Mittelerde: Mordors Schatten - Test
Monoliths Beitrag zum Thema Open-World hat dem Genre viel zu geben.
Nicht wenige haben in den letzten fünf Jahren Monolith Productions' Wandel zum Entwickler von Lizenzspielen bedauert. Ein Studio mit so einer Historie - neben No One Lives Forever fallen einem gleich zwei stilprägende Horrormarken ein, wenn man an das amerikanische Spielehaus denkt -, das ist schon eine Tragödie. Oder? Gut, man kann darüber streiten, ob die Welt auf Titel wie das lustige, aber von Mikrotransaktionen zersetzte Gotham City Impostors oder das kompetente, aber bei dieser Konkurrenz schlichtweg chancenlose Wächter von Mittelerde gewartet hat. Aber letzten Endes sagt es viel über Publisher Warner aus, dass sie nicht blind einen beliebigen Entwickler mit viel zu wenig Zeit auf eine von Millionen Menschen geliebte Lizenz ansetzen, wie es eigentlich gang und gäbe ist.
Mit Mittelerde: Mordors Schatten beweist Monolith nun eindrucksvoll: Ob Lizenz oder nicht, mit ihnen ist jederzeit zu rechnen. Es ist richtiggehend erstaunlich, wie selbstsicher die Entwickler sich nun schon zum zweiten Mal in Folge ein für sie neues Genre zu eigen machen. Die Assassin's-Creed-Vergleiche - man versteht, woher sie kamen. Nachdem ich die Kampagne aber hinter mich gebracht habe, finde ich sie ein bisschen unfair. Mordors Schatten ist sein eigenes Ding. Zwar bedient es sich einiger Elemente - freies Klettern und Herumlaufen, Missionen starten an Markierungen auf der Karte und sogar ein paar Türme darf man wiederherstellen. Aber Monolith begnügt sich nicht damit, die Blaupläne der Konkurrenz abzupausen.
Stattdessen klebte sich offenkundig jeder der Entwickler einen Text vom Unterschied zwischen Open-World und Sandbox-Gaming neben die Monitorphalanx. Beide offenen Landstriche Mordors, die der untote Waldläufer Talion mithilfe des passablen Schleichsystems und der an Batman: Arkham City angelehnten Massenkämpfe unsicher macht, werden von ihrer eigenen prozedural generierten, dynamischen Hierarchie an Orks bevölkert. Fußsoldaten unterstehen einer Kaskade von 20 Hauptmännern, Hauptmänner können unterdessen zum Leibwächter eines der fünf Häuptlinge aufsteigen und diese sogar irgendwann beerben. Dieses Mächtesystem ist stetig in Bewegung, denn Orks sind ein missgünstiges, mordlüsternes Pack. Vor allem aber finden diese Ränkespiele nicht unter Ausschluss des Spielers statt. Jeder Feld-, Wald- und Wiesenfeind, der alle paar Meter eine Horde menschlicher Sklaven durch die Einöde treibt oder auf Patrouille nach seinem nächsten Opfer sucht, kann zum Hauptmann aufsteigen, wenn er euch erledigt.
Das merkt man schnellstens, wenn man sich zu Beginn überschätzt und einem beliebigen Rudel der dreckigen Biester (vorerst) erliegt. Dann blendet das Spiel in eine an Brettspiele erinnernde Übersicht aller wichtigen Uruk Hai über, auf der euer bis dahin namenloser Bezwinger seine Beförderung feiert, im Machtlevel aufsteigt und eine prächtige Rüstung sowie einen erstaunlich treffenden Spitznamen bekommt. Da sich die häufig monströs verstümmelten Wilden auch untereinander bekriegen, wird während eurer regenerativen Auszeit auch der Rest der Truppe ordentlich durchgewürfelt. Oft mit Konsequenzen, die man mit besserer Planung hätte vermeiden können. Geht man etwa ohne große Analyse der Situation in ein Lager, sieht man sich schon mal mehreren Hauptmännern gegenüber, von denen man nicht wusste, dass sie da waren. Und wenn die bei eurer Niederlage noch stehen, wächst ihre Macht, weil sie euch überlebt haben. Das nächste Aufeinandertreffen wird also schwieriger, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie sich an das letzte Mal erinnern und euch gegebenenfalls verhöhnen.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich in dem schmucken interaktiven Ork-Familienfoto zugebracht habe, um mir die entstellten Visagen anzuschauen. Es muss eine ganze Menge gewesen sein, denn neben dem Spektakel der herrlich deformierten Monstrositäten stimmt vor allem auch der Infogehalt. Zwar sind viele der Gestalten zunächst nur als Silhouette vertreten, werden erst dann eingeblendet, wenn ihr ihnen das erste Mal begegnetet oder - besser noch - aus einem der klügeren Orks tiefer gehendes Wissen über sie herausgepresst habt. Dann aber könnt ihr sogar ihre Stärken und Schwächen einsehen und euch für eine Taktik im Kampf entscheiden. Manche fürchten Caragor, eine nackte, echsenhafte Version der Warg-Wölfe und eines von zwei Reittieren, die ihr kontrollieren könnt. Andere hingegen hassen sie dermaßen, dass sie die Anwesenheit der gefährlichen Vielfraße nur noch wilder kämpfen lässt. Manche Orks sind dagegen durch Schleichangriffe verletz- oder sogar sofort tötbar, während einige Augen im Hinterkopf zu haben scheinen und selbst den besten Attentatsplan mit einem belustigten Kopfstoß vereiteln.
