Nier: Automata - Zurück in den Wahnsinn
Elche reiten ist besser als GTA 5.
Bis zu Final Fantasy 15 hatte ich einen Aspekt, den ich an japanischen Spielen immer schätze, zu einem guten Teil abgeschrieben: den kompletten Wahnsinn, der in manchen Spielen zu wohnen schien. Der eine bleibende Erfahrung daraus macht, genau dieses Spiel zu spielen, und trotzdem alles irgendwie zusammenhält. Wie eine explodierende Sonne, deren Schwerkraft trotzdem weiter funktioniert. Totales Chaos und klare Linien.
Final Fantasy 15 brachte viel davon zurück. Das Spiel ist das, was Experten anderer Länder mit dem Fachterminus batshit-crazy bedenken würden, und trotzdem ist es ein funktionierendes, gutes Spiel. Geht also doch noch. Square Enix will das offensichtlich noch mal toppen, so viel war nach zwei Stunden mit Nier 2, oder vielmehr Nier: Automata, sonnenklar. Taro Yoko als kreativer Geist mit komischer Maske und Platinum Games, die hier nicht im Lizenzspielmodus, sondern mit voller Hingabe bei der Sache sind, scheinen ein Traumteam. Der eine ist irre, der andere kann das sinnvoll nutzen.
Wieder habt ihr eine wilde Mischung, die dafür sorgt, dass man Nier nach wie vor in keine Schublade packen kann. Mancher sagt Shoot-'em-up. Wer in der nächsten Szene prügelt, meint, einen Brawler vor sich zu haben, nur dass man es eben auch als Run-and-Gun spielen kann. Schließlich befindet ihr euch irgendwann im Open-World-Third-Person-Modus. Dann kommt mal zwischendurch etwas, das eine Art Jump-and-Run ist, aber nicht wirklich. RPG-Elemente ziehen sich durch alles und wer weiß im Angesicht des hinreißenden Chaos des ersten Teils schon, was da in Stunde 3 und den folgenden noch kommen mag. Es ist Nier, fassen wir es einfach so zusammen.
Es fühlt sich zu keiner Sekunde nach etwas an, das verzweifelt in Richtung des Kult-Hits - im Sinne von "nur Eingeweihte kauften es" - schielt und krampfhaft wie sein Vorgänger sein möchte. Schon das Design fühlt sich deutlich anders an. Futuristischer, etwas weniger entrückt und leerer auf eine gute Art. Mal wieder eine seltsame japanische Apokalypse, die da abläuft und bei der sicher wieder nichts ist, wie es scheint. "Glory to Mankind", was auf der immer in auffälligem Schwarz-Weiß gehaltenen Hub-Raumstation im Erdorbit gerufen wird, klingt verdächtig. Zu verdächtig. Was läuft da oben?
Den Antworten kam ich in der Zeit nicht näher und ehrlich gesagt waren sie im Angesicht dessen, was folgte, auch nicht lange das Interessanteste. Viel seltsamere Sachen passierten. Die mülleimerförmigen Maschinenwesen, die eure Feinde sein sollen, nahmen plötzlich den Platz eines großen Fragezeichens ein. Ich spoilere nichts. Es war eine der seltsamsten Szenen, die ich je in einem japanischen Spiel gesehen habe, und das will was heißen. Es gab hier noch keine Antworten. Nur große Fragen. Bestimmt auch was mit Moral und so. Aber meine Fresse, war das surreal, was ich da sah. Nier halt.
Im chaotisch-brillanten Design stimmt also alles von vorn bis hinten und lässt "Japan!!" aus jeder Pore tropfen. Was die handwerkliche Seite angeht, scheint Platinum aber gleichfalls alles im Griff zu haben. Die nicht zu knappen Kämpfe spielen sich interessant und dank fester 60 Frames auch flüssig. Ihr habt zahlreiche Moves, das Wechselspiel aus Fern- und Nahkampf bietet genug Variation. Während jedoch das Schwertgefuchtel recht konventionell scheint - so konventionell es ist, mit einem femininen, halbnackten Androiden ein Monster-Katana zu schwenken -, das Ballern ist eigen. Euch begleitet immer eine kleine Drohne und diese schwebt einen Meter links oder rechts von euch. Sie ist es also, die schießt. Zu zielen und dieses von der Perspektive des Spielers aus versetze Geschütz zu lenken, das ist eigen. Es funktioniert, sehr gut sogar, aber es passt eben auch zu Nier, wo ja alles gerne ein wenig anders ist.
