Plain Sight
Innovationsbombe
Ich liebe die Zeit, wenn die Blockbuster-Industrie mal wieder eine Atempause einlegt und man sich um ein paar Indie-Perlen kümmern kann. Während man sonst in den ewig währenden Kreislauf aus Vorschau, Hands-On, Interview und Test eingespannt ist, kann man sich gerade ein wenig auf Steam, Xbox Live oder im Apple Store umsehen, um Geheimtipps unter die Lupe zu nehmen.
Plain Sight ist ein solches Schmuckstück, das sich nicht so richtig einem Genre zuordnen lässt und nur so vor Innovation sprüht. Zuallererst ist es natürlich ein reines Multiplayer-Spiel ohne richtigen Bot-Support. Wer sich also nicht mit anderen Spielern messen möchte, kann sich an dieser Stelle wieder gleich verabschieden.
Der Rest bekommt dagegen einen ungewöhnlichen Gameplay-Ansatz präsentiert, der irgendwo zwischen Jedi Knight, einem Flugsimulator und einem Third-Person-Shooter angesiedelt ist. Noch dazu ein paar durchgeknallte Roboter mit Selbstmord-Tendenz, dicken Metallschwertern und einem Erfahrungspunkte-System, fertig ist eine abgefahrene Spielerfahrung, die man so nur im Mikrobiotop von Steam finden kann.
Was einem sofort ins Auge fällt, ist die stilistisch einmalige Grafik. Das Ganze spielt sich in einer Art virtuellen Realität ab. Die Level bestehen aus Objekten, die frei im Raum schweben und eine Schwerkraft besitzen. Diese Objekte bestehen wiederum aus einfachen Polygonen, die durch eure Berührung ihre Farbe verändern. Außerdem ziehen die Spielfiguren leuchtende Bänder hinter sich her, die in Bewegung wunderschöne Muster ergeben. Gerade auf vollen Servern entstehen so beeindruckende Bilder, die euch immer wieder sprachlos machen. Plain Sight mag technisch kein Crysis sein, aber was das Artdesign angeht, mischt es wirklich ganz vorne mit.
Eure Spielfigur, ein Roboter-Ninja, bewegt sich auf diesen Mikroplaneten umher und ordnet sich dabei den dort vorherrschenden Naturgewalten unter. Oft sind es Miniaturstädte, aber auch abstrakte Hochhäuser, Bauteile und Kugeln. Wenn ihr an der richtigen Stelle weit genug springt, löst ihr euch aus dem Einzugsbereich eines Objekts und taucht in das Feld eines anderen ein. Blitzschnell ändern sich die Bezugspunkte, eure Ausrichtung und das Koordinatensystem. Die Welt wird dabei auf den Kopf gestellt und Motion-Sickness-Anfällige in den Wahnsinn getrieben.
Das Ziel der Roboter besteht darin, so viel Energie wie möglich zu sammeln. Um das zu erreichen, gibt es zwei Möglichkeiten: Zum einen könnt ihr frei im Raum schwebende Sterne aufsammeln, zum anderen gegnerische Roboter mit einem Beschleunigungsangriff zerstören. Mit dem Aufladen dieser Attacke werden eure Gegner wie bei einem Flugsimulator mit einem blinkenden Fadenkreuz markiert. Nach einer Weile leuchtet dieses rot auf, sofern ihr nahe genug dran seid. Lasst ihr dann los, schießt eure Figur auf den Gegner zu. Blockt er nicht oder lässt sich blitzschnell zu Boden fallen, landet ihr einen Treffer und euer Kontrahent zerspringt in tausend Teile.
Mit jedem Sieg nehmt ihr die aktuelle Energie eures Gegners auf, gewinnt so an Stärke und Größe. Doch diese Kraft landet nicht direkt auf eurem Konto. Ihr müsst euren Roboter erst zur Explosion bringen, um euch in der Rangliste nach vorne zu arbeiten. Die Frage ist nur: Wann? Denn wenn ihr mehr Energie sammelt oder mit eurer Explosion andere Roboter mit in euren Tod reißt, werden Multiplikatoren aktiv, die schnell eine Partie herumreißen können. Eure Gedanken rasen, während ihr vor dem Lock-On eurer Gegner flüchtet. Eure dicke Gestalt verwandelt sich für sie in eine überreife Frucht, die es nur zu Pflücken gilt. Verzweifelt schielt ihr auf eure Verfolger und stoßt ein schmerzverzerrtes „Neeeeeein“ aus, wenn sie euch kurz vor der Explosion in Fetzen reißen. Adrenalin pur.
