fähigkeiten eurer Helden drehen sich nämlich um die Betäubung oder sogar das Zurückschleudern der Gegner. Wer nur darauf aus ist, möglichst viel Schaden mit direkten Angriffen anzurichten, ist schneller (perma-)tot, als in vielen anderen Taktikspielen der letzten Zeit. Stattdessen solltet ihr versuchen, einen Winkel zu finden, aus dem eine Schubs- oder Rammattacke zwei Gegner ineinander prallen lässt, so beide betäubt und am Ende mit der Explosion von Rupture oder Lapse noch das umstehende Ungeziefer schädigt oder in den Tod reißt. Es ist deutlich indirekter als etwa in XCOM und in seinem Blick auf Dominoeffekte verschiedener Feindkombinationen durchaus frisch und interessant, weil ihr in der Regel nicht einfach vereint auf den gefährlichsten Gegner schießt, bevor ihr euch dem nächsten zuwendet.

Es ist wie gesagt lange nicht perfekt und XCOM gibt sich noch ein gutes Stück dynamischer und vielfältiger. Zudem gibt es immer nur eine Siegbedingung, weshalb es vorkommt, dass eine Schlacht in eine Suche nach dem letzten versprengten Monster ausartet. Da die Karten aber nicht zu erschlagend groß sind, ist das zu verschmerzen. Ein besonderes Lob gebührt Double Fine für die Handhabung, die es problemlos erlaubt, auf Knopfruck zwischen den verschiedenen angrenzenden Feldern um einen Feind durchzuschalten, um so zu bestimmen, von wo aus man zuschlagen will. Auch dass euch angezeigt wird, welche Feinde ihr sehen und angreifen könnt, wenn ihr den Cursor über euer Zielfeld haltet, ist ein netter Zug, der etwaigen Sichtwinkel-Problemen der oft recht verschachtelten Karten mühelos beikommt.

Nachdem das Projekt fast 1,3 Millionen Dollar auf Kickstarter einfuhr, wundert es ein wenig, warum so wenig über Massive Chalice gesprochen wurde. Immerhin hat Double Fine hier sein bestes Spiel seit Psychonauts - ja, rein mechanisch gesehen sogar sein bestes Spiel überhaupt - abgeliefert. Noch dazu in einem Genre, das mit XCOM am PC einen veritablen Millionenschlager hervorbrachte. Manche Dinge schlagen eben ein, andere nicht. Die Wege des Internets sind unergründlich.

So oder so, Brad Muirs ofenfrische Herzensangelegenheit wird Firaxis' Alienjagd vielleicht nicht ersetzen. Dafür ist XCOM einfach zu rund und ausgereift. Bis im Herbst dessen zweiter Teil erscheint, ist Massive Chalice jedoch noch vor Klei Entertainments packendem Invisible Inc. mein liebstes Graue-Haare-Wachstumsmittel des Jahres.

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Alexander Bohn-Elias Avatar
Alexander Bohn-Elias: Alex schreibt seit über 20 Jahren über Spiele und war von Beginn an bei Eurogamer.de dabei. Er mag Highsmith-Romane, seinen Amiga 1200 und Tier-Dokus ohne Vögel.

Informationen zu unserer Test-Philosophie findest du unter "So testen wir".

In diesem artikel

Massive Chalice

Xbox One, PC, Mac

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