Dazu habt ihr noch einen weiteren Begleiter im Schlepptau, der dank solider KI weitestgehend sein eigenes Ding macht und um den ihr euch zumindest in dieser Startphase gar nicht weiter kümmern müsst. Noch mehr Feuerkraft gefällig? Nier gönnt sich ein wenig Dark Souls, indem ihr nach dem "Tod" eure sterblichen Überreste suchen und als KI-Zombie wiederbeleben könnt. Das hat sogar Sinn, denn ihr "speichert" nicht nur an bestimmten Punkten - Autosave ist für westliche Langnasen -, sondern ladet eine digitale Kopie der Heldin auf die Raumstation zurück. Sollte es euch dann erwischen, startet ihr dort in einem neuen Körper, während auf der Erde die Reste herumliegen.
Nier: Automata ist voll von solchen Ideen. Da ihr einen Androiden habt, gibt es statt Fertigkeiten neue Programme zu installieren. Speicher ist aber auch in dieser Zukunft nicht unendlich, also müsst ihr euch entscheiden, was ihr verbessert, was ihr installiert, und vor allem dürft ihr eines nie tun: das Betriebssystem rausnehmen. Das geht, es steht im Speicherblocksystem drin und zieht ihr es raus, fällt der Androide um und muss neu installiert werden. Es kann sogar passieren, dass ihr als zu unfähig klassifiziert werdet und man sich nicht die Mühe macht, euch wiederzubeleben. Aber keine Sorge, das hat nichts mit dem Schwierigkeitsgrad zu tun, der zumindest auf normal recht moderat daherkommt. Es ist nur einer von vielen schrägen Witzen, befeuert vom schrägsten Humor, den die Branche zu bieten hat. Nier halt.
Dazu steckt das Spiel voller Geheimnisse, sowohl handlungsseitig als auch in all dem Zeug, das man machen kann, das aber erst mal gar nicht offensichtlich ist. Die feindlichen Roboter auf dem Planeten lassen die Tiere in Ruhe und mit einem Köder könnt ihr sie sogar anlocken und, wenn sie sich dafür eignen, reiten. Elchreiten rocks!!, sage ich euch. Besser als GTA 5! Einfach das Geweih senken, Hufe geben und selbst durch große Roboter fetzen. Es gibt viele solcher kleinen Zeitvertreibe, mal mit mehr, mal mit weniger Sinn. Dass der irrsinnig gute Soundtrack - zumindest, was davon in den ersten Stunden zu hören war - wieder diese melancholisch tragende, sphärische Stimmung mitbringt und eure Otaku-Seele mit seltsamer Kunstsprache zum Klingen bringen kann, beweist die Juke-Box in einem Camp. Sie ist der ultimative In-Game-Soundtest, mit Liebe und Hingabe gestaltet, und das in dem vollen Wissen, dass sie nur von einem Bruchteil der Spieler frequentiert werden dürfte. Aber denen ist es wichtig und somit war es wohl auch dem Team wichtig, das Bestmögliche zu liefern. Und was die Geheimnisse angeht… Es gibt diese Dinge, die man manchmal irgendwoher hört. Und wie das hier klingt, könnt ihr euch auf sehr viel Zeit mit Nier einstellen, wollt ihr dieses Spiel WIRKLICH erleben, nicht einfach nur einmal schnell durchspielen.
Nier: Automata dürfte wohl das japanischste der Japan-Spiele dieses Jahres werden, und das aus all den richtigen, den besten Gründen. Sie haben es nicht verlernt. Sie ist nur seltener geworden, diese Macht des J-Irrsinns, aber in diesem hier ist sie ohne Zweifel stark. Ein wenig wie ein durchgeknallteres Ghost in the Shell ohne Untertitel. Alles wurde reingelegt, dann noch mehr, dann wurde es auf 11 gedreht und zu allem Überfluss funktioniert es auch noch. Es ist die Yamato des japanischen Designs im Jahre 2017. Von den vielen, vielen, guten kommenden Spielen, die mir anzuspielen schon vergönnt war, das hier ist es einfach. Nier: Automata bringt alles ein, was den ersten Teil so eigen machte, zieht Dinge wie die Kämpfe gerade - in Platinum we trust!… manchmal - und dann beginnt es, fröhlich weiter Holz auf das Feuer des Wahnsinns einer aus den Fugen geratenen Spielwelt zu kippen. Gerade so viel, dass sie nicht im Chaos versinkt, sondern einen nach zwei wundervollen Stunden mit maximalem Enthusiasmus und dem unbedingten Willen zum Weiterspielen von dannen schickt. Wir sehen uns am 10. März, du irres Etwas!
Entwickler/Publisher: Platinum Games / Square Enix - Erscheint für: PlayStation 4, PC - Geplante Veröffentlichung: 10. März 2017 - Angespielt auf Plattform: PC