Paranormales Sightseeing mit Ghostwire: Tokyo
Im Interview mit Game Director Kenji Kimura und Produzent Masato Kimura
Wie würdet ihr euch wohl fühlen, wenn der wuseligste Ort in eurer Stadt plötzlich komplett menschenleer wäre? Wäre das nicht eigenartig? Dieses Gefühl hat wohl jeder von uns während der Pandemie auf die eine oder andere Art zumindest ansatzweise kennengelernt. So ein Szenario ist vielleicht nicht mehr so gruselig wie noch vor zwei langen und zugleich kurzen Jahren, dafür viel bekannter. Ghostwire: Tokyo übersetzt es in eine der belebtesten Metropolen der Welt und streut noch eine Prise Übernatürliches hinzu. Schon befinden wir uns virtuell mitten auf dem Shibuya Crossing - einen der überfülltesten Orte in Tokio. Die riesige Kreuzung, für die 15.000 Fußgänger pro grünem Licht nicht ungewöhnlich sind, ist dieses Mal gänzlich leer.
Ghostwire: Tokyo will uns aber nicht nur das Gefühl vermitteln, die einzige Person im Lockdown zu sein, die gerade alleine an einer Kreuzung steht, während um sie herum ein Dutzend Geister schwirren. Welche Themen sich das Spiel genau vornimmt, dazu haben wir Game Director Kenji Kimura und Produzent Masato Kimura ordentlich ausgefragt.
Ich persönlich erinnere mich gut daran, wie ich mich nach der E3 gefühlt habe, in der ich die Ankündigung zum Spiel das erste Mal sah. Ein surreales Tokyo, das voller Geister und Dämonen ist, die einen echten Bezug zur japanischen Folklore haben, war (surprise, surprise) genau mein Ding. Als ich jedoch meine Freunde anschaute, blickte ich in verwirrte Gesichter: Was ist das für ein Genre? Ist das nicht eine eigenartige Perspektive für ein Horrorspiel - oder Actionspiel?? Ist das Open World - was soll das jetzt genau sein?
Das Drahtseil, die Geister und Tokyo
Diese Gedanken schienen auch mit den neusten Veröffentlichungen zum Gameplay nicht zu verschwinden, daher sollte Tango Gameworks' Leiter des Projekts Kenji Kimura für mich das Spiel noch einmal genauer definieren. Was für ein Genre würde er Ghostwire: Tokyo zuweisen, wenn es unsere gängigen Genres nicht gäbe? "Paranormal Sightseeing" kam als Antwort wie aus der Pistole geschossen. Das Paranormale wird in diesem Spiel ganz großgeschrieben.
Aber eben nicht nur das Paranormale, sondern auch Tokyo als Handlungsort ist von großer Bedeutung. "Der Kontrast war uns besonders wichtig. Wenn wir einen Platz genommen hätten, der sonst nicht so überfüllt mit Leuten wäre, hätte niemand gemerkt, dass irgendwas ungewöhnlich ist", erklärt Kenji Kimura. "Das Verschwinden der Menschen sollte eine große Sache werden." fügt Produzent Masato Kimura hinzu.
Eine kleine Stadt, die keiner kennt, würde sich eben auch nicht als Sightseeing eignen. Das Team hinter dem Spiel ist dafür sogar selbst auf Erkundungstouren gegangen. Kenji kann sich noch gut an diese Momente erinnern: "Wir sind durch die Stadt gegangen und haben uns überlegt: Wo wären hier paranormale Ereignisse cool? Normalerweise darf man in solche Gebäude nicht rein, aber im Spiel darf man überall hingehen, wo man hinwill und wir haben uns selbst gefragt wo wir reingehen würden, wenn wir dürften."
Das erklärt vielleicht auch, warum nicht alle Orte im Spiel bekannte Plätze sind, die man als Tourist wiedererkennt. Oft sind gerade Wohngebiete und kleine unbelebte Straßen spannend, denn wann würde man schon eine private Wohnung von Fremden betreten, wenn nicht in so einem Szenario? Masato erklärt, dass das Team die dunklen Straßen und coole Teile von Tokyo zur Schau stellen wollten. "Und man wird für seine Neugier auch immer belohnt." Denn der gefährliche Nebel im Spiel lässt eine offene Welt nicht wirklich zu, sondern immer kleine Sandbox-Areale, die man im offenen Tokyo erkunden kann.
Emotionen, die im Dunklen lauern, sind nicht immer böse.
Vieles im Spiel ist zwar gruselig, aber nicht alle Geschöpfe sind bösartig - manche sind sogar richtig süß! Das größte Fernweh bereiten mir selbst ja japanische Konbinis. Abgeleitet von 'Convenience Store', handelt es sich hier um kleine Geschäfte die 24 Stunden am Tag geöffnet haben und alles beinhalten, was das Herz begehrt. Wie weitergedachte Kioske sind sie in Japan an jeder Ecke zu finden und so trifft man auch im Spiel oft auf die bequemen Läden, in denen man die unterschiedlichsten Items kaufen kann. An der Kasse: Eine verwandelte Katze mit zwei Schwänzen, die in der Folklore als Nekomata für ihre Intelligenz bekannt ist.
