Midnight Suns: Ich habe Marvels XCOM erwartet und bekam ein Fire Emblem mit Superhelden
Und ja, ihr dürft den nackten Dämonen-Hund streicheln!
Eigentlich dachte ich, ich wüsste, was mich in Midnight Suns erwartet. Ein Marvel-XCOM, in dem die Fähigkeiten meiner Einheiten durch Kartendecks dargestellt werden. Zu einem guten Teil stimmt das auch, zumindest auf dem Schlachtfeld. Und doch zeigt das neue Firaxis-Spiel schon im ersten Kapitel, das ich bereits spielen durfte, eine Seite von sich, mit der ich nicht gerechnet hatte. Es ist ein deutlich sozialeres und erzählfreudigeres Erlebnis, als es XCOM jemals war.
Es ist schwer, zu übertreiben, wenn man erklären will, wie redselig Midnight Suns ist. Man verbringt zumindest eingangs mindestens genauso viel Zeit mit dem Erkunden der Heimatbasis in einer alten Abtei im für seine Hexenverbrennungen bekannten Salem wie mit den eigentlichen Missionen. Schon XCOM 2 hatte ja deutlich mehr Ambitionen, die Randfiguren in der Basis zu echten Charakteren zu machen. Midnight Suns hat sich nun endgültig in den Kopf gesetzt, zum vollwertigen “Story-Spiel” zu werden.
Und dazu gehört nun mal, dass ihr euer Hauptquartier zu Fuß per direkter Steuerung erkundet, die Einrichtung ändert, euch einkleidet und mit anderen Superhelden quatscht, Komplimente und Geschenke verteilt, um euren Freundschafts-Level zu steigern (oder zu senken), als hätte Intelligent Systems statt das nächste Fire Emblem ein Marvel-Spiel gemacht. Dazu noch ein paar Aufgaben und einfache und etwas hüftsteife Erkundung ringsum die Abtei herum, um die Geschichte der Hauptfigur, des Hunters, zu vervollständigen. Cool auf dem Papier und in der Realität zumindest nicht schlecht umgesetzt.
Doch auch die zentrale Charakter- und Team-Progression findet natürlich in der Basis statt. Täglich lässt man Tony Stark oder Doctor Strange Loot analysieren, wirft neue Forschung an oder gibt Verbesserungen der Basis in Auftrag. Ihr tauscht gewonnene Coils gegen neue Karten ein und vereint doppelte Karten zu einer stärkeren, neuen Version. Das ist eigentlich keine Raketenwissenschaft, allerdings muss auch hier gesagt werden, dass das Spiel einige Dinge vielleicht ein wenig zu sehr verkompliziert, wenn fürs Upgrade je nach Karten-Art eine von drei unterschiedlichen Währungen – sogenannte Essenzen – gezahlt werden müssen. Es könnte sein, dass das auf lange Sicht etwas zu einschränkend wird. Und dass in der Abtei auch regelmäßig allerlei Essenz als findbares Item spawnt, dürfte für Spieler, die eigentlich nur der Taktik wegen hier sind, eine Idee zu viel Laufarbeit sein. Wer will schon, dass ihm Belohnungen durch die Lappen gehen?
Ich jedenfalls hatte mir zu Beginn tatsächlich entweder mehr Tempo und aktive Spielanteile gewünscht – oder eben ausgiebigere Schilderungen, warum Liliths Wiedererweckung durch Hydra nun so schlimm ist, denn von dieser zentralen Bedrohung sehen wir anfangs einfach zu wenig. Dennoch: Interessant ist das schon, was hier passiert, wenn man erst einmal seine Erwartungen angepasst hat, was die Spielanteile angeht. Die Sprecher der Helden machen fast durchweg einen guten Job – abzüglich der weiblichen Version des Hunters, die recht blass bleibt – und ich denke, die Charakterdynamiken der Truppe untereinander könnten eine interessante Geschichte ergeben. Und hey: Ihr dürft den glitschigen Dämonen-Hund Charlie, der sich hier herumtreibt, auch streicheln!
