Obduction - Test
23 Jahre nach Myst geht das Konzept noch immer auf.
Da sind sie wieder, die Miller-Brüder Rand und Robyn, und beleben mal eben den Geist eines der bekanntesten Spiele aller Zeiten wieder. Obduction, das 2013 als erfolgreicher Kickstarter seine Reise begann, ist nichts anderes als ein Myst für das neue Jahrtausend, nachdem dessen letzter Teil 2005 noch zu sehr in der Vergangenheit verhaftet war. Ob sie vor drei Jahren schon ahnten, wie nah Obduction den Finger auf den Puls der Zeit legen würde?
Anno 2016 fühlt sich Obduction jedenfalls aktueller an denn je. Es vereint die Lust am Geschichtenerzählen und Erkunden mysteriöser Welten aus Spielen wie Ethan Carter und Everybody's Gone to the Rapture mit der Puzzleverliebtheit von The Witness, Talos Principle und Portal. So ganz aus dem Nichts kommt das nicht, zog doch jedes dieser Spiele die eine oder andere Lehre aus dem Werk der Millers. Was überrascht, ist jedoch die Selbstverständlichkeit, mit der Obduction in der heutigen Spielelandschaft seinen Platz einnimmt, ohne wie ein Fremdkörper anzumuten. Wir reden hier immer vom inoffiziellen Nachfolger eines Spiels, das großteils aus selbstablaufenden CG-Filmchen mit vereinzelten Realschauspielern bestand.
Nun, Obduction stützt sich zum Glück auf in Echtzeit berechnete Umgebungen, durch die man völlig frei gehen oder rennen darf, behält aber die Schauspieler bei, die sich dann und wann direkt an den Spieler richten. Wer mag, darf sich auch ganz klassisch wie auf Schienen durch die Landschaft klicken. Den technischen Unterbau hierfür liefert die Unreal-Engine 4, die den talentierten Weltendesignern heutzutage deutlich mehr an visueller Brillanz erlaubt als das rigide Prerendering-Verfahren von damals, das wir seinerzeit tatsächlich als State-of-the-Art empfanden. Ich bin nicht sicher, ob Cyan Worlds 1993 jemals gedacht hätte, dass ihre Spiele irgendwann mal so aussehen würden.
Ansonsten hat sich aber erstaunlich - und erfreulich - wenig getan. Hier dreht sich alles um eine exotische, fremdartig anmutende Welt, deren Apparate und Vorrichtungen ihr entschlüsseln müsst, um herauszufinden, warum ihr überhaupt hier gelandet seid. Was passiert ist? Nun, durch Raum und Zeit hinweg wurden verschiedene Menschen samt ihrer unmittelbaren Umgebung auf einen fremden Planeten verpflanzt und keiner weiß, wieso. Ein schönes kleines Landhaus samt weißem Zaun, Briefkasten und Vorgarten parkt nonchalant vor bläulich schimmernden Gesteinsformationen und einem fremdartigen Firmament. Eindeutig erdliche Wüstenstreifen durchziehen die Alienwelt, als hätten die Außerirdischen, die die Gegend um Area 51 unsicher machen, nicht nur Menschen, sondern ganze Landstriche gleich mit entführt. Für jemanden, der mit Outer Limits und Star Trek aufgewachsen ist, ist das eine einfach reizende Begrüßung.
Über allem eine blaue Kuppel, die das Ganze zu einem Gefängnis macht. Sie zu durchschreiten teleportiert euch nur an einen anderen Ort unter dieser intergalaktischen Käseglocke. Die anderen Menschen, die hier gelandet sind, sind so gut wie alle fort und sind nur als Projektionen zu sehen. Einzig Cecil, der Erfinder, der hier liebend gerne verschwände, spricht "live" durch die Glasscheibe einer Sicherheitstür mit euch und gibt Instruktionen. Wie gesagt, es handelt sich dabei um direkt abgefilmte Schauspieler, was aus der fantasievoll überzeichneten Welt zunächst ein bisschen unnatürlich heraussticht. Aber es sind gute Darbietungen, die sie liefern - der eröffnende Monolog allein ist regelrecht gänsehauterregend. Und wenn es mal mehr in Richtung Camp geht, passt das zu dem gewissen B-Vibe einer Alien-Entführungsgeschichte. Überhaupt sind die Realschauspieler ein sympathischer Spleen, den sich andere schon längst nicht mehr trauen.
Jeder Bereich, den ihr im Laufe der gut 15 Stunden erkundet, ist sein eigener, frei begehbarer Hub mit einer Reihe oftmals mechanischer Rätsel. Apparate, Schienenfahrzeuge und Laser wollen bedient werden, außerirdische Zahlenkominationen ausgetüftelt und Abkürzungen freigeschaltet. Letztere verschaffen angenehme Übersicht und minimieren die teils nicht ganz so kurzen Laufwege. Wann immer man mal wieder eine Treppe heruntergelassen hat, fühlt sich das wie eine echte Errungenschaft an, ein weiteres Hindernis liegt darnieder und ihr werdet mehr und mehr Herr dieser fremden Welt.
