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Pyre - Test

Unterwelt-Prog-Rock-Fantasy-Basketball-Rollenspiel für Lesefreunde.

Eurogamer.de - Empfehlenswert Badge
Zum dritten Mal im dritten Spiel erfindet sich Supergiant Games neu - in einer wundervollen Chimäre aus Visual Novel und Sportspiel-RPG.

So langsam fragt man sich, was Supergiant Games eigentlich nicht kann. Keines ihrer nunmehr drei Spiele gleicht dem anderen. Bastion und Transistor hatten immerhin noch die Perspektive gemeinsam, gingen in ihren zentralen Interaktionen aber komplett unterschiedliche Wege. Pyre, drei Jahre nach dem letzten Werk des Studios, macht nun wieder etwas vollkommen Anderes. Neugierig macht das schon, wie und woraus dieses Studio lernt, wenn man doch so offenkundig mit jedem Projekt ganz von vorne anfängt.

The Banner Saga durch die Heavy-Metal-Linse betrachtet: Das Weltendesign von Pyre.

Aber es gibt sie schon, die Dinge, die alle drei Titel einen und die auch Pyre zu einem unverwechselbaren Supergiant-Spiel machen. Der Wille, sich wieder und wieder neu zu erfinden, anstatt bequem auf dem Erfolg von Bastion aufzubauen, ist da nur der Anfang. Mal wieder erdachten die Entwickler eine farbenfrohe, eigenständige, aber düster angehauchte Fantasiewelt, mal wieder richtet sich ein Sprecher in direkter Rede an den Spielercharakter. Ausdruck des Spielers in seinen Aktionen ob auf dem Schlachtfeld oder in der Handlung steht einmal mehr im Vordergrund, während vertraute Konzepte in seltsam anmutende Korsette gespannt werden. Und die Musik von Darren Korb - die ist natürlich auch wieder wie von einem anderen Stern. Myteriös-verwunschener Reise-Folk, der mal wieder perfekt begleitet, aber auch bestens für sich allein steht.

Genauso wie die Entwickler sich immer wieder selbst herausfordern, ist das Einlassen auf einen Supergiant-Titel ist immer schon ein Spiel für sich. Weil ihre Ästhetik auf unkonventionelle Art schön ist, anstatt sich gängigen Idealen anzubiedern, weil jede neue ihrer Welten immer auch die Bringschuld einfordert, sich in sie reinzudenken und nicht zuletzt, weil ihre Gameplay-Zyklen es sich immer verkneifen, über die Jahre angeeignete Automatismen abzurufen. Ok, für Bastion gilt das sicher noch nicht so durchgängig, aber schon Transistor verschmolz ein bisschen verquer Cyberspace-Strategie mit Action-Rollenspiel. Und Pyre? das lehnt sich spielerisch nun noch weiter aus dem Fenster. Das ist eingangs nicht zwangsläufig intuitiv, aber endlos mutig und wahnsinnig spannend aufzudröseln. Irgendwann dann hat man es so gut verinnerlicht, dass es einem überhaupt nicht komisch vorkommt, Pyre als Mischung aus Visual Novel, Fantasy-Basketball, Echtzeit-Schach und Party-Rollenspiel zu beschreiben.

Die Charaktergestaltung gefällt mit sparsam animierten, aber ausdrucksstarken Figuren mit wundervoller Fantasie-Sprachausgabe. Mein Favorit: Sir Gilman, ein theatralischer Unterwasserwurm in Ritterrüstung.

Aber ja, anders geht's irgendwie nicht. Worum es geht? Euer Spielcharakter erwacht ohne Erinnerung an seine Identität in der "Downside", einem Exil-artigen Fegefeuer. Drei fahrende Exilanten lesen euch Häufchen Elend auf und sehen in euch einen Leser, die man nicht allzu häufig antrifft, denn Lesen ist in dieser Welt verboten. Zusammen mit den Dreien - der besonnene Hedwyn, Dämonen-Lady Lodariel und das schnauzbärtige Hundewesen Rukey Greentail - wollen sich aus der Downside ins "Commonwealth" zurückkämpfen - und das geht nur, indem man in uralten Riten triumphiert. Es ist eine Art Oregon Trail, die hier stattfindet (The Banner Saga wäre ein jüngerer, auch nützlicher Referenzpunkt). Gut 65 Prozent nimmt das Ziehen eures Jenseitigen-WG-Planwagens durch die fantasievollen Landschaften ein, immer wieder unterbrechen Dialoge mit euren Gefährten eure Reise, ebenso wie Entscheidungen darüber, welcher von diversen Wegen möglichen einzuschlagen sei.