Die Nekomata dienen genau wie Tengu als neutrale NPCs im Spiel. Aber man findet noch ganz viele andere liebenswerte Dämonen in Ghostwire: Tokyo, versichert Kenji. Sein persönlicher Favorit auf japanischen Mythen ist der Nurikabe. Wörtlich übersetzt eine 'aufgestellte Wand'. "Es ist einfach eine Wand, die im Raum steht. Sie hat Hände und Augen, kratzt sich gelegentlich am Bauch und ab und zu flüstert sie ganz leise ihren eigenen Namen 'Nurikabee'", schwärmt der Game Director vom ungewöhnlichen Monster.
Während ich die Vorstellung einer lebenden Wand als gruselig hervorhebe, können wir nur lachen. Denn dafür finde ich die kleine Nebenquest um Zashiki-Warashi total liebenswert. Es fällt auf, wie unterschiedlich die Wahrnehmung sein kann, mit der man gruselige Wesen aufnimmt. Was der eine als süß empfindet, kann ziemlich verstörend auf jemand anderen wirken.
Ob diese Unterschiede auch kulturell bedingt sind? Denn irgendwie fühlen sich japanische Horrorspiele für mich doch ein wenig anders an als westliche. Kenji erklärt, dass sich Ghostwire: Tokyo vor allem an den urbanen Legenden der Stadt orientiert. In diesen Legenden geht es oft um eine nicht-menschliche Kreatur. Das Gruselige ist nicht, dass sie dich angreift - das Unbehagen entsteht, weil diese Kreatur einfach existiert. "Ein großer Teil von japanischem Horror ist, dass man die Existenz von etwas fühlt, das normalerweise nicht da sein sollte." definiert Kenji Kimura. Masato ergänzt: "Es ist das Gefühl, dass da irgendwas im Nebel oder generell etwas lauert, was du zwischen japanischem und westlichem Horror unterscheidest."
Und es macht Sinn, dass das, was ich als verstörend empfinde, nicht unbedingt das ist, was jemand anderes als ungewöhnlich empfindet. Kenji unterstreicht, dass die Wahrnehmung von Horror vielmehr davon abhängt, in welcher Verfassung oder in welchem Umfeld sich die Person gerade befindet, in dem sie eine Geschichte hört.
Wie klingt eigentlich Angst?
Zur Stimmung trägt auch der Soundtrack von Ghostwire: Tokyo bei. Kenji Kimura freut sich, dass ihn endlich jemand nach der Musik fragt, die scheint auf Presseterminen sonst kein zentrales Thema zu sein, dabei sorgt doch das Sound-Design für die grundlegende Atmosphäre. Die Richtung, die der Komponist einschlägt, ist besonders spannend. Tango Gameworks Produzent Masato gibt die Worte des Komponisten Masatoshi Yanagi wieder: "Die Spieler:innen sollen sich wie Helden fühlen. Sie sollten Tokyo genießen. Der Sound will sie nicht verängstigen, denn die Musik präsentiert ein Licht am Ende des Tunnels."
So fühlt man sich nicht immer ängstlich im Spiel, obwohl die begrenzte "Munition" anfangs ein kleines Resident-Evil-Gefühl aufkommen lässt und auch die Schleich-Passagen in den Gebäuden bedrohlich wirken können. Dass sich viele Plätze aber eben nicht nach Horror anfühlen, ist durchaus beabsichtigt. Masato hebt hervor, dass Ghostwire: Tokyo ein Action-Adventure ist, kein Horrorspiel. Und das Thema dieses Abenteuers kristallisiert sich im Interview deutlich heraus: Immer wieder erwähnen die Entwickler das Leitmotiv "The unordinary lurking in the ordinary" - das Ungewöhnliche, das sich im Gewöhnlichen verbirgt.
Deshalb befinden wir uns im sonst harmlosen Shibuya und nicht an einem Platz, den man vielleicht schon mit etwas Unheimlichem assoziiert. Deshalb gibt es keine eigene Geisterwelt, sondern normale Straßen, Geschäfte und Plätze aus Tokyo. "Es war wichtig, dass es sich noch real anfühlt", sagt der Produzent. Im Gespräch über die Musik dringt allerdings noch ein viel interessanteres Motiv durch, welches in Ghostwire: Tokyo verankert zu sein scheint. Die Mischung aus Neu und Alt - Tradition und Moderne. Nicht nur, dass die Wesen der Folklore im modernen Tokyo ihr Unwesen treiben, auch der Antagonist Hannya ist eine Repräsentation dessen: Die Hannya Maske ist ein Produkt des traditionellen Noh-Theaters, während des Rest seines Körpers in "Tech-Wear" gekleidet ist - dem aktuellsten Mode-Trend der echten Stadt.
Im Soundtrack wurde diese Mischung aus Alt und Neu besonders in den Mittelpunkt gerückt: Alte Kinderlieder und Wiegeliedchen, die von Großeltern gesungen wurden, werden in den Boss-Kämpfen mit EDM gemischt, einem Genre, das oft in den Straßen Shibuyas zu hören ist. Kenji Kimura erzählt zudem vom Gagaku, einem Instrument, das oft in den Arrangements des Soundtracks genutzt wurde, obwohl es eigentlich als altes Instrument für Zeremonien bekannt ist. "Es gibt also einen Bezug zur Geschichte und Tradition, die aber auf eine neue und frische Art und Weise präsentiert wird. Das repräsentiert für uns Tokyo", erklärt der Game Director.
Ghostwire: Tokyo erscheint am 25. März 2022 für PlayStation 5 und PC. Welche Eindrücke Alex bisher vom Spiel hat und wie viele Tiere ihr in Tokyo streicheln werdet, könnt ihr in seinem Artikelnachlesen.