Natural Selection 2 - Test
Natürliche Auslese beginnt bei der Bereitschaft, ein Spiel zu lernen.
Die Geschichte von Natural Selection 2 ist beinahe so bemerkenswert wie das Spiel selbst. Vor zehn Jahren fand eine Gruppe Modder mit einer Half-Life-Modifikation gleichen Namens - nur ohne Zwei dahinter - großen Anklang in einer überschaubaren, aber leidenschaftlichen Fangemeinde. Die Mischung aus stark asymmetrischem Marines-gegen-Aliens-Shooter und Echtzeitstrategie war bis dato einzigartig und ist es im Grunde noch heute. Die Idee, einen Spieler die Rolle des Kommandanten einnehmen zu lassen, gab und gibt so viel her und sollte eigentlich deutlich weiter verbreiteter sein.
Wen wundert es da, dass Unkown Worlds diese Hochzeit zweier grundverschiedener Genres für fähig hält, auch einen Stand-Alone-Titel im Untere-Mittelklasse-Preissegment zu tragen? Mich nicht, und euch, wenn ihr etwas auf clevere Shooter gebt, auch nicht. Das Problem ist nur, dass dem Entwickler finanziell und in Sachen Manpower mehrfach gefährlich die Puste ausging, woraufhin ihnen die Community durch das Erstellen zusätzlichen Contents aufopferungsvoll unter die Arme griff. Ganze Maps, komplette Abläufe und Mechanismen gehen direkt auf den Beitrag der Fans zurück und es ist daher nur passend, dass sich auch das Spielen von Natural Selection 2 immer wie ein Gemeinschaftsprojekt anfühlt.
Das bringt natürlich auch mit sich, dass dieses Spiel keine Helden kennt. Selbst wenn man als letzter Marine einer gewaltigen Attacke auf eine von Alien-Zysten überwucherte Anlage übersteht und dem Team damit ein Zeitfenster öffnet, in diesem Sektor die Stromversorgung wiederherzustellen: Nur wenige Sekunden später schickt ihn ein deckenkrabbelnder Skulk mit einem beherzten Sprung ins Genick wahrscheinlich zum Respawn-Portal in der Zentrale zurück. Das Opfer wird es wert gewesen sein, nur leistet es hier jeder Spieler pro Partie dutzendfach. Du bist nichts, dein Corps ist alles, denn wie in jedem guten Monsterfilm ist ein einzelner Spieler ein toter Spieler.
Noch am ehesten in der Position, zu so etwas wie einem Matchwinner zu avancieren, ist der Commander, der sich aufseiten der Menschen zu Beginn einer Runde in seiner gepanzerten Telefonzelle verschanzt und das Geschehen fortan aus der Vogelperspektive verfolgt. Geht man davon aus, dass sich die Fußsoldaten auf beiden Seiten in ihrer Spielstärke nichts nehmen, gewinnt und verliert der Mann in der Blechkiste (respektive dem eidotterartigen Schleimsack) das Spiel ganz allein. Es liegt an ihm, den Spielern zu sagen, wo es gerade brennt und die Marschroute festzulegen. Seine Sensoren verraten ihm, wo der Gegner anrückt, er sieht, wie sich Truppenungleichgewichte auf der Karte verteilen, und muss darauf reagieren. Alle vom Kommandoposten 'Smelting' nach Lava beordern, um dort die beiden Ressourcen-Punkte zu sichern? Oder sollen wir diese schwer zu verteidigende Hotzone meiden, und dafür kleinere Räume nach und nach einnehmen? Und wie kann es sein, dass in 'Terminal' schon wieder der Strom ausgefallen ist? Kann mal einer nachsehen? Ein guter Commander liest die Situation und trifft die schwierigen Entscheidungen.
If you can't stand the heat …
Das erste Mal die Rampe der Kanzel hinaufzugehen, kostet einiges an Überwindung, so groß ist die Verantwortung.
Doch nicht nur das. Wie in StarCraft und Konsorten platziert der Commander sogar neue Anlagen, Teleporter, Waffenläden und Ressourcensammler in den Räumen, in denen die Soldaten die Energieversorgung reparieren konnten. Allerdings ist er auch immer darauf angewiesen, dass seine Untergebenen sich auch an die auserkorene Baustelle bewegen und dort die Schweißbrenner schwingen. Und obwohl der Alien-Boss sich darüber freut, dass seine Bauwerke einfach so aus dem organischen Matsch wachsen, den er platziert, steht auch er regelmäßig vor dem Dilemma, zu entscheiden, ob und in welche Upgrades er die gesammelten Team-Mittel investiert und wie viel er auf die Verteidigung der eigenen Stellungen verwendet. Es ist ein stetiges Abwägen zwischen Angriff und Verteidigung, Stärkung des Bestehenden und Expansion. Und dann muss man auch über das Auge verfügen, günstige Gelegenheiten zu erkennen - und über den Willen, in diesem Moment zuzuschlagen. Das erste Mal die Rampe der Kanzel hinaufzugehen, kostet einiges an Überwindung, so groß ist die Verantwortung.
