Nightingale: Das schönste Survival-RPG sägt ab jetzt an Enshroudeds Thron
Unendliche Welten...
Ich bin mir sicher, alle Beteiligten haben sich das dezent anders vorgestellt. Niemand konnte wissen, wie sehr Enshrouded die Survival-Crafting-Welt schon Ende Januar für sich einnehmen würde, allen voran Keen Games selbst. Und nun kommen Inflexion Games, die mit Aaryn Flynn immerhin Bioware-Adel in den Reihen ihrer Gründer haben, auch schon mit einem vergleichbaren Titel daher, der auf moderne Unreal Engine 5 Grafik setzt und mit einem kreativen Weltenwandel-Ansatz von sich reden macht. Ich weiß ja, dass wir 2024 ein Schaltjahr haben, aber wann soll man das alles spielen?
So oder so, nachdem sich Enshrouded mittlerweile über zwei Millionen Spieler freut, und es gestern in der Spitze über 50.000 Leute zugleich auf Steam zockten, war es durchaus überraschend, dass Nightingale schon am ersten Abend beinahe gleichzog. Fans offener Crafting-Welten haben gerade gut lachen – wenn sie nicht gerade ratlos sind, von welchem dieser Zeitfresser sie gerade lassen sollen.
Wie unterscheidet sich Nightingale von Enshrouded?
Der Unterschied zwischen Nightingale und Enshrouded liegt hauptsächlich in der Prämisse, die Auswirkungen auf den kompletten Spielverlauf hat. Während Enshrouded in einer großen, handgemachten Ritter-und-Zauberer-Welt spielt, die man Stein um Stein abtragen kann, dreht sich im “Gaslampen”-Fantasy Nightingale alles darum, mithilfe sogenannter “Weltenkarten” Portale zu anderen Universen zu öffnen, die immer wieder neu prozedural generiert werden. Abgesehen von Dingen, die ihr abbaut, bleiben die Welten aber, wie sie sind.
Je nachdem, welche Art von Karten ihr nutzt, um ein Portal zu öffnen, erwarten euch andere Biome, Bewohner, Bedrohungsstufen und so weiter. Mit dem angeblichen Ziel, irgendwann den Weg zurück zur magischen Stadt Nightingale zu finden, nachdem die Erde einer mysteriösen Katastrophe zum Opfer gefallen ist. Wie ernst es einem Live-Service-Spiel wie diesem damit ist, euch Nightingale irgendwann finden lassen, kann ich bisher nicht sagen. Aber ich finde es schon jetzt wahnsinnig reizvoll, all die Parallelwelten zu entdecken, die hier drinstecken. Die ersten paar, die ich bisher sah, unterschieden sich optisch ganz gewaltig. Ich bin gespannt, welche Blüten das mit der Zeit schlagen wird.
Klar ist also, dass Nightingale in Sachen Erkundung deutlich experimentierfreudiger ist als Enshrouded, während der Frankfurter Crafting-Hit mit voxelbasiertem Bausystem kreativere Behausungen ermöglicht, davon abgesehen jedoch ein wenig berechenbarer scheint. Ach, und Enshrouded spielt man aus der dritten Person, während man Nightingale standardmäßig aus der Egoperspektive erlebt, wenngleich optional auch die Schulterperspektive angeboten wird. Das wären die Unterschiede im Kern.
Alles hängt zusammen
Das ist natürlich nicht alles. Im Detail fällt zum Beispiel auf, dass in Sachen kreativer Bauvorhaben Nightingale zwar nicht so ambitioniert scheint – statt auf einzelne Steinchen setzt Inflexions Spiel ausschließlich auf vorgefertige Bauteile –, aber durchaus ein paar interessante Kniffe auf Lager hat, damit das Ganze nicht trivial wird. Ich bin zum Beispiel ein großer Fan des an “The Forest” angelehnten Hausbaus: Ihr bastelt die Umrisse eurer Schöpfung als durchsichtigen Schatten in die Landschaft und werft dann die fehlenden Zutaten in den schemenhaften Platzhalter, bis eure Kreation schließlich fertig in der Landschaft steht. Man bekommt so schon vorher eine gute Vorstellung von seiner Schöpfung.
