Mirror's Edge Catalyst: Open World auf den Schultern, Abgrund unter den Füßen, Kribbeln im Bauch
Manchmal kommen sie wieder.
In den letzten Jahren gab es kein Spiel, das die schwungvolle Art der Ich-Perspektive-bezogenen Bewegung so griffig und scheinbar mühelos erfasst wie Mirror's Edge Catalyst. Der Nachfolger des 2008 mit einem Bauchklatscher aufgeschlagenen Spiels - von EA und DICE letztlich doch noch gewuppt aus Image-Gründen, möchte man annehmen - setzt genau hier an. Bei der nur aus der Ego-Ansicht spürbaren Bewegungsdynamik, beim Gefühl, in Hunderten Metern Höhe Dächer zu überqueren. Dort ein Rohr greifen, sich einhändig um die Ecke schwingen, weiter über eine halsbrecherisch schmale Kante, Hopser zum Balkon und die Schräge runter, alles ohne Stopp oder Fehltritt. In seinen besten Momenten ergibt sich ein ganz vertrauter, nahezu schwindelig machender Flow des freien Rennens und Springens. Es ist, als hätte man in den letzten acht Jahren nichts anderes getan.
Vorher jedoch musste Entwickler DICE das erprobte Spielgerüst umtopfen ins Umfeld einer offenen Welt, die sich allein aufgrund der Prämisse etwas anders anfühlt. Da ihr Runnerin Faith steuert, eine zierliche Frau asiatischer Abstammung, sind die Dächer von "The City" eure Spielwiese. Der Blick auf die Straßen des kalkweißen Dystopias entlarvt Autos als selbstablaufende Hintergrundanimation und wenn Faith zu tief fällt, war es das. Ihr kommt nicht runter auf den Boden, zumindest nicht abseits speziell dafür entworfener Abschnitte zum Befeuern der Geschichte.
Eure Perspektive und die von Faith ist die gleiche. Der luftige Blickwinkel einer unter einem Multikonzern langsam erdrückten Stadt, die sich nur von oben erfassen lässt, anhand von gläsernen Hausfassaden, Kränen und rußigen Runner-Fußabdrücken auf klinischen Wänden. Zwischendrin finden sich wenige direkte Farbtupfer, meist flächig mit Signalwirkung, zum Beispiel orangene Bauplanen oder blau gefärbte Wände als Hinweis, dass dort Wachen lauern. Eine schöne optische Vorsortierung, ohne dass sie über die Grundfesten der Welt hinaus gekünstelt wirkt. Es ist eine kalte, im Umbruch befindliche und doch merkwürdige Ruhe ausstrahlende Tech-Vision einer Megastadt. Und obwohl ich die Inhalte der Beta längst beendet habe, renne ich immer noch durch die Centurian Yards, umwunden von der reinen Freude am Bewegen, wie es woanders nicht funktionieren würde. Die Übergänge zwischen Wandlauf und Sprung, Rutschbewegungen und dem gelegentlich ins Blaue hinein gerichteten Sprung sind ein Traum. Was hier stattfindet, ist nur selten übermenschlich-heroisierend. Faith wird genauso abrutschen, über Kanten stolpern oder sich verschätzen, wie man zusammen mit ihr kurz darauf schier grenzensprengende Athletik feiert.
Die spannende Frage lautet, inwieweit Mirror's Edge Catalyst sich den heute üblichen Open-World-Gepflogenheiten gewachsen sieht. Die offene Struktur, so viel kann man anhand der Beta sagen, stützt den Grundgedanken der rauschhaft vor sich hinfließenden Bewegung mehr als kleine vorbereitete Abschnitte. Es ist nicht so, dass Faith überall entlangkommt, dafür ist sie zu sehr auf Verbindungen zwischen den himmelhohen Gebäuden angewiesen. Aber ob sie linksherum durch einen Hausflur rast oder rechtsherum an einem gespannten Seil hinabrutscht, das kann sie ein Stück weit selbst entscheiden. Die ihr gesetzten Grenzen definieren sich im Rahmen dessen, was ein durchtrainierter Mensch zu leisten imstande ist. Übermenschliches ist von ihr nicht zu erwarten.. Das bedeutet natürlich auch, dass ihre Wege über die Dächer immer noch in gewissen Bahnen verlaufen. Dennoch, DICE scheint einen angemessenen Rhythmus aus Freiheit und Vorgaben zu finden.
