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Pollen - Test

Nah dran, der Messias eines Genres zu werden.

Hochinteraktive, optisch stimmungsvolle Low-Sci-Fi, der es aber an Spannung mangelt und die in ihrer Kürze zu viele Fragen offen lässt.

Fast hätte es geklappt: Pollen richtet sich klar an Fans der landläufig ein bisschen abschätzig "Walking Simulator" genannten Erzählspiele, räumt aber mit einigen Problemen dieser Form gründlich auf. Es erinnert sich an deren Ursprung im klassischen Adventure, hängt aber auch das in Sachen Anfassbarkeit deutlich ab. Fast jeden Gegenstand, der auf dieser Basis auf dem Saturnmond Titan ein von einem normalen Menschen handhabbares Gewicht auf die Waage bringt, kann man aufheben, drehen und wenden.

Fotos kippt man auf den Bauch, um Notizen auf der Rückseite zu entdecken, Clipboards mit Anleitungen für futuristische Gerätschaften zoomt man ganz nah heran, um sie zu lesen. Einzelne Dia-Disks legt man von Hand in den Projektor, Audio-Logs steckt man in einen Kassettenrekorder. Und das zieht sich von vorn bis hinten durch diese Geschichte. Computer und Gerätschaften verfügen über voll funktionstüchtige Schalttafeln, die für einige Rätsel auch eingesetzt werden, und gewisse Kabel zieht man aus Buchsen, um sie an anderer Stelle wieder anzustöpseln.

Diese retrofuturistische Basis aus einem 1995 einer alternativen Zeitlinie erinnert wohl nicht zufällig an die Ästhetik des ersten Alien und fühlt sich durch diese Interaktionsmöglichkeiten ebenso real und plastisch an. Natürlich ist es nicht zielführend, jede dreckige Kaffeetasse oder liegen gelassene Hantel in die Hand zu nehmen und wie einige von euch jetzt sicherlich befürchten, verliert man so manches Mal schon aus den Augen, was man eigentlich tun sollte. Aber das liegt auch und vor allem an dem Cluster an Problemen, die Entwickler Mindfield ungesehen von anderen Spielen dieser Machart übernahm. Und das ist in diesem Fall verdammt schade.

Das Kernproblem: Pollen ist interessant und mysteriös, aber einfach nicht spannend. Wie das sein kann bei einem Spiel, in dem man als neu angekommenes Ersatz-Crewmitglied auf diesem Felsen strandet und die Basis nach anfänglichem Funkkontakt wie leergefegt ist? Nun, zum Teils ist es einfach diese Einsamkeit, die dafür sorgt, dass man niemals den Eindruck hat, dass es hier wirklich um Menschenleben geht oder zumindest ging. Herumliegende Fotos der Crew und die Tonbandaufnahmen, die euch das Spiel regelmäßig im Doppelpack (!) um die Ohren wirft, um sie neben einem Rekorder stehend geduldig abzuhören, sind da kein Ersatz.

Es ist ein beliebtes Klischee dieser Art "Narrative Experiences", dass man den Schauplatz nach einer Katastrophe erreicht - weil man so keine Menschen animieren müsste, was kostspielig ist und schwieriger, als eine Raumstation zu rendern. Aber hier fehlt einem der Bezug zu irgendetwas Menschlichem und die Erklärung für ihr plötzliches Verschwinden ist entweder abstrus oder nur kaum vorhanden. Der eigene Charakter ist eine stumme Chiffre und die Geschichte lässt euch bis zum Schluss im Dunkeln, was hier eigentlich los ist. Irgendwas fand man auf diesem Mond, das etwas mit der Crew anstellte. Wem das noch nicht Warnung genug ist, der hat noch nie einen Science-Fiction-Film gesehen.

