Otherland - Vorschau
Heute Troja, morgen Ägypten und dann zurück nach Kansas, bevor der Zauberer einen findet
Vermutlich hat sich vor sechzehn Jahren ein Studio-Boss in Hollywood einen Bruch gehoben, nachdem ihm sein Assistent den ersten von Tad Williams' vier Tausend-Seiten-Wälzern auf den Schreibtisch gewuchtet hatte. Solche Schwarten kann man kaum alleine stemmen - wie soll einer daraus ein zugängliches Drehbuch basteln? Anders lässt es sich nicht erklären, dass erst in diesem Jahr die Melkmaschinen der Unterhaltungsindustrie angelaufen sind und sich Warner die Filmrechte an den Otherland-Romanen gesichert hat.
Dabei hüpft allein bei der Rahmenhandlung jeder Spezialeffekt-Fetischist auf der Stelle wie ein japanisches Schulmädchen. Die Menschheit lebt dank Gehirnimplantaten praktisch nur noch in der virtuellen Realität und geht ihren Fantasien nach, während eine elitäre Gralsbruderschaft den Schlüssel zur Unsterblichkeit sucht und unzählige Kinder in ein mysteriöses Koma fallen. Geheimnisse, Verschwörungen, Abenteuer im Cyberspace. Das schreit nach 3D-Brillen, Nachos und Popcorn!
Oder nach einem Account bei Gamigo, sobald deren hacker-gebeutelte Server wieder online sind. Der Hamburger Publisher will nämlich gemeinsam mit dem Entwicklerstudio RealU in Singapur ein waschechtes MMO aus der Sci-Fi-Saga brauen. Sechs Jahre Entwicklungszeit und 30 Millionen Euro soll das Projekt bislang verschlungen haben. Für Hollywood und manche US-Publisher sind das freilich Peanuts, für einen free-to-play-Titel in Deutschland wäre das aber ein beachtliches Sümmchen. Bei der offiziellen Präsentation auf dem diesjährigen next-g Event in Hamburg wurde entsprechend großzügig mit Superlativen um sich geworfen, als Gamigo Otherland der Presse vorstellte. Ein gigantisches Multiversum aus total unterschiedlichen Welten habe man da vor sich, in denen die Spieler ungeahnte Freiheiten genießen und NPCs ihren eigenen Leben nachgehen, Berufe ausüben und sogar auf den Friedhof zum simulierten Trauern pilgern.
Vor Vergleichen mit Second Life wurde trotzdem gewarnt. Aufgrund des actionreichen Kampfsystems solle man lieber an TERA oder Star Wars: The Force Unleashed denken, zumal eigens die Unreal Engine 3 lizensiert wurde und man den Titel sogar mittels Gamepad spielen könne. Ich glaube allerdings, dass die anwesenden Journalisten mit dem Stichwort "Second Life" vor allem hibbelig gemacht werden sollten. Na schön, es gibt einen zentralen Hub namens Lambda Mall, wo ihr mit anderen Spielern in Bars abhängt, Minispiele daddelt, euer Aussehen oder Geschlecht nach Lust und Laune verändert und sogar bezugsfähige Apartments auf euch warten. Darüber hinaus war die Rede von einem so genannten "MyLand System" - quasi ein virtuelles Grundstück, das ihr selbst gestalten dürft und gegen andere Spieler verteidigen müsst. Sozusagen ein Lego Universe für Erwachsene. Gilden sollen später ganze Kontinente verwalten können. Jedes Lebewesen in Otherland besitzt eine eDNA, die man erbeuten und zur Herstellung eigener Ausrüstung verwenden kann. Außerdem sollt ihr Gegner nach deren Exitus klonen und auf eurem eigenen Grundstück plazieren können. Ich fantasiere jetzt schon von umherstreifenden Zombiekühen, die Invasoren zu Tode trampeln.
Von all diesen Features war jedoch leider während der Live-Präsentation und beim späteren Probespiel der Alphaversion nichts zu entdecken. Daher hinterließ Otherland bei mir einen recht konventionellen ersten Eindruck und wirkte nicht die Spur wie das nächste Second Life. Zwei Welten aus dem Multiversum wurden gezeigt. Ein mittelalterlicher Fantasy-Kontinent mit Schach-Thematik namens "Eight Squared" und der besagte zentrale Hub Lambda Mall, dessen Design an einen Frontalzusammenstoß zwischen TRON, Blade Runner und dem Frankfurter Bankenviertel erinnert. Andere Szenarios sollen den Ersten Weltkrieg, Ägypten, Alice im Wunderland, den Zauberer von Oz oder den Planeten Mars zum Thema haben. Hier beließen es die Entwickler bei schwammigen Andeutungen.