Das zunächst von einigen so argwöhnisch betrachtete Karten-Gameplay hingegen bereitet mir nur wenig Sorgen. Auch, weil Firaxis’ XCOM-Vergangenheit glasklar durchblitzt, wenn die Missionsziele die Bergung von Items, das Beschützen eines MacGuffins oder das Zerstören eines startenden Hubschraubers, bevor er abhebt, beinhalten. Wir kennen diese Marke schlanker Taktik, die sich im Mengenmanagement und im Maximieren des eigenen Impacts ergeht, von diesem Team bereits. Gleichwohl bedeuten die Karten, dass man seine Spielweise entschieden umstellen muss.
Das beginnt schon damit, dass die Karten, von denen man pro Runde drei an der Zahl ausspielen darf, zu einem guten Teil auch die Bewegungen eurer Figuren über die eher kleinen Schlachtfelder diktieren. Nur einer Figur pro Runde erteilt ihr aktiv Bewegungskommandos und selbst das ist eigentlich nur vonnöten, wenn ihr eine Attacke unter Zuhilfenahme eines Umgebungsobjektes ausführen, oder einen Helden im letzten Moment aus dem Radius einer Area-of-Effect-Attacke bewegen wollt. Andere Aktionen, die ihr ausführen dürft: Einen Gegenstand (auch in Kartenform) aus dem Inventar spielen und zwei Karten, die euch aktuell nicht weiterbringen, wegstecken, um neue zu ziehen.
Den Rest machen, wie angedeutet, die Karten und die sekundären Effekte, die sie wirken. Wobei ich momentan noch überrascht bin, wie viel sich darum dreht, Billard mit den Feinden zu spielen, sie nach hinten, in explodierendes Level-Inventar oder gegeneinander zu deppern. Das aktive Umpositionieren der Gegner ist wichtiger Teil einer jeden Mission, zumal ihr sehr häufig viele Bälle gleichzeitig in der Luft halten müsst: Die Gegenspieler signalisieren so gut wie immer, wen sie als Nächstes angreifen werden, und der Balance-Akt zwischen effektiver Schadensverteilung, dem Schutz der eigenen Leute und dem Erfüllen eines Missionsziels bringt einen konsequent ins Schwitzen. Gleichzeitig solltet ihr immer versuchen, Karten zu spielen, die Heldenhaftigkeit steigern, die man wiederum benötigt, um seine mächtigsten Aktionen zu lancieren. Da steckt schon sehr viel Taktik auf wenigen Quadraten und das gefällt mir sehr, sehr gut.
Noch ein vorläufiges Wort zur Technik: Eine weitere Parallele zum letzten XCOM ist leider die Performance: Midnight Suns sieht gut aus und in den Aktionen der Superhelden liegt eine Menge Kraft und Wucht, während die Effekte wirklich hinreißend sind. Zugleich ist die Performance auf meiner RTX 3080 selbst ohne Raytracing häufig näher an 60 als an 100 Bildern pro Sekunde, was sich angesichts des Gebotenen nicht richtig anfühlt. Auf dem Steam Deck hält das Spiel mit mittleren Einstellungen die 30 FPS nicht immer stabil. Es bleibt immer spielbar, aber Optimierungsbedarf sehe ich schon noch.
So oder so: Meine ersten gut zehn Stunden mit Midnight Suns waren schon einmal sehr aufschlussreich. Erst gestern fing ich an, Umgebungsattacken, die das Ausspielen einer Karte nicht erfordern, effizienter in mein Spiel einzubauen und mehr auf “Quick”-Versionen von Angriffen zu setzen, die im Falle eines K.o.s ebenfalls eine Karte und somit eine Aktion einsparen. Ich beginne, die Reihenfolge, in der ich Karten spiele, gescheiter zu priorisieren und mit den Decks der Figuren zu experimentieren. Ich lerne sogar Charaktere schätzen, die ich anfangs missachtete. Die Schlachtfeldseite von Midnight Suns unterstreicht also einmal mehr, was für brillante taktische Köpfe bei Firaxis sitzen. Jetzt bin ich nur gespannt, ob und wie viel Fleißarbeit im Basenaufbau und der Superhelden-Dating-Sim steckt, die Midnight Suns eben auch sein möchte. Ich halte euch auf dem Laufenden, was ich herausfinde.
Marvel's Midnight Suns erscheint am 2. Dezember für PC, PS5 und Xbox Series. Die Versionen für PS4 und Xbox One werden zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.