Die Gilde 2
"Dynasty" im 15. Jahrhundert.
"Wie jeden Morgen reinige ich mein Gesicht mit ein paar Wasserspritzern aus der Karaffe neben meiner Bettstatt, fahre mit den Fingern kurz durchs Haar, schlüpfe in mein wärmendes Wams und bedecke mein Haupt mit dem schon etwas zerknitterten Barrett. Ich trete vor meine Hütte und stehe mit den Schuhen wie gewohnt in einem stinkenden Rinnsal aus Abwasser, Urin und Kot. Unter meinem Absatz zerknacken die abgenagten Hühnerknochen vom Hochzeitsmahl des nachbarlichen Patrons ...
Auf dem Weg zur Schmiede, wo ein armer Wicht schon seit den Morgenstunden für mich schuftet, versäume ich es nicht, der holden Elisabeth auf dem Marktplatz ein paar Komplimente zu machen - schließlich habe ich SIE dazu auserkoren, mit mir, dem aufstrebenden gemeinen Junggesellen, eine neue Dynastie in der Stadt zum Erblühen zu bringen. Mit zunächst schüchtern-zurückhaltenden Avancen und ein paar netten Geschenken sollte ich bald mein Ziel erreicht haben.
Für die Zukunft habe ich mir viel vorgenommen: Ich möchte endlich den Status eines Bürgers erlangen und dann auch im Rat der Stadt ein gewichtiges Wörtchen mitreden. Meine Schmiede läuft schon ganz gut - vielleicht kaufe ich mir von den angehäuften Talern bald noch eine Weberei dazu? Mein Aufstieg in der Stadt geht mir über alles. Dafür lege ich mich auch mit Konkurrenten an - notfalls bis zum Duell. Oder ich spende einem Ratsmitglied in einem unbeobachteten Moment eine kleine Aufwandsentschädigung... aber das bleibt unter uns, ja?
Wenn ich alles schaffen will, was mir so vorschwebt, muss ich endlich eine heiratswillige Maid finden, die selber geschäftstüchtig ist, zum Familienvermögen ihr Scherflein beiträgt und mir vor allem gesunde, arbeitsfähige Söhne und Töchter gebärt - auf dass wir gemeinsam mit harter Arbeit zu den angesehensten und reichsten Bürgern der Stadt aufsteigen mögen!"
Gedanken eines PC-Spielers, der vor ein paar Stunden Jowoods aktuelle Wirtschaftssimulation "Die Gilde 2" in die Finger bekommen hat - schon voll abgetaucht in die Welt des späten Mittelalters. Kein Wunder, denn das in Hannover ansässige Entwicklerteam 4Head hat alles getan, damit man die Stadt ums Jahr 1400 wirklich hautnah mit allen Sinnen erleben kann. Anders als im Vorgänger bewegt man nun auf dem Bildschirm nicht nur einen nüchternen Mauscursor durch die verdreckten Gassen, sondern erschafft sich zu Beginn des Spiels sein ganz individuelles Alter Ego. Mit allem Drum und Dran: vom Teint übers Bärtchen bis hin zu Körperbau und Religionszugehörigkeit legt man alles nach eigenem Gusto fest. Nicht einmal das Sternzeichen bleibt dem Zufall überlassen. Diese bieten unterschiedliche Bonuspunkte für die rollenspielartigen Charakterwerte.
Apropos Rollenspiel: Die Karriere der eigenen Spielfigur spiegelt sich nicht nur im wachsenden Kapitalvermögen und politischer Macht wieder, sondern hat auch Einfluss auf den Charakter. Mit jeder Aktion gibt’s Erfahrungspunkte, die seine Fähigkeiten verbessern und ihm das Erreichen höherer Stufen ermöglichen. Mit welchen Maßnahmen man diese Ziele verfolgt, hängt ganz vom Spieler ab - unter anderem auch davon, ob er sich zu Beginn für eine Laufbahn als Patron, Handwerker, Gelehrter oder Gauner entscheidet. Einen gewissen Einfluss auf die Vorgehensweise haben auch die unterschiedlichen Spielmodi, die "Die Gilde 2" bietet. Entweder man strebt in "Auslöschung" die totale Vernichtung aller Konkurrenten an, vergleicht nach einem Zeitlimit die erreichten Punkte, erledigt vorgegebene Aufträge oder spielt einfach "endlos" vor sich hin.
All das dient ein und demselben Ziel: den Spieler so tief wie möglich in das Geschehen hineinzuziehen, Identifikationsmöglichkeiten mit dem eigenen Charakter zu schaffen. Wir würden sagen: Operation gelungen! Wer sich mit seinem selbst geschaffenen "Gilde 2"-Bürger so völlig frei in der mittelalterlichen Stadt bewegt, mit Passanten spricht, sich ein Geschäft aufbaut, eine Familie gründet und am Schluss noch Politik macht, der beginnt auch früher oder später, ganz wie seine Spielfigur zu denken, Ränke zu schmieden und um dralle digitale Schönheiten zu buhlen.
Das Eintauchen ins Mittelalter fällt einem leicht - 4Head legt bei "Die Gilde 2" in Sachen Atmosphäre ein besonders glückliches Händchen an den Tag. Die gut detaillierte Grafik kann dank der frei einstellbaren Kamerawinkel aus allen Perspektiven beäugt werden. Mit ihren gediegenen Grün- und Brauntönen hat sie etwas von mittelalterlicher Ölmalerei. Die Stadt ist selbst ist nicht steril, sondern belebt mit reichlich umherziehendem Volk, mit dem sich auch trefflich das eine oder andere Schwätzchen im passenden Sprachduktus führen lässt.
Wichtig: nach dem ausführlichen Tutorial verschwendet man kaum mehr einen Gedanken an das Benutzer-Interface. Alles läuft wie geschmiert, man kann sich ganz dem eigentlichen Geschehen zuwenden. Da es mit wachsendem Aktionsradius immer schwieriger wird, wirklich alle "Baustellen" im Auge zu behalten, lassen sich die meisten Produktionsabläufe mit vielerlei individuellen Einstellmöglichkeiten auch automatisieren. Insgesamt geht das virtuelle Bürgerleben in "Die Gilde 2" wesentlich leichter von der Hand als im Vorgänger.
Wer es im Mittelalter unpassend findet, ausschließlich mit Personen zu tun haben, die von einer teuflischen, neumodischen Rechenmaschine gesteuert werden, der darf sich über Internet und Netzwerk auch mit menschlichen Dynastien aus Fleisch und Blut um das größte Ansehen in der Stadt streiten. Den ersten Mehrspieler-Bestechungsversuchen und Duellen mit der fertigen Kaufversion von "Die Gilde 2" sehen wir jetzt schon mit Spannung entgegen...