Was die Missionen angeht, hängt an den ersten paar das übliche Tutorial: Gespür für den Aufbau der Stadt und Moves entwickeln, mit Leuten reden, bisschen rumturnen und kämpfen, bis es dann an die Infiltration eines Labors geht. Ich will nicht sagen, das sei nicht unterhaltsam, aber gerade als die Beta-Inhalte vorüber waren, hatte ich das Gefühl, es könnte jetzt in die Vollen gehen. Eine Drohne über die Dächer zu verfolgen, sich mit einem letzten dramatischen Sprung an sie zu klammern und sie strampelnd zum Absturz zu bringen, das erinnert sicher nicht zufällig an eine Helikopterszene aus dem Vorgänger. Hoffen wir, dass DICE in Sachen Missionsgestaltung weiterhin derlei Kaliber aus dem Ärmel schüttelt.
Davon abgesehen begreift sich The City als riesiger Parcours, zum Teil entwickler-, zum Teil Community-gesteuert. Klar macht es hin und wieder Laune, von Spielern erstellte Routen abzuklopfen und Sekunde um Sekunde von der eigenen Bestmarke abzuschleifen. Natürlich ist der Spielkern das Rennen, und daher bereitet es auch Spaß, genau das zu tun, wenn einem andere Runner eine Lieferung anvertrauen. Darum dreht sich Catalysts offene Welt vordergründig. Jedes Dach, jede Schanze und jedes Geländer ist für euch vorbereitet, weil sie Dreh- und Angelpunkt sind.
Und trotzdem: Wie gelangweilt hocken immer wieder verbündete Runner auf den Dächern, ohne einen besseren Plan, als tage- oder wochenlang an derselben Stelle auf Faith zu warten und ihr einen Auftrag zu erteilen, den sie binnen zwei Minuten bequem selbst erledigen könnten. Woanders stehen Leute in fast leeren Gebäuden und... stehen eben einfach dort. Nein, lebendig ist diese Welt besonders in Hinblick aufs Figurenverhalten nicht. Ja, auch sie unterwirft sich dem Trend des Sammelns von Dokumenten, Aufnahmen und Steuerchips aus Schaltkästen.
Wir werden sehen, ob hier am Ende ein tieferer Bezug zur Stadt und den in ihr stattfindenden Vorgängen herrscht, aber ich würde mir nicht zu viel erhoffen. Immerhin fand ich ein, zwei Einträge mit mehr Informationen über die junge Faith, ihre erzählte Origin-Story und ihre Eltern, die offenbar Teil einer politischen Widerstandstruppe waren. Interessant ist auch das etwas drübergestülpt wirkende Charaktersystem mit XP-Anbindung und seinen drei Kategorien von Bewegung bis Kampf. Faith lernt etwa das Abrollen nach einem Sturz aus großer Höhe, das Sich-Abstoßen in die Gegenrichtung oder einen Doppelwandlauf - OK, hier wird's dann doch übermenschlich -, als wäre sie in einem Cartoon.
Der Kampf in Catalyst komplementiert das athletische Körpergefühl. Aus dem Wandlauf überzugehen in einen Sprung, der das Gegenüber wie eine Walze zu Boden presst, ist jedenfalls eine Sache, die man nicht jeden Tag erlebt. Ebenso wie die oftmals doof agierenden Gegner. Nach einer Runde um den Block stehen sie in der Regel wieder da, egal wie oft ihr sie zusammengedroschen habt. Wäre das Treten und Boxen nur nicht so mitreißend animiert. Mit dem linken Stick bestimmt ihr die Angriffsrichtung, was immer wieder damit endet, dass man einen Gegner vom Dach kickt. Ich liebe das. Ich liebe das Hinterhergucken und Johlen, wenn er an der gegenüberliegenden Fassade entlangschrammt.
Ebenso kann man die Tölpel ineinanderstoßen und dabei zusehen, wie sie sich gegenseitig über den Haufen rennen. Aus- und Zurückweichen ist kein Problem und so schlagen die Kerle viel zu oft ins Leere. Es ist in meinen Augen eine schräge Stärke von Catalyst, diese offensichtliche Dummheit so unterhaltsam zu verpacken, dass ich mich trotzdem auf jeden Kampf freute. Weil schöne Animationen manchmal eben doch den Ton angeben - oder zumindest einen guten Beitrag leisten. Tretet eine Wache in die Arme ihres Nebenmanns und freut euch über das fast Slapstick-artige Schauspiel. Man möchte sie feste umarmen und sagen: "Wird schon noch, keine Sorge".
Wetten würde ich darauf nicht. Mirror's Edge Catalyst erscheint bereits Anfang Juni. Selbst wenn in der Hinsicht nichts mehr passiert, bekommen wir endlich ein Sequel, auf das wir viel zu lange warten mussten. Eines, das die Freude an ausufernder Athletik aufrechterhält wie die Bewegung an sich, solange man im Fluss gefangen ist. Nach acht Jahren ist es höchste Zeit und es sieht nicht danach aus, als hätte der innere Kern Knackser davongetragen. Das ist schon eine ganze Menge wert.