Ni no Kuni 2: Level-5 macht das Beste aus dem Studio-Ghibli-Ausstieg
Etwas Eigenes.
Wer sich im Glanz anderer sonnt, läuft zugleich Gefahr, in deren Schatten zu verschwinden. Obwohl sie es der japanischen Bescheidenheit folgend wohl nie zugeben würden, können die Mitarbeiter von Level-5 vermutlich ein Lied davon singen. Vor ziemlich genau fünf Jahren veröffentlichte das Studio mit dem ersten Ni no Kuni eine mechanisch wie inhaltlich überaus robuste Vision eines modernen J-RPGs, eine sinnvoll gestraffte Definition des zuletzt eher maßlosen Genres, die auch heute noch gern über den Schreibtischen anderer Entwickler hängen dürfte.
Verhaltener Applaus und ein freundlicher Klaps auf die Schulter, viel mehr Anerkennung blieb in von Studio-Ghibli-Referenzen und -Lobhudeleien gespickten Texten kaum übrig. Eine ganze Branche taumelte besoffen vor Glück, von den Halbgöttern des Anime-Studios als würdiges Medium anerkannt worden zu sein. Neben dem vermeintlichen Ritterschlag der Totoro-Zeichner schrumpfte die Leistung der eigentlichen Entwickler nahezu auf die Rolle einfacher Erfüllungsgehilfen zusammen;. iIch jedenfalls habe den Begriff "dieses Studio-Ghibli-Spiel für die PS3" in den vergangenen Jahren ein paar Mal zu häufig gehört. Eine für jedes Studio frustrierende Angelegenheit, ganz besonders aber für eines mit derart hohen ästhetischen Ansprüchen wie Level-5, das derlei künstlerische Rückendeckung überhaupt nicht notwendignötig hatte.
Beweis A: Schicksal eines Königreiches. Das zweite Ni no Kuni entsteht ohne die Beteiligung des "japanischen Disney" und etwaige Kompromisse, die zwangsläufig mit einer Koproduktion einhergehen. Was der vorwärtsgerichteten Prämisse im Weg war, blieb beim Sprung aufin die nächste Konsolengeneration auf der Strecke, sodass die Zwei im Titel eher eine Marketingentscheidung als ein Indiz für eine geradlinige Fortsetzung ist. Diese Erkenntnis stellt sich allerdings nicht direkt nach zweieinhalb Trailern und einem knappen Intro ein, ganz im Gegenteil: Bis auf das blaue Blut in seinen Adern unterscheidet den zurückhaltenden Evan nicht allzu viel von seinem Vorgänger Oliver. Statt die Sorge um seine Mutter treibt den jungen Thronfolger die Einigung der zerstrittenen Königreiche auf einem Weg voran, an dessen Ende nicht nur bleibende Erinnerungen und neue Freundschaften, sondern vor allem sein herangewachsenes Ich steht. Das hier, so mein Eindruck nach knapp vier Stunden Spielzeit und Gesprächen mit einigen Synchronsprechern, ist mindestens ebenso sehr eine Coming-of-Age- wie eine Märchengeschichte.
Neben schrulligen Tiermenschen und anderen herrlich verschrobenen Zeitgenossen ist Evan zuvorderst auf seine Freunde angewiesen: ein schroffes, aber herzliches Muskelpaket, eine wilde Räubertochter und damit weitestgehend ein Stelldichein charmanter Stereotypen, wäre da nicht Roland. Den als zweiten Protagonisten inszenierten Begleiter umgibt eine geradezu außerweltliche Aura, sowohl im übertragenen Sinne als auch unmittelbar. Seinen Bewegungen sind weniger ausladend, seine Gesichtszüge realistischer und seine ganze Erscheinung keine, die man in einer Welt voller anthropomorpher Mäuse und katzenohriger Könige erwarten würde. Einige Kollegen vermuteten hinter seiner unnahbaren Fassade bereits einen Besucher aus der Realität, ein charaktergewordenes Augenzwinkern Richtung des ersten Ni no Kuni also, in dem Märchenwelt und Realität ebenfalls eher über- als nebeneinander lagen. Es würde mich nicht wundern, stellten sich ihre Spekulationen in reichlich einem Monat als wahr heraus.