Zum Glück könnt ihr eure Spielfigur nach den ersten Kills in einem Fertigkeitsmenü aufmotzen. Zuerst kauft ihr euch eine Block-Funktion, die feindliche Angriffe abwehrt. Danach eine Warnung, wenn ihr von einem Gegner anvisiert werdet, einen verstärkten Angriff, einen Doppelsprung und so weiter. Investiert ihr besonders viel in ein Fähigkeitengebiet, könnt ihr sogenannte Mega-Perks aktivieren. Eure Explosionen saugen so Gegner ein, eure Stampf-Fähigkeit lässt sie zerspringen und ihr könnt sogar Explosionen abblocken. Leider verschwinden diese Verbesserungen nach dem Neustart eines Servers wieder. Ihr fangt also stets von vorne an. Für Motivation sorgen allein die Online-Rangliste und das vor Adrenalin strotzende Gameplay
Neben dem relativ simplen, aber schweißtreibenden Deathmatch warten noch Team Deathmatch, Capture the Flag, das auf den ersten Blick interessante Lighten Up und das wahnwitzige "Ninja! Ninja! Robozilla!" auf euch. Bei Lighten Up müsst ihr in einem bestimmten Zielgebiet die größte und hellste Explosion anbringen. Eine nette Abwechslung zum ständigen Deathmatch-Terror. Etwas komplizierter und damit nicht ganz so spannend präsentiert sich der letzte Spielmodus. In Ninja! Ninja! Robozilla! übernimmt ein Spieler einen Superroboter, während die Anderen versuchen, ihn zu Fall zu bringen. Die nervige Suche nach dem Robot-Godzilla macht diesen Modus uninteressant. Entsprechend stiefmütterlich wird er behandelt und ihr findet nur selten Mitspieler. Plain Sight ist und bleibt das perfekt Deathmatch-Spiel. Punkt.
Download-Plattformen wie der AppStore, Xbox Live, PSN, Impulse und Steam verwandeln sich nach und nach in die Keimzelle einer neuen, innovativen Entwicklergeneration. Während sich große Publisher vor allem mit Sequels herumschlagen, gibt es hier noch echte Überraschungen. Plain Sight ist ein solches Kleinod, dass sich nur schwer mit anderen Titeln vergleichen lässt. Ja, es ist extrem hektisch und ein wenig durchgeknallt, dafür bekommt man Adrenalin im Sekundentakt geliefert. Ein Gefühl, das an die ersten Quake-Multiplayer-Gefechte erinnert und einen nach einer intensiven Partie erschöpft im Bürostuhl zurücklässt.
Doch Plain Sight ist nicht nur extrem spannend, sondern auch bildschön und wirklich intelligent konstruiert. Der Kampf zwischen den Welten ist eine einmalige Erfahrung, die man als Multiplayer-Fan einmal erlebt haben sollte. Doch leider fehlt es dem Titel an der nötigen Substanz, um sich in noch höhere Wertungsregionen zu katapultieren. Ohne persistente Verbesserungen oder komplexere Spielmodi nutzt sich die Begeisterung nach einer Weile ab. Man hat sich zu sehr an das neumodische Rahmenprogramm aus Erfahrungspunkten und dauerhaften Verbesserungen gewöhnt. Doch auch wenn man dann reumütig zu Bad Company 2 zurückkehrt, ist man froh, diese Innovationsbombe erlebt zu haben und wagt immer mal wieder eine Partie mit den durchgeknallten Roboter-Ninjas.
Plain Sight ist für ca. 10 Euro via Steam für den PC erhältlich. Eine Xbox-Live-Fassung soll folgen.