Es ist ungemein fesselnd, einfach nur auf einem der Aussichtstürme zu stehen und die Zeit weiterzuschrauben, um die sich verschiebenden Machtverhältnisse und die entstehenden Feindschaften unter den Orks zu beobachten. Ihr dürft in vielen Nebenmissionen sogar aktiv in die Rivalitäten eingreifen, um zum Beispiel einen besonders mächtigen Hauptmann aus dem Verkehr zu ziehen. Und sobald ihr denkt, ihr hättet genug davon, legt Monolith auf der zweiten Karte noch eine Schippe drauf und lehrt euch die Fähigkeit, einen Ork zu brandmarken und ihn somit gewissermaßen auf eure Seite zu ziehen. Handelt es sich um einen Hauptmann, könnt ihr ihn darauf ansetzen, einen anderen Hauptmann, vielleicht einen gefährlichen Leibwächter eines Häuptlings, auszuschalten und somit selbst zum Bodyguard aufzusteigen. Wenn dann die Zeit reif ist, startet ihr euren Angriff und der Häuptling endet, wenn ihr alles richtig macht, mit einem Messer im Rücken und eure Marionette nimmt seinen Platz ein.
"Es ist ein beinahe irrwitziges Machtgefühl, wenn man seine Möglichkeiten endlich in vollen Zügen auskostet."
Auch im restlichen Spiel hinterlässt das Brandmarken deutliche Spuren und verschiebt den Fokus von Heimlichkeit auf Heimtücke. Es ist ein beinahe irrwitziges Machtgefühl, wenn man seine Möglichkeiten endlich in vollen Zügen auskostet. Infiltration von Orklagern wird immerhin deutlich einfacher, wenn ihr alle Armbrustschützen auf den erhöhten Positionen rings um euren Zielpunkt kontrolliert. Später gelingen Brandmarkungen sogar im Kampf, was die Massenschlachten, die gerade in Festungen auf ungute Art eskalieren können, zu euren Gunsten kippen lässt. An der Seite seiner eigenen Ork-Armee zu kämpfen, das ist einem nicht alle Tage vergönnt.
Alles in allem ist das sogenannte Nemesis-System eine große Bereicherung und ein Vorbild für alle Entwickler vergleichbarer Spiele. Ihr setzt euch mit euren Feinden auseinander, den einen oder anderen fürchtet man sogar, obwohl natürlich auch diese fürchterlichen Fratzen vor eurem inneren Auge irgendwann zu einem Brei aus Hauern, Haarbüscheln und grüner Haut verschwimmen. Trotzdem will ich ab sofort dynamisch generierte Hauptmänner in Assassin's Creed und Bandenkriege in GTA. Ich will künftig an den Stellrädchen dieser Welten drehen. In Mordors Schatten darf ich das zumindest ein bisschen, auch wenn es am Resultat und dem Verlauf der Geschichte nichts ändert.
Was die Basics angeht, ist das Spiel weniger überraschend, aber es erwischte mich dennoch auf dem falschen Fuß, wie gut das alles schon im ersten Anlauf funktioniert. Monolith wählte seine Prioritäten weise und liefert einen Titel, der abseits der Ork-Seifenoper wenig mehr können muss, als Schleichen und Kämpfe überzeugend in Szene zu setzen. Das Klettern erinnert an Ubisofts jährliche historische Messerstecherei, auch wenn es eine Idee weniger gut fließt - gerade bei Verfolgungen fliehender Feinde - und nicht so flexibel daherkommt. Da die Architektur vergleichsweise flach angelegt und simpel gehalten ist - die Jahrtausende waren nicht nett zu Mordors Ruinen -, ist das aber nie ein Problem. Far Cry wäre ein nächster Bezugspunkt, wenn man in einem Lager aus sicherer Entfernung einen Caragor aus seinem Käfig lässt, Monsterwespennester losschneidet oder Grogfässer und Lagerfeuer in die Luft jagt. All diese Hilfsmittel sind ein bisschen offensichtlich platziert, trotzdem ist es immer wieder unterhaltsam, sich an der einsetzenden Panik der Orks zu laben, die dieser indirekten Gewalt ausgesetzt sind.
"Sich aus hundert Metern Entfernung mit einem Geisterpfeil direkt an die Kehle eines Orks zu befördern, ist nicht nur in spielerischer, sondern auch rein technischer Hinsicht beeindruckend."