Dass Schicksal eines Königreiches keine gezeichneten, den filigranen Federn der Studio-Ghibli-Animatoren entsprungenen Sequenzen zum Vorantreiben seiner Geschichte nutzt, ist bei alldem noch die gravierendste stilistische Abkehr vom Vorgänger. Wenn Bandai Namco also gebetsmühlenartig die Eigenleistung von Level-5 hervorhebt, ist das ganz sicher keine Lüge. Andererseits entspricht die betörend schöne Welt des Rollenspiels nicht ganz zufällig dem, was normalerweise nach der ikonischen Totoro-Silhouette folgt: Die ohnehin nicht um begabte Grafiker verlegene Truppe von Level-5 hat hierfür Unterstützung von einigen ehemaligen Ghibli-Mitarbeitern erhalten, allem voran Charakter-Designer Yoshiyuki Momose und Komponist Joe Hisaishi.
In jedem Pixel bricht sich diese geradezu verschwenderische Anhäufung von Talent bahn. Ni no Kuni 2 ist ein Gemälde von einem Spiel, eingebettet in einemn traumhaften akustischen Rahmen. Das eine würde auch ohne das andere funktionieren, doch erst das Zusammenspiel ergibt eine ähnlich magisch-wohlige Erfahrung, wie sie auch den besten Disney- oder eben Studio-Ghibli-Filmen zu eigen ist.
Doch steckt hinter dieser zauberhaften Kulisse so viel mehr - vor allem mehr Veränderungen, als ein flüchtiger Blick erkennen ließe. Nun konnte man bereits dem Vorgänger nur wenig vorwerfen, doch kristallisierte sich damals schließlich so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner der "Kritik auf hohem Niveau" heraus: das gemütliche Kampfsystem. Monster wie Menschen folgten brav einer festgelegten Reihenfolge und gingen zugweise in die Offensive über, ohne große Überraschungen oder etwas Pepp, der das Ganze über "Nett, aber 1998 hat angerufen und möchte sein J-RPG-Kampfsystem zurück"-Niveau hievt. In Zeiten, in denen andere Entwickler überholte Mechaniken als augenzwinkernde Hommage kaschieren wollen, wäre es ein Leichtes gewesen, dem nostalgisch verblendeten Retro-Trend mit einem klassischen rundenbasierten Kampfsystem erneut zu folgen. Level-5 jedoch wirft nahezu alles Bekannte über Bord und haucht seinen Auseinandersetzungen genauso viel Leben und Energie ein wie seiner vor Intensität vibrierenden Spielwelt.
Zu dritt stürmt Evans Trupp ungleich mehr Feinden entgegen, einer Übermacht, die zu dezimieren Zusammenarbeit erfordert. Mit leichten und schweren Nahkampfangriffen, Zaubersprüchen, Distanzattacken und Ausweichmanövern geht das hier sowohl in Varianz als auch spielerischem Anspruch ein gutes Stück über vergleichbare Tales-of-Kämpfe hinaus. Äußerst geschickt wandelt Level-5 auf dem schmalen Grat zwischen klassischem J-RPG und fetzigem Action-Rollenspiel, eine Mischung, die wir viel zu selten zu Gesicht bekommen.
