Neverwinter - das zerstückelte MMO für Bastelfreunde
Ladebalken und schnelle Kämpfe gab es am Beta-Wochenende reichlich. Nur Level-Editor und PvP fehlten.
Der erste Eindruck entscheidet - wird zumindest in der üblichen Ratgeberliteratur behauptet. Würde das zutreffen, bekäme Neverwinter den Stempel "MMO der Ladebalken". Die erste Karte besteht aus exakt einem NPC zu Pferde und ein paar Monstern. 30 Meter, dann steht mein Zwerg vor einem Tor und wechselt die Instanz. Selbst der trippelnde Winzling mit Rauschebart kommt da nicht aus der Puste. Ich weiß: Das Spiel steckt noch in der geschlossenen Beta. Und ja, später werden die Gebiete größer. Ist auch nicht mein erster Ausflug ins kommende Free-to-play-MMO nach Dungeons-&-Dragons-Regelwerk. Trotzdem, Cryptic, 30 Meter Fußmarsch zwischen zwei Ladebalken?
Der Charakter-Editor hinterlässt dagegen einen passablen Eindruck. Die typische High-Fantasy-Entourage steht zur Auswahl: Mensch, Zwerg, Halb-Elf, Elf, Halbling und Tiefling, in jeweils zwei Geschlechtern. Fraktionen gibt es keine. PvP-Freunde müssen sich mit Arenen begnügen, die man aber mittels Foundry-Editor sogar selbst erstellen können soll. Ausprobieren konnte man an diesem Wochenende leider weder PvP noch Foundry. Doch dazu später mehr.
Im nächsten Schritt sucht ihr euch eine von bislang drei Klassen aus: 'Trickserschurke', 'Glaubenskleriker' oder den 'Beschützenden Krieger'. Als Schurke seid ihr getarnt unterwegs, nutzt Köder, verlasst euch auf eure überlegene Geschwindigkeit und dürft Fallen entschärfen. Der Glaubenskleriker ist eine heilende Unterstützerklasse, die Feinde darüber hinaus verfluchen kann und Fernkampfzauber einsetzt. Als Fan schwer gepanzerter Tank-Klassen war der Beschützende Krieger für mich genau richtig: Mit meinem Schild blocke ich so ziemlich alle Angriffe (kann dafür nicht sprinten), fülle meine Lebensenergie mit entsprechenden Zaubern und darf Gegner herausfordern, damit sie meine Kameraden in Ruhe lassen. Außerdem beherrscht der Krieger das "Dungeoneering" und entdeckt dadurch geheime Durchgänge. Weitere Klassen wollen Cryptic und der Publisher Perfect World noch enthüllen. Habt ihr eure Berufung gefunden, würfelt ihr eure sechs Statuswerte zusammen und verbessert sie durch Völker-Boni. Danach verschiebt ihr die Cryptic-typischen Regler, um das Aussehen eures Recken anzupassen - von der Nasenspitze bis zur Länge der Fingernägel.
Um euren Charakter abzurunden, dürft ihr ihm eine Heimatstadt und eine rudimentäre Vergangenheit verpassen. Baldur's Gate, Amn, Netheril und andere Städte stehen dabei zur Verfügung. Was genau die Konsequenzen eurer Auswahl sind, konnte ich jedoch nicht ausmachen - vermutlich werden später Quests darauf Bezug nehmen. Eure Schutzgottheit hingegen erlaubt im weiteren Verlauf handfeste Buffs, sofern ihr regelmäßig an festen oder tragbaren Altären betet. Zur Wahl stehen elf Götter - jeder bietet spezielle Boni.
Neverwinter - im Salami-Format
Die Engine von Neverwinter unterscheidet sich auf den ersten Blick nur durch das Setting und ein paar Detailverbesserungen von Star Trek Online. Schönheitswettbewerbe gewinnt das MMO von Cryptic 2013 mit dieser Technik nicht mehr, dafür ist das Interface sehr aufgeräumt und intuitiv. Der integrierte Voice-Chat ist zum Beispiel eine nette Idee für Gruppenspieler - das bieten nicht viele MMOs. Besonders gefallen hat mir außerdem die subtile Wegfindungshilfe zum nächsten Questziel in Form einer einblendbaren Leuchtspur am Boden, auch wenn die Karten längst nicht so groß sind, dass man sich verirren könnte. Reittiere gibt es trotzdem. Die Spielwelt selbst ist in große und kleine Instanzen aufgeteilt - alles Schauplätze in und um Neverwinter. Vom Stadttor aus reist ihr bei Bedarf in diverse Außenbezirke, die ihr mittels Übersichtskarte anwählt. Die Stadt selbst dient als zentraler Hub, in dem ihr andere Spieler trefft und handelt. Dungeons sind eigene Instanzen, die ihr alleine oder mit einer Party in Angriff nehmt.
Eure Skills werden rund um die WASD-Tasten drapiert. Allerdings dürften sich Shortcut-Junkies bei nur zwei Standard-Moves, drei Slots für Spezialmanöver, zwei "Daily Powers" und drei Tränken im Gürtel akut unterversorgt fühlen. Neverwinter orientiert sich mit seinem Kampfsystem an TERA und anderen actionbetonten MMOs. Sogar eine Gamepad-Unterstützung ist mit an Bord. Das könnte bei etlichen Fans des Dungeons-&-Dragons-Regelwerks Sorgenfalten sprießen lassen. Cryptic hat damit eher den Massenmarkt im Blick als Pen-and-Paper-geprüfte Komplexitäts-Fetischisten alter Schule. Nicht einmal die Fähigkeiten muss man sich selbst aussuchen - jede Stufe bringt ein festes Kontingent an automatisch freigeschalteten Skills mit, die dennoch feinsäuberlich in drei Bäume sortiert wurden. Ihr müsst die neuen Fähigkeiten nur noch auf einen der knappen Slots ziehen. Gelegentlich gibt es Statuspunkte und Bonuswerte aufzumotzen - nichts, was einen passionierten Rollenspieler ins Schwitzen bringt.