Unterm Strich passiert hier einfach zu wenig, weil alles schon passiert ist. In anderen Titeln ist das Ausrede genug, aber hier steht immerhin auch das Leben der eigenen Spielfigur auf dem Spiel, um das man sich aber zu keiner Sekunde sorgt. Und überhaupt: Wie hier alles zusammenkommt, was passierte und warum - diese Antworten sind an den falschen Stellen zu vage. Schon klar, Sci-Fi liebt diese kosmischen Geschichten, die den menschlichen Verständnishorizont überschreiten. Hier und da sollte man aber, vor allem in einem Spiel, klar erkennbare Regeln aufstellen, die dem User helfen, sich zu verorten und zu wissen, warum er eigentlich hier ist. Eine Zeit- oder Dimensionenreise schon ganz zu Beginn bereitet mir immer noch Kopfschmerzen und wenn irgendwo erklärt wird, wohin man hier eigentlich reist - Zukunft oder Vergangenheit -, dann habe ich die entsprechende Aufnahme oder das Clipboard nicht gefunden. Ein innerer Monolog, ein klärender Funkspruch, der einem einen klitzekleinen Fixpunkt beschert, das wäre es gewesen. So denke ich zwar noch immer an Pollen, aber ich habe nicht das Gefühl, es zu packen zu bekommen. Anfang und Ende sind klar, vor allem jetzt, nachdem ich es eineinhalb Mal durchgespielt habe - aber das Dazwischen und das Warum fehlen einem beim ersten Durchlauf durch die kurze, in meinem Fall nicht ganz zweieinhalbstündige Handlung.

Auf Spielebene ist das nicht unproblematisch, weil der Hauptfigur die Triebfeder fehlt, die über die Videospielerneugierde, dem einzigen erkennbaren Weg in den Untergang hinterherzulaufen, hinausginge. Nach dem Erreichen der Station ist direkt klar, dass man am besten die Kavallerie herbeibestellen und sich mit ein paar Sauerstoffflaschen und Rationen zurück zum Funkposten aufmachen sollte, um die Lage auszusitzen. Aber nein, wir gehen der Sache ohne größere Not auf den Grund, immerhin gibt es Audiologs zu finden und Hinterlassenschaften von Menschen zu durchwühlen.

Ein bisschen grüble ich noch darüber, was hier wohl wirklich passierte, und sobald der Support für HTC Vive steht, durchkämme ich diese Raumstation vermutlich noch einmal von vorne. Es ist ein wirklich toll aussehendes Spiel, das vom Sujet her genau auf mich zugeschnitten ist. Und wenn man dann viel zu unvermittelt und ein bisschen überrumpelt die ausgedehnte letzte Sequenz von Pollen erlebt, muss man gestehen: Das ist schon ein kleines Meisterstück surrealer Gehirnbiege, das sich in VR sicher noch umwerfender macht als auf einem konventionellen Monitor. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich mich während des Spielens nie fürchtete, selten gespannt war und kaum das Gefühl hatte, etwas zur Lösung dieses Mysteriums beizutragen. Und mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf entbehren die umfassenden Interaktionen mit der Umgebung nicht einer gewissen Ironie.

Eines hat Pollen trotzdem geschafft: Es ist ein Titel mit der Ambition, dieses Genre wieder zu mehr Spiel zu machen, und einer guten Idee davon, wie das zu erreichen sei. Erzählerisch und inszenatorisch fehlte Entwickler Mindfield dieses Mal noch das entscheidende Rüstzeug. Auf meiner Liste der Studios, deren Werk man im Auge behalten sollte, stehen sie jetzt nichtsdestotrotz.

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Alexander Bohn-Elias Avatar
Alexander Bohn-Elias: Alex schreibt seit über 20 Jahren über Spiele und war von Beginn an bei Eurogamer.de dabei. Er mag Highsmith-Romane, seinen Amiga 1200 und Tier-Dokus ohne Vögel.

Informationen zu unserer Test-Philosophie findest du unter "So testen wir".

In diesem artikel

P.O.L.L.E.N

PC

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