Sehr befriedigend ist auch das Kampfsystem, das zunächst mit satten Exekutions-Moves und unnachahmlich fliegenden Orkschädeln begeistert, um später dank eines gut durchkonzipierten Fertigkeitenbaums sogar ein bisschen zu berauschen. Sich aus hundert Metern Entfernung mit einem Geisterpfeil direkt an die Kehle eines Orks zu befördern, ist nicht nur in spielerischer, sondern auch rein technischer Hinsicht beeindruckend. Später verkettet man diesen Move zu irrwitzigen Kombos, nach denen der Rest der vor einer Sekunde noch blutrünstigen Uruk Hai mit panisch verzerrten Gesichtern die Beine in die Hand nimmt. Die Optionen im Kampf und beim Schleichen sind vielfältig - auch wenn in letzterer Kategorie mit arg kurzsichtigen Uruks doch ein wenig getrickst wurde -, gefallen aber auch in der Tiefe.
Klar, dass Monolith nicht alles gelingen konnte. Technisch steckt das Spiel auch auf PlayStation 4 ein bisschen zwischen den Generationen. Es beeindruckt nicht, sieht dafür sauber aus. Irgendwie hat man aber das Gefühl, dass bei der Qualität eine Performance oberhalb der absolut stabilen 30 FPS drin gewesen wäre. Die Orks sehen in Großaufnahmen fantastisch aus, ausgerechnet Hauptcharakter Talion jedoch - perfekt gesprochen vom allgegenwärtigen Troy Baker - ist wohl ohne Abstriche auch auf PS3 und 360 machbar. Doch das sind Kleinigkeiten, weil sie dem Spiel nicht im Weg stehen. Mehr gestört hat mich da schon, dass die mittelmäßig großen Karten Udun und Nurn nur spärlich mit Sehenswürdigkeiten oder Dingen zum Entdecken aufwarten. Sicher, das hier ist immer noch Mordor. Aber die vorherrschende graue beziehungsweise grüne Tristesse hätte man mit einigen zusätzlichen Resten eindrucksvollerer Bauten oder zumindest spannender zerklüfteten Felsenlandschaften deutlich interessanter und erinnerungswürdiger gestalten können. So ist es mit wenigen nennenswerten Ausnahmen stets nur einen Schritt davon entfernt, ein wenig langweilig auszusehen.
Hier überließ Monolith alles Weltenbildnerische sozusagen dem Buch, dem man wohlweislich nur so wenig wie möglich hinzufügen wollte und sich dabei fast zu sehr zurückhielt. Die Defizite in der Zeichnung des Szenarios zeigen sich auch und vor allem im Zusammenspiel mit der Handlung in der zweiten Hälfte des Spiels. In Nurn dient ihr einer Königin, deren Volk oder Thronsitz nie zu sehen ist. Wofür man kämpft, außer seiner eigenen Rache, ist hier nicht ersichtlich. Auch der Höhepunkt der Kampagne enttäuscht gleich mit zwei Bosskämpfen, auf die ich mich wirklich gefreut hatte, die sich dann aber fast von selbst lösen. Es hilft nicht, dass zuvor eine von mir erwartete gigantische Schlacht, auf die ich fünf Stunden hingearbeitet hatte, nur zwischen mir und einer geradezu lächerlich kleinen Anzahl an Uruk Hai ausgefochten wurde.
Doch das sind nicht die Erinnerungen, die ich aus Mordor mitnehme. Stattdessen denke ich immer noch an Bagabug Blutlecker, der jedes meiner Attentate überlebte und mir mit immer groteskeren Verstümmelungen nachstellte, bis ich seiner Besessenheit ein endgültiges Ende bereitete. Oder an Orthok Ohrensammler. Zweimal besiegte er mich, wechselte nach getaner Arbeit immer sein Lager und erlag letzten Endes seinem engsten Vertrauten, den ich meinem geisterhaften Siegel unterworfen hatte.
Open-World als Genre ist an einem schwierigen Punkt angekommen: Es ist alles gesagt, fast jeder bedient sich einer bequemen Schablone und nur die wenigsten sehen die Parallelen zum Jump 'n' Run Mitte der Neunzigerjahre, das sich im Wiederkäuen immer gleicher Mechanismen beinahe selbst abschaffte. Mordors Schatten hat nicht auf jede der Herausforderungen, die diese Gattung Spiel vor der Brust hat, die beste erdenkliche Antwort, zeigt Schwächen bei Weltengestaltung und Erkundung. Aber es demonstriert auch stichhaltig, wie man die Bewohner dieser Welten wenn schon nicht zu glaubwürdigen virtuellen Lebewesen, dann zumindest zu interessanteren Automaten machen kann.
Es stimmt, man spaziert nicht einfach nach Mordor. Aber wenn man wie Talion ohnehin schon dort ist, wie die Spinne im Netz sitzt und ein paar Köpfe rollen lässt, verbringt man dort eine überraschend gute Zeit.