Zu Felde sieht das, wie schon angeklungen ist, ein wenig anders aus. Gute Marines halten sich an die Kommandos und Wegpunkte des Kommandanten und tun was sie können, sind letzten Endes aber nicht wegen eines Killcount oder sagenhafter Rettungstaten hier. Trotzdem obliegt auch ihnen die Pflicht, sich mit den oft alles andere als selbsterklärenden Mechanismen des Titels auseinanderzusetzen. Beide Fraktionen könnten unterschiedlicher nicht sein und während man als Marine zumindest das standardmäßige, schnelle Run-and-Gun - mit leichtem Hang zum panischen Bunnyhopping, wenn ein Skulk einem zu nahe kommt - schnell intus hat und zu schätzen weiß, muss man das Spiel aufseiten der Kharaa fast noch einmal komplett von Neuem lernen.
Allein das Krabbeln an Decken und Wänden der standardmäßigen Krokodil-Aliens und die zahlreichen unterschiedlichen Attacken, die der Chef-Schleimer im heimischen Hive sitzend per Evolution zur Verfügung stellt, wollen ebenso erst verinnerlicht werden, wie die vielen Abkürzungen auf den Maps, die man dank der Lüftungsschächte nehmen kann. Dieser Lern-Prozess wiederholt sich für Alien-Spieler noch weitere vier Mal, denn mit den Evolutionsstufen der Monster kommen auch komplett andere Steuerungsmodelle zum Einsatz, wenn die bevorzugte Fortbewegungsmethode auf einmal ein zeitbeschleunigtes Ghosting oder gar freier Flug sind. Als außerirdisches Warzenschwein konzentriert man sich sogar komplett auf die Befestigung der eigenen Stellungen und das Heilen der Nebenmonster, während sich schon den Skulks mit Tarnungs-Upgrade dank der engen Lüftungsschächte mehr Möglichkeiten der Infiltration bieten, als den Marines lieb sein kann.
… stay out of the command center!
Und wo der Menschen-Commander bereits ein Spektrum an Geräten, Upgrades und Anlagen kennen muss, die jedem RTS zur Ehre gereichen würden, ist sogar das Vorgehen der Aliens bei der Expansion ein komplett unterschiedliches. Hier muss der Verantwortliche Zysten auf dem Boden platzieren, aus denen 'Infestation' wuchert, die wie bei StarCrafts Zerg bestimmt, wo gebaut werden kann. Reißt der grüne Schleimteppich an einer Stelle, stirbt der vom Hive abgeschnittene Rest ab, weshalb der Alien-Commander einen ganz eigenen Stresslevel zu spüren bekommt.
Ihr merkt schon, Natural Selection 2 hat eine steile Lernkurve, zu deren Erklimmung nicht jeder bereit sein dürfte. Plant trotz direkt aus dem Spiel zugänglicher Youtube-Tutorials und eines vollkommen frei begeh- und bebaubaren Explore-Modus zwei ganze Abende ein, bis ihr auch nur annähernd wisst, was auf einer Seite des Spiels los ist. Clevererweise schreibt das Spiel die Namen von Neulingen in grüner Schrift und die Community zeigt sich auch im Kampf noch hilfsbereit genug, um selbst auf dümmste Fragen nette und informative Hilfestellungen zu entgegnen.
Fairerweise muss man sagen, dass sich einige Partien sehr in die Länge ziehen können, besonders wenn die Commander auf beiden Seiten ihren Job nicht richtig machen. Dann ist es ein ewiges hin und her, ein Geben und Nehmen, das nie aufhört, während auf beiden Seiten reichlich Gebiete getauscht werden. Glücklicherweise haben die anderen Spieler jederzeit die Möglichkeit, unliebsame Befehlshaber zu entmachten. Zusätzlich fehlt es hier vielleicht an einer alternativen Möglichkeit, den Sieg zu erringen, als nur die Auslöschung aller gegnerischen Kommandozentralen. Allein ein Zeitlimit wäre schon hilfreich.
Sechs Karten für bis zu 32 Spieler, mit haargenau einem Spielmodus und ohne spielergebundene Upgrades oder Skill-System mögen auf dem Papier nicht nach viel aussehen. Angesichts der Komplexität und des breiten Spektrums an Erlebnissen, die durch die intelligente Verzahnung dieser grundverschiedenen Genres möglich werden, bietet sich euch hier aber mehr als genug Inhalt, um über Monate hinweg zu unterhalten - zumal auch damit zu rechnen ist, dass das Spiel weiter wachsen wird. Die Mod-Community kann schon jetzt nicht mehr die Füße stillhalten …
Ganz im Geiste des Titels stellt die hohe Einstiegsschwelle ihre eigene Form von natürlicher Auslese dar. Wer nicht willig oder fähig ist, die Badass-Space-Marine-Heldentour für dieses Spiel abzulegen, trägt seinen Teil dazu bei, wenn ein Team mit Mann und Maus untergeht. Gleichzeitig ist es ein unglaublich befriedigendes Gefühl, auf Geheiß des Commanders im Verbund einen bestimmten Bereich zu stürmen, zu sichern und daraufhin durch aus der Zentrale ein erlösendes "Good job down there! We got 'em." zu hören. Kaum auszudenken, wie sich das für den Kommandanten anfühlen muss. Ich fürchte, ich habe noch nicht das Zeug dazu, freue mich aber darauf, weiter zu lernen und mit dem Spiel zu wachen. So, bin ich mir sicher, wird diese Form von intergalaktischem Darwinismus in ihrem eigenen kleinen, aber feinen Biotop noch lange gedeihen.