Die Rätseldichte ist nicht annähernd so hoch wie beispielsweise in The Witness - hier steht ein bisschen mehr das Erleben der Umgebung im Vordergrund -, aber es fühlt sich gut an, nach und nach die Fragezeichen aus dem bereitgelegten Notizblock zu radieren. Irgendwo macht man immer Fortschritte und sei es nur, weil endlich der Groschen fällt, welcher Teleporter wohin führt. Über den Ablauf kann man wie bei vielen Adventures streiten. Ich würde keines der Rätsel in Obduction als schlecht designt bezeichnen. Wenn, dann sind sie vielleicht eine Idee zu leicht. Aber sie sind häufig schon von der Sorte, bei der man ständig über Lösungen stolpert, zu denen man das zugehörige Problem noch gar nicht kennt. Das führt dazu, dass man ab und an rumprobiert, anstatt wirklich zu rätseln. Und wie die Hinweise verteilt und ihre Regeln aufgestellt sind, kann manchmal etwas beliebig erscheinen.
Ich will nicht zu viel darauf rumreiten, denn zum einen gibt es eine spielinterne Fotofunktion, die das alles ein wenig entschlackt, und zum anderen ist das eine Marotte, der sich dieses Genre als Ganzes schon seit Dekaden ausgesetzt sieht. Mich bürstet das vermutlich mehr gegen den Strich als viele andere, die sich längst daran gewöhnt haben. Erwähnt sein soll es trotzdem. Dennoch mag ich die allermeisten Rätsel hier, denn sie sind häufig von der anfassbaren und gut in die Welt eingebundenen Sorte. Zudem gibt es genügend Stellen, an denen es aufrichtig erquickend ist, zum Beispiel einen nur zwei Worte umfassenden Hinweis auf ein zuvor eigentlich als bedeutungslos erachtetes Umgebungsdetail zurückzuführen und auch noch Recht zu behalten. Mehrfach ertappt man sich dabei, wie man mit halboffenem Mund und versteinerter Miene minutenlang auf ein Problem starrt, während im Oberstübchen die Zahnräder rotieren. Es ist eine schöne, niemals wirklich zum Stehen kommende Mischung aus Grübeln und Staunen, die Cyan hier präsentiert.
Nicht alles gelang den Millers reibungslos - besonders die Eingabe einiger Alien-Zahlen an einem biomechanischen Display ist trotz der tollen Idee viel zu fummelig umgesetzt. Hier und da stören unsichtbare Wände die Erkundung oder bremsen Informationslawinen in Form von Lesematerial den Fluss. Aber das sind Unwuchten, mit denen man gut leben kann. Auch technisch gibt es hier und da Probleme. Das Spiel sieht gestalterisch und technisch sehr hübsch aus, die Ladezeiten zu Beginn und beim Wechsel zwischen Arealen sind jedoch viel zu lang. Einmal hing ich sogar so lange an einer Stelle fest, weil ein Areal nachgeladen wurde, dass ich dachte, das Spiel sei abgestürzt. Dazu lassen einige Effekte die Bildrate auf meinem i7 mit Geforce 980 selbst in 1080p deutlich unter die 60FPS rutschen. Aber das stört alles nicht lange oder häufig genug, als dass man es dem Spiel übelnehmen würde.
Am Ende kann man sich vor Obduction nur verneigen, auch wenn man nicht ganz genau weiß, in welche Richtung man nun den Knicks machen sollte: Ist es nun dem Genie der Millers geschuldet, dass sich ihr neues Spiel so nahtlos passend ins Jahr 2016 fügt, als wäre es schon immer da gewesen? Der Blaupause, die sie vor 23 Jahren erdachten? Den Entwicklern, die ihre Ideen seither weiterdachten? Oder dem bloßen Zeitgeist? Vielleicht ist das vollkommen egal. So oder so ist Obduction eine über weite Strecken faszinierende Reise in eine fremde Welt, die sich vielleicht nicht neu, aber unverändert frisch anfühlt. Verschroben und hochsolide zugleich strahlt dieses Spiel ein Selbstbewusstsein aus, wie man es sich eben aneignet, wenn man das einstmals erfolgreichste PC-Spiel überhaupt auf dem Kerbholz hat.
Entwickler/Publisher: Cyan - Erscheint für: PC - Preis: 29,99 Euro - Erscheint am: Erhältlich - Sprache: Englische Sprachausgabe, deutsche Texte - Mikrotransaktionen: Nein