Vor allem aber mag ich, dass man seine verschiedenen Crafting-Stationen auf eine Weise positionieren sollte, die Sinn ergibt. Eine Werkbank wirft mehr ab, wenn sie im Hellen und auf festem Untergrund steht. Wärme und Wetterschutz wirken sich ebenso aus und so bleibt es nicht allein eurem Ästhetikempfinden überlassen, wo ihr etwas hinstellt. Auch können einzelne Werkstationen durch Erweiterungen verbessert werden. Und dass es zwar unterschiedliche Arten von Kristallen gibt, bei der Weiterverarbeitung aber ein Auge zugedrückt wird, welche Art man nun benutzen will, um etwa Glas daraus zu brennen, ist ein netter, logischer Zug eines Spiels, das offenbar an Korinthenkackerei nicht interessiert ist.
Der Rest ist dann halbwegs bekannt: Neue Anlagen und Rohstoffe erweitern, was ihr bauen könnt. Und eine Reihe an Quests, die leider ein wenig zu statisch und textverliebt daherkommen, verkauft euch das Ganze halbwegs überzeugend als zusammenhängendes Abenteuer mit einer klaren Vorstellung vom Universum, in die es euch entführen möchte. Axt, Messer, Spitzhacke oder dedizierte Waffen, wie etwa Armbrust oder Streithammer können allesamt im Kampf nützlich sein, je nachdem, für welche Art von Schaden die angegriffene Kreatur anfällig ist. So kam es mir jedenfalls vor. Allzu viel Finesse hat der Nahkampf zwar nicht, aber je nach Waffe blocken oder flink ausweichen zu können, ist ein guter Anfang.
Was sonst noch gut ist, an Nightingale – und was weniger
Ich gebe zu, neben dem Kartensystem zum Reisen zwischen den Welten geht der größte Sog von der Optik aus, für die Inflexion auf die Unreal Engine 5 zurückgriff. Einzelne Objekte sind zwar nicht unbedingt wegweisend in ihrem Detailgrad, aber die exotischen Panoramen, die der Weltengenerator auf den Bildschirm malt, verschlugen mir bisweilen die Sprache. Das hier will man spielen, sobald man es sieht. Es sieht mit seinen dezent stilisierten Figuren elfengleicher Proportionen und Kostümen aus Tweed und Rüschen fast ein wenig aus, als hätte Arkane sich an einem bastelfreudigen Survival-Titel versucht.
Cool auch, wie die zunehmend wilderen Kreaturendesigns mit der Zeit die Befremdlichkeitsstufe dieser Expedition ins Unbekannte eskalieren. Es ist ein hübscher Mix aus vertrauten und andersweltlichen Elementen. Von allen Spielen dieser Art, ist das hier jedenfalls eines der schönsten.
Aber: Das hier ist Early Access und das sieht man. Vor allem am Interface, das gern mal ein, zwei Klicks mehr verlangt, als eigentlich nötig wären oder Infos ohne Not hinter Buttons versteckt, darf Inflexion gerne weiter schrauben, ziehen und zuppeln. Die Textdichte ist ebenso nicht gerade aufregend und seit gestern bringt mich die Escape-Taste aus vielen Menüs nicht mehr zurück ins Spiel, was doof ist, wenn ich mitten im Kampf mal wieder das Inventar aufgerufen habe.
Die NPCs, die man rekrutiert, sind aktuell noch nicht wahnsinnig hilfreich – sorry, Charles! –, weil sie zwar Bäume fällen, die schweren Stämme aber liegen lassen. Sollte es ein Befehlsmenü geben, mit dem ihr ihnen Aufgaben auftragt, so habe ich es bisher nicht gefunden. Auch folgen sie oft nicht konsequent genug oder stürzen sich in ein Gefecht, auf das ihr keine Lust hattet. Immer und immer wieder sah ich Charles auch deutlich und ohne Scham dabei, wie er direkt in mein Sichtfeld teleportierte, nachdem wir kurz getrennt waren. Zweifellos ein früher Workaround für noch mangelnde Wegfindung der Begleiter. Aber in einem Spiel, dem so an Immersion gelegen ist, wie diesem, nicht gerade schön.
Trotzdem: Ein guter Anfang ist es. Das Weltenwandel-Gimmick scheint mir tragfähig, der grundlegende Spiel-Zyklus ist befriedigend. Wenn man erst mal drin ist, was nach dem vielen Text ein wenig dauert, übernehmen Neugierde und die Lust daran, unter diesem majestätischen Mond etwas wachsen zu sehen.