Doch obwohl das Kampfsystem auf dem Papier höchst dynamisch wirkt und die schicken Trailer anderes suggerieren, sollte man sich keinen Illusionen hingeben - auch Neverwinter wird kein Devil May Cry oder God of War. Kombos oder solche schicken Mätzchen sucht man hier vergebens. Euer Ziel im Fadenkreuz halten müsst ihr trotzdem und konstant in Bewegung bleiben, um Attacken auszuweichen. Rot markierte Bereiche solltet ihr tunlichst meiden, dort schlagen besonders heftige Zauber ein. Mit einem Schild in der Hand darf man sich außerdem nicht flankieren lassen. Etwas merkwürdig schien mir, dass gegnerische Pfeile und Wurfäxte offenbar immer ins Schwarze treffen, sofern sie nicht per Schild abgewehrt werden - das könnte aber auch an der aktuellen Beta-Version liegen.
Sehr nützlich war im Kampf der Gefährte, den man ab Stufe 15 per Quest zugeteilt bekommt und der parallel zu eurem Recken levelt. Ihr habt die Wahl zwischen einem Nahkampf-Tank, einem Heiler, dem Flächenschaden-Magier oder einem angriffslustigen Wolf. Man darf die NPC-Kollegen zwar nicht aktiv in der Gegend herumscheuchen und die Wegfindung war zum jetzigen Zeitpunkt durchwachsen, doch wenn man einen Begleiter wählt, der die eigenen Schwächen ausgleicht, hat man in Kämpfen gleich viel bessere Karten. So brutzelte mein Elfen-Magier munter Orks und Spinnen, während sich das Getier an meinem Schild die Zähne ausbiss.
Abenteuer im Eigenbau
Ansonsten herrscht MMO-Alltag. Für die üblichen Jagd- und Postboten-Quests durchforstet ihr feuchte Keller, brennende Häuser, Abwasserkanäle, Dörfer oder Wälder nach brauchbaren Items und Schätzen. Praktisch ist die Möglichkeit, durch Gegenstände für ein paar Minuten die Umgebungs-Spezialfähigkeiten anderer Klassen zu erhalten. Dann dürfen auch Kleriker Fallen entschärfen und Geheimwege öffnen. Solche Einlagen lockern die ansonsten recht linear geratenen Karten auf. Die Kämpfe halten bei Laune, sobald man eine höhere Stufe erreicht und ein paar Skills zur Auswahl hat. Doch auf Dauer droht Tristesse, wenn die Macher hier nicht ein paar knackige Rätsel nachschaufeln.
Praktisch ist die Möglichkeit, durch Gegenstände für ein paar Minuten die Umgebungs-Spezialfähigkeiten anderer Klassen zu erhalten.
Wobei Cryptic und Perfect World wohl durchaus bewusst auf das kreative Potenzial der Community setzen. Der Foundry-Editor war aktuell noch nicht in Betrieb, doch die Unterschiede zu der Quest-Schmiede aus Star Trek Online dürften nicht allzu gravierend ausfallen. Man klickt fertige Räume zusammen, verschiebt ein paar Einrichtungsgegenstände, platziert NPCs und Gegner, verteilt Dialoge, einen Start- und Endpunkt, sowie Übergänge zu anderen Instanzen - fertig ist die Quest. Stufe und Belohnungen werden automatisch angepasst. Die Missionen werden dann der Allgemeinheit über einen Katalog zugänglich gemacht und andere Spieler dürfen ihre Meinung per Sterne-Wertung und Review-Texten kundtun.
Ob ein Dungeon-Master-Modus irgendwann seinen Weg ins Spiel findet, bleibt hingegen unsicher. In der Theorie könnte man dadurch seine Freunde als Spielleiter in Echtzeit mit spontanen Monster-Spawns oder improvisierten Dialogen erfreuen, wie man das in Neverwinter Nights dank des DM-Clients konnte. Zu früheren Gelegenheiten gab es zwar Andeutungen seitens Cryptic, jedoch nichts Konkretes.
Handwerklich hinterlässt die geschlossene Beta von Neverwinter einen ordentlichen Eindruck, auch wenn sich das Spiel bislang kaum von Konkurrenztiteln abhebt, was Quests und Design angeht. Das actionbetonte Kampfsystem gefiel mir nach anfänglichem Argwohn ganz gut und die NPC-Begleiter sind eine nette Idee. Rollenspielfans der alten Schule könnten sich freilich von der mickrigen Handvoll aktiver Skills etwas unterfordert fühlen. Die starke Instanzierung der Spielwelt wird auch nicht jedem gefallen. Dafür könnte der Foundry-Editor ein tolles Feature für Geschichtenerzähler werden. Die nächsten Beta-Wochenenden finden vom 8. bis 10 März und von 22. bis 24. März statt. Anmelden kann man sich auf der offiziellen Seite - mit etwas Glück landet dann ein Key im E-Mail-Postkasten. Käufer des Founders-Pack erhalten hingegen garantierten Zugang zur geschlossenen Beta und diverse Goodies zum Release.