Night in the Woods - Test
Melancholischer Cat Content in Adventure-Form.
Habt ihr euch schon mal überlegt, wie es sich wohl anfühlen würde, in die Zukunft zu reisen, nur um dann festzustellen, dass sich alles zum Schlechteren verändert hat? Falls nicht und falls euch dieses Gefühl interessiert - es ist problemlos abrufbar. In Night in the Woods nämlich, einem Adventure, das aktuell zum Schönsten Gehört, was das Genre überhaupt zu bieten hat. Ihr spielt eine liebenswerte Katze, die das College nicht geschafft hat, nun zurück in ihre Heimatstadt kommt und irgendwie nicht so recht damit klarkommt, wie sich alles verändert hat. Die Eltern wirken älter, die ehemaligen Nachbarn nörgeln, ob ihr denn immer noch keinen Job gefunden habt, eure alten Kumpels betrachten euch trotz Versagen als arroganten Akademiker. Lohnt es sich, eine so unschöne Situation virtuell nachzuempfinden? Ja. Jede Sekunde davon.
Night in the Woods ist kein typisches Adventure. Rätsel stehen nicht im Vordergrund, das Spiel entpuppt sich eher als eine Art 2D-Erkundung einer hübschen Comic-Welt mit Minispielen. Solche vom Typus Guitar Hero beispielsweise, also einfach fixes Tippen von Buttons oder kurze Plattformer-Passagen. Im Gesamtkontext wirken solche Momente aber eher, als würde das Spiel einen nochmal daran erinnern wollen, dass es überhaupt eines ist. Abgesehen davon besteht es nämlich zu großen Teilen aus Dialogen. Eure Heimatstadt ist eigentlich ein freundlicher Ort, ihr seid wieder da, aber irgendwie passt alles nicht mehr. Entweder die Leute haben sich nicht weiterentwickelt oder ihr habt es nicht, auf jeden Fall passt ihr scheinbar nicht mehr zu dieser eigentlich netten, kleinen Stadt. Was kann da helfen? Mit der Mutter reden, eine Runde im Kinderzimmer schlafen? Probiert es aus.
Hab' ich schon erwähnt, dass ihr eine Katze spielt? Ihr spielt eine Katze. Und auch der Rest eurer Heimatstadt Possum Springs besteht aus anthropomorphen Tieren. Und ihr, ihr heißt übrigens Mae, macht, was Katzen halt so machen. Klettert beispielsweise auf Stromleitungen herum und hüpft über Dächer. Ich kenne in der Tat kaum ein Spiel, das mich sein Spielsein so sehr vergessen hat lassen wie Night in the Woods. Soll heißen: Normalerweise bin ich mir in Spielen immer recht klar, dass ich ein bestimmtes Ziel habe, das ich nun mal verfolgen muss um dem Ende näherzukommen. Das trifft sogar auf Open-World-Opern wie Fallout 4 zu oder meinetwegen das neue Zelda. Hier aber nicht. Night in the Woods lässt mich von Haus zu Haus herumhüpfen, mit den Leuten reden und irgendwie habe ich das Gefühl, ich sei tatsächlich gerade in mein verlassenes Heimatstädtchen zurückgekehrt und alle Leute seien während meiner Abwesenheit komisch geworden. Beinahe möchte ich mir mein Fell ablecken.
Die lebendige Welt hilft, dieses Gefühl aufrecht zu erhalten. Autos fahren über die Straße, freundliche Eichhörnchen hüpfen vom Baum zu Baum und wenn ihr wollt, könnt ihr sogar Ratten füttern. Das mag sich nicht toll anhören, in der wunderschönen Comic-Grafik des Spiels sieht das aber so herzerwärmend niedlich aus, dass ihr es einfach tun wollt. Und das Spiel gibt euch das Gefühl, dass ihr all das auch wirklich erlebt, weshalb Mae kleine Zeichnungen in ihr Tagebuch macht, dort beispielsweise Vater und Mutter skizziert. Das ist teils so rührselig, man möchte vor Freude beinahe weinen.
Welches Ziel hat das Spiel nun eigentlich? Naja - keines, so richtig. Ihr dürft Night in the Woods nicht angehen wie Call of Duty oder Starcraft 2 oder auch Monkey Island. Denkt anders. Macht euch einen schönen schwarzen Tee, macht ein bisschen Honig rein und dann verschreibt euch selbst ein bisschen Wohlfühlzeit. Klebt euch vor den Monitor und erlebt diese tolle Zeichentrickwelt, ohne ein Ziel zu haben. Springt über Dächer, versucht, die kleinen Geschichten eurer ehemaligen Bekannten rauszufinden, aber macht euch frei von Dingen, die ihr tun müsst. Die gibt es zwar auch, nicht aber hauptsächlich. Balanciert über Stromkabel, vertieft das Verhältnis zu euren Eltern und schreibt euch so selbst die Geschichte, die ihr bei anderen Spielen einfach erwartet.
Das fällt relativ leicht. Weil ihr nämlich Dinge erlebt, die jeder kennt. Freunde, mit denen ihr euch auf einmal nicht mehr versteht, Verwandte, deren Position euch auf einmal viel näher ist als ihr je befürchtet habt. Night in the Woods bearbeitet Themen, die vielen vor nicht allzu langer Zeit erwachsen Gewordenen bekannt vorkommen dürften. Und es macht gerade deshalb bisweilen melancholisch, traurig sogar, ist aber auch für den einen oder anderen Lacher gut. Wenn die Katze sich beispielsweise wundert, warum der Wellensittich im Käfig immer noch lebt, ist das auch deshalb ein schöner Moment, weil ich mich vor dem Bildschirm gerade das gleiche frage. Ein Vogel hat in einem Haus voller Katzen doch eigentlich keine so große Überlebenschance.
Neben vielen, vielen sehr persönlichen Momenten hat das Spiel auch eine politische Komponente. Night in the Woods thematisiert allegorisch den amerikanischen Rust Belt, jenes Gebiet also, das unter dem Niedergang der Eisen- und Kohleindustrie der USA heute am meisten zu leiden halt. Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit bestimmen das Lebensgefühl. Eine Situation, die den passenden Nährboden bietet für etwas dunklere Geheimnisse, die es unter der Oberfläche des tristen Alltags dann eben doch zu entdecken gibt. Wenn eine Stadt im Sterben liegt, geht das an ihren Bewohnern nicht spurlos vorüber.
Dieses Spiel in irgendeiner Form zu bewerten, ist wirklich nicht leicht. Wer gerne Spiele spielt, weil er Erfolgserlebnisse will, wird hier keinen Spaß haben. Spielfortschritt spielt keine zentrale Rolle. Wer aber gerne auch einfach mal eine Spielwelt erforscht, wird mit Night in the Woods seine wilde Freude haben. Es ist ein Spiel für alle, die sich gerne emotional berühren lassen, denen Geschichte über Mechanik geht, die aber gleichzeitig kein Problem damit haben, mit überraschend simplen Sidescroller-Momenten ein bisschen Spaß zwischendurch zu haben. Night in the Woods ist Erzählung und Mechanik, aber beides streng getrennt. Wenn ihr irgendwem zeigen wollt, dass Computerspiele heute mehr sein können als Geballer, Krieg und Mord - das ist das perfekte Beispiel.
Entwickler/Publisher: Infinite Fall/Finji - Erscheint für: PS4, Windows, Mac, Linux - Preis: 19,99 Euro - Erscheint am: erhältlich - Getestete Version: PC - Sprache: englische Bildschirmtexte - Mikrotransaktionen: Nein