Ein derartiges Maß an ausladender Verspieltheit ist abseits der Kämpfe jedoch beileibe kein Merkmal von Ni no Kuni 2. Vielmehr hält euch Evans Reise an der kurzen Leine, ohne deswegen notwendigerweise die Komplexität zurückzuschrauben. Dieses Abenteuer ist ein überaus fokussiertes und nicht daran interessiert, eure Spielzeit mit übermäßig vielen Ablenkungen nach oben zu treiben. Eine von Schnellreisepunkten übersäte und in ihren Abmessungen überschaubare Weltkarte führt euch zumindest während der ersten Spielhälfte rasch von einem Highlight zum nächsten, so ihr es denn wünscht. Erwartet kein Dutzend versteckter Dungeons am Wegesrand, sondern eine liebevoll kuratierte Checkliste erinnerungswürdiger Momente.
Derlei Zerstreuung lagern die Entwickler in zwei untypische, aber ins Narrativ des geeinigten Königreiches mehr als gut hineinpassende Konzepte aus. Oder anders: Wenn Bandai Namco in Pressetexten damit wirbt, euch "ein neues Königreich gründen" zu lassen, ist das durchaus wörtlich gemeint. Im Kingdom-Modus nämlich zieht ihr buchstäblich euer eigenes Herrschaftsgebiet hoch, baut verschiedene Gebäude und erweitert eurer Schloss sukzessive von einer baufälligen Bruchbude hin zu dem Palast, der einem König zusteht. In Nebenquests angeheuerte Charaktere arbeiten fortan in den errichteten Häusern, forschen an neuen Zaubersprüchen, verkaufen euch Waffen und bieten zudem diverse Vorteile für euer Militär, derie zweiten zentralen Säule des optionalen Zeitvertreibs.
Nach dürftigen zwei Runden in den Echtzeitstrategie-artigen "Massen"schlachten des Skirmish-Modus kann ich Alex' Eindrücke im vergangenen Jahr lediglich um ein wenig Skepsis ergänzen. Das Stein-Schere-Papier-Prinzip ist mit gnubbelköpfigen Truppenverbänden ebenso unverwüstlich wie andernorts, in seinen überschaubaren Möglichkeiten aber auch nichts, was man nicht ebenso gut auf ein Free-to-play-Smartphone-Spielchen auslagern könnte. Nicht auszuschließen, dass dieser Modus mit zunehmender Spielzeit immens an Komplexität und Anspruch zunimmt. Allerdings war es noch nie ein sonderlich gutes Zeichen, wenn Entwickler beschwichtigend erklärten, man könne ihre Spiele auch durchspielen, ohne eine Minute in optionalen Modi wie diesen zu verbringen. Schlimmstenfalls sind die Skirmish-Partien damit ein ungenutzter Menüpunkt innerhalb eines ansonsten fortschrittlichen wie hinreißenden Rollenspiels. Wer solche Spiele macht, braucht keinen fremden Glanz, in dem er sich sonnen müsste.
Es dürfte eine ambivalente Mischung aus Erleichterung und Anspannung gewesen sein, die sich in das kollektive Seufzen mischte, das nach dem Ende der Studio-Ghibli-Zusammenarbeit durch die Level-5-Büros hallte. Doch obwohl die Einflüsse des überlebensgroßen Anime-Filmstudios noch immer zu spüren sind, scheint es, als hätten die japanischen Entwickler geradezu auf diese Gelegenheit gewartet, ihre ganz eigene Vision dieser Märchenwelt zu präsentieren.
Schicksal eines Königreichs ist seinem visuell überragenden Vorgänger mehr als gewachsen, ihm spielerisch sogar um ein paar Nasenlängen voraus, sofern ihm nach der ersten Hälfte nicht völlig unerwartet die Puste ausgeht. Damit ist Ni no Kuni 2 im traditionellen Sinne eine hervorragende Fortsetzung, die all die Schwächen seines Erstlings ausbügelt. Wer dermaßen viel Mut zur Veränderung mitbringt, ist jedoch noch viel mehr: einzigartig.
Entwickler/Publisher: Level-5 / Bandai Namco - Erscheint für: PS4, PC (digital) - Geplante Veröffentlichung: 23. März - Angespielt auf Plattform: PS4 Pro