Proteus - Test
Musik für die Augen
Der große Frank Zappa hat mal gesagt, über Musik zu schreiben sei, als tanze man über Architektur. Proteus ist eines dieser Spiele, die gute Argumente dafür auffahren, dass dieser Satz sich auch auf Games anwenden lässt. Denn auch im Falle dieses "Kunstspiels" fällt eine Erklärung nur scheinbar einfach. Man meint eigentlich, mit nur wenigen Sätzen den Kern dieses auffälligen Indie-Titels genau erfassen zu können. Und doch muss man tierisch aufpassen, nicht in gewohnte Schubladen zu langen, denn dann fangen die Probleme an.
Viel schwieriger zu erklären ist nämlich, was Proteus nicht ist, denn jeder der Begriffe, die ich für eine Charakterisierung zur Hand nehmen müsste - und sagt ihr mir anschließend, ob ich drum herum gekommen bin -, weckt im Videospiel-Kontext gewisse Erwartungen, die Proteus nicht zu erfüllen gedenkt. Wenn ich es als 3D-Erkundungsspiel bezeichne und als Journeys Bruder im Geiste, stimmt das zwar für mich, trotzdem denkt ihr beinahe zwangsläufig in die falsche Richtung. Ihr denkt an Steppen, Berge, Wiesen, die eine Geschichte erzählen, entweder über euch oder sich selbst. Eine Welt, vielleicht mit versteckten Bereichen, in der der weitere Weg nicht immer ganz eindeutig ist und auch nicht ohne Geschick am Controller zu bewerkstelligen.
Vielleicht denkt ihr auch an Dinge, die ihr finden müsst, um den nächsten Bereich zu erschließen und Begegnungen, die euren Blick auf das Spiel verändern. Nichts davon findet sich jedoch in Proteus. Und wenn ich euch mit "Musikspiel" komme, schwirren euch Pfeile zum Drauftreten durch den Kopf oder stilisierte Noten, die ihr im Takt eines lizenzierten Liedes anschlagen müsst. Auch hier: Nichts wäre ferner von der Wahrheit. Bevor wir aber Diskussionen darüber anfangen, ob Proteus überhaupt ein Spiel ist, oder ob unsere sklavische Ergebenheit der Einteilung dieses Mediums in immer kleinere Schubladen und Sub-Kategorien 2013 (und mit Blick auf die Zukunft) noch Sinn ergibt, schauen wir lieber so nüchtern es geht auf die Habenseite des Titels.
Für jeden der kurzen Durchgänge generiert das von Ed Key und David Kanaga erdachte und realisierte Proteus euch eine neue Insel, auf die ihr zu Beginn eurer Reise vom Meer aus zu schwimmt. Vom Fleck weg fällt der visuelle Stil auf: Plump auf den ersten Blick, im Standbild an großpixelige, seitwärts scrollende Atari-VCS-2600-Spiele gemahnend, rollt sich mit jedem Schritt in die unerwartete Tiefe des Bildschirms ein in seiner Einfachheit faszinierend lebendiges Pastell-Panorama vorm Spieler aus. Wie in einem impressionistischen Gemälde zeichnen Key und Kanaga ihre prozedural erschaffenen Eilande in den breitesten denkbaren Pinselstrichen und verleihen ihnen durch Abstraktion beachtlichen Charakter.
Spiel des Lebens
Ein ausgewiesenes Ziel gibt es nicht, wohl aber eine grobe Unterteilung des Erlebnisses, denn eure ersten Schritte tut ihr im Frühling, bevor der Lauf der Zeit die Insel in recht regelmäßigen Abständen zunächst in sommerliche Kleider hüllt und schließlich zu Herbst und Winter übergeht. Nach gefühlten und wohl auch tatsächlichen 40 bis 50 Minuten endet eure Reise auch schon wieder, ohne dass ihr eine Taste gedrückt, einen Sprung getan oder einen Gegner besiegt hättet. Was macht man also in Proteus? Man läuft und lauscht, mehr nicht, denn neben der wirklich magischen Gestaltung bombardiert ein dichter, progressiver Klangteppich eure Sinne und untermalt eure ziellose Reise über die überschaubare Insel mal perkussiv, mal zirpend elektronisch.
Pflanzen, Tiere und Steingötzen bekommen dabei jeweils ihre eigene Handvoll Sounds, die sie euch wie zum Gruß abspielen, wenn ihr euch nähert oder ein Eichhörnchen aus zwölf Pixeln einen Baum hochscheucht. So taucht ihr beachtlich tief in die Welt von Proteus ein, während ihr mit möglichst großen Kopfhörern und der Aufmerksamkeitsspanne eines Kindes immer neuen Sinneseindrücken aus Flora und Fauna nachjagt. Und das war es eigentlich auch schon. Es gibt nichts zu suchen, nichts zu finden, nichts anderes zu entdecken, als die nächste Insel im neuen Durchgang, wo ihr vielleicht das erste Mal die Schleiereule bemerkt, von der ihr schwören könntet, dass sie beim letzten Mal noch nicht da war.
Mit dem Wechsel der Jahreszeiten trägt das Spiel die Metapher auf das Werden und Vergehen ähnlich offenherzig vor sich her wie seinerzeit Journey. Das allerdings begriff das Leben als deutlich zielgerichtetere Reise, die man nicht zwangsläufig alleine antritt, sondern im besten Fall zu zweit. In dieser Hinsicht ist Proteus bei aller Erhabenheit, die mit dem überraschenden Finale mit einem Mal für dicke Gänsehautnoppen gut ist, eine deutlich einsamere Erfahrung.
Natürlich ist es bei einem solchen Titel hochgradig problematisch, Deutungshoheit für sich zu beanspruchen. Aber ich vermisste daher ein wenig die persönliche Komponente. Die hätte es zu etwas machen können, das einen über die letzten Szenen hinaus noch berühren würde. So wie es ausging, dachte ich noch ein wenig darüber nach, fasziniert und durchaus beeindruckt, aber emotional trotzdem ein bisschen unterkühlt. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Art, wie man sich in der Welt bewegt, so mechanisch-binär daherkommt, ohne Sinn für Trägheit oder das Gefühl, einen Körper durch einen Raum zu bewegen. So schön und lebendig diese Welt auch wirkt, man ist nicht wirklich dort.
Trotz allem lohnt es sich in diesem Fall, sich für ein, zwei kurze Durchgänge durch Proteus' schillerndes Dreieinhalb-Bit-Gewusel vom klassischen Spielbegriff zu lösen, womit ich auch hoffentlich die Frage beantworte, ob zehn Euro für einen derart schmalen Umfang ein gerechter Preis sind. Spiele wie Proteus sind wichtig - und sei es nur, um uns bewusst zu machen, in welch engen Bahnen wir manchmal zu denken pflegen, wenn es um so etwas wie Genres und Kategorien geht. Oder, um es mit Frank Zappa zu halten, "ohne Abweichung von der Norm ist Fortschritt nicht möglich".