Ich startete in der Mall und steuerte meinen Avatar schnurstracks in einen Laden namens Metamorph, in dem ihr den Körper eures Charakters manipulieren dürft. Geschlecht, Hautfarbe, Textur, Größe, Figur, Gesicht, Typus (Mensch, Alien, Kunststoff) - alles eine Frage des Schiebereglers. In anderen Shops gab es Tattoos, Klamotten und Accessoires, ein weiterer Laden verscherbelte Charakterklassen. In der gezeigten Alpha konnte man sich allerdings nur zwischen Schwertern und futuristischen Schießprügeln entscheiden. Mit einem Metzelwerkzeug in der Hand ging es dann durch das Portal nach Eight Squared, um das Kampfsystem auszuprobieren. Dieses erinnert tatsächlich an typische Action-MMOs, bei denen ihr euren Feind aktiv im Visier halten müsst, damit eure Attacken nicht ins Leere laufen. Vor allem im Nahkampf musste man da ordentlich in Bewegung bleiben.
Keine Frage, stramme Muskeln hat die Grafikengine schon jetzt. Üppige Grashügel, herbstlich bunte Bäume und malerische Flusstäler bis zum weit entfernten Horizont. Mit solchen Impressionen in der Broschüre würde jedes Reisebüro ein Vermögen verdienen. In der Luft schwebten gigantische Schachfiguren, die dem Ganzen einen surrealen Anstrich verpassten. Gerüchten zufolge sollen die Figuren später Schauplatz für PvP-Schlachten sein, Näheres wollten die Entwickler nicht verraten. In einer kleinen bäuerlichen Siedlung mit urig-schiefen Fachwerkhäusern und Windmühlen wanderten Dorfbewohner und Kühe friedlich umher. Allerdings ploppten sie nicht, wie sonst üblich, einfach ins Bild, sobald der Spieler in Sichtweite kam. Wie Hologramme aus Star Wars wurden die Gestalten mit einem schicken Rastereffekt eingeblendet. Auch sonst stolpert man in Eight Squared über die allgegenwärtige Künstlichkeit. Hier ein paar Einsen und Nullen auf der Wasseroberfläche, dort eine Laufschrift im Lensflare der Abendsonne, Dutzende flackernde Pixel, sobald man die herumstreifenden Echsenmonster unter Beschuss nimmt. Die Designer haben den Grundgedanken der Bücher, sich als Avatar in einer virtuellen Welt auszutoben, sehr gut eingefangen. Ihr spielt, dass ihr spielt. Medienwissenschaftler sollten schon mal ihren Bleistift spitzen. Hier bietet sich in Zukunft eine Menge Stoff für Facharbeiten über Intramedialität.
Zurück in der Mall ging es dann in eine der zahlreichen Bars. Diese entsprechen ziemlich exakt ihren Vorlagen aus den Romanen und sind nach unterschiedlichen Themen gestaltet. Sogar Türsteher gibt es, die einen erst nach dem richtigen Emote-Handzeichen passieren lassen. Ich ließ die glitzernden Discos links liegen und stattete dem englischen Pub einen Besuch ab, der bis auf das allgegenwärtige blaue Glimmen einer traditionellen Kneipe bis ins Detail ähnelt. Drinnen könnt ihr euch mit Kollegen austauschen, Musik hören oder euch mit Minispielen wie Billard vergnügen. Die Macher erwähnten aber auch Luftschlachten mit Propellerflugzeugen als Zeitvertreib für zwischendurch. Leider blieb es vorerst nur bei Ankündigungen - die Minispiele selbst konnte ich nicht ausprobieren.
Auf dem Papier klingt Otherland ziemlich interessant und schaut schon jetzt bemerkenswert gut aus. Selbst wenn man die Romane nicht kennt, dürften allein die angepriesenen Freiheiten und das ungewöhnliche Szenario einen zweiten Blick wert sein. Gamigo muss allerdings aufpassen, dass ihr erstes "Tripple-A-MMO" nicht ein Opfer seiner eigenen Ambitionen wird. Potenzial und Hype alleine genügen leider nicht und eine lange Featureliste garantiert noch keinen Kassenschlager - auch nicht bei Free-to-play-Titeln. Im zweiten Quartal 2012 soll die geschlossene Beta beginnen, dann wissen wir mehr.