Die Figuren sind ebenso exzentrisch wie plastisch geschrieben, man bekommt wirklich ein Gefühl dafür, um wie sie ticken und auch untereinander entwickeln sich die Beziehungen zaghaft, aber doch spürbar. Ihre hübschen, großformatigen Charakterporträts verzieren die Textfenster nach Art klassischer japanischer Rollenspiele ausnehmend hübsch, aber ums reichliche Lesen kommt man nicht herum. In dem Zusammenhang gefiel mir aber besonders, dass Pyre nicht achtlos, wie viele andere klassischer ausgelegte Fantasy-Spiele, stumpf mit Eigennamen und dieser speziellen Fiktion eigenen Fremdwörtern um sich wirft. Fast immer, wenn ein neues Wort im Text auftaucht, darf man den Cursor darüberhalten und bekommt eine kurze, aber ebenso liebevoll geschriebene Erläuterung, worum es sich handelt.

Die Riten sind im ersten Drittel viel zu leicht und zu dünn gesät, als dass zwischen den lngen Dialog- und Oberweltabschnitten wirklich ein Fluss aufkommen würde. Später wird's besser. Jede Arena verfügt übrigens über eigene Hindernisse und geografische Widrigkeiten.

Die restlichen 35 Prozent von Pyre stellt das geschicklichkeitsbasierte, aber sehr taktische Kräftemessen der Riten. Hier stehen sich zwei Teams aus jeweils drei Teilnehmern gegenüber, hinter ihnen der namensgebende Scheiterhaufen; eine meterhoch lodernde Flamme, die es zu löschen gilt, will man triumphieren. Das geschieht, indem man eine Sphäre (um nicht zu sagen "einen Ball"), die in der Mitte des Spielfeldes abgesetzt wird, in das Feuer des Gegners trägt. Wirklich gekämpft wird hier nicht, Spieler werden nur "gebannt", für gewisse Zeit aus dem Spiel genommen, wenn sie die Aura eines Gegners berühren, die zunächst jede Figur umgibt. Gesteuert wird in Echtzeit, allerdings kann sich immer nur eine Figur eines Teams bewegen. Und wer die Sphäre aufhebt oder zugespielt bekommt, verliert vorübergehend seine schützende Umrandung, wird zum Freiwild, zum Gejagten, während die Verteidiger ihre Auren auch verschießen können.

Mit Sprüngen (mit denen man die nur am Boden wirksamen Auren überwindet) oder durch Werfen des Balles entgeht man den Verteidigern und kann auch dann noch punkten, obwohl man prinzipiell wehrlos ist. Jede Figur verfügt dabei über ein eigenes Bewegungsmuster. Allgemein gilt: Je schneller eine Figur, desto geringer ihre Löschwirkung auf den Pyre des Gegners, sie erzielt also weniger Punkte. So hält das Spiel die Balance, denn dass es mit der tonnenschweren Dämonin Lodariel kniffliger ist, das Feuer auf der anderen Seite des Feldes zu erreichen als mit Hundewesen Rukey oder dem teilweise flugfähigen Fledermausteufelchen Ti'zo, ist klar. Bei aller Taktik, wie wann mit welcher Figur vorzugehen ist, sind die Riten durchaus schnelle und motivierende Ereignisse, und eine schöne Alternative zu den üblichen Rollenspielkampfsystemen. Charakterwerte, die neben dem Schaden am Pyre die Schnelligkeit, die Größe der Aura, die Dauer bis zum Respawn bestimmen, steigern sich mit der Zeit und jede Figur verfügt über zwei kurze Skilltrees, die die individuelle Vorgehensweise mit ihnen modifizieren.

Die Charakterentwicklung ist überschaubar. Muss sie auch sein. Angesichts der Rotation, die das Spiel im Verlauf erzwingt, sollte man die Eigenheiten und Talente jeder Figur ohne großes Überlegen abrufen können.

Es steckt viel Tiefe drin, in diesem Regelwerk, weshalb es ein bisschen schade ist, dass die Riten im ersten Drittel des Spiels (und etwas darüber hinaus) so erschreckend einfach sind, dass man sich lange fragt wann denn endlich die Tiefe ins Spiel kommt. Und selten sind sie noch dazu, während das Spiel versucht, seine zugegebenermaßen wunderschöne Exposition über Welt und Charaktere unterzubringen. Ab dann aber geht es in deutlich höherer Frequenz in die Riten und vor allem auch gegen fordernde Gegner, es stellt sich ein gewisser Rhythmus ein und das Spiel findet auf die Füße. Vor allem, weil es hier ist, dass ihr merkt, dass das Spiel immer weitergeht, ob ihr nun gewinnt oder verliert. Euer Gefolge und die Handlung reagiert sogar darauf, was zusätzliche Durchläufe begünstigt.

In dieser Phase des Spiels wird den meisten auch auffallen, dass sich das Party-Rollenspiel in Pyre gegen eine weitere Konvention stemmt. Es ist der vielleicht größte Geniestreich des Spiels und einer, der sich erst am Ende des ersten Aktes offenbart. Ich will aus Spoiler-Gründen nicht näher darauf eingehen, aber er verändert die Stimmung des Spiels ebenso grundlegend wie euren Ansatz, welche Leute ihr in den Matches aufstellt. Pyre verkehrt hier eines der zentralen Konzepte von RPGs und macht aus einer Power-Fantasy ein Spiel mit den Gegebenheiten, und eines, das sich im Kern um das Thema Abschied dreht.

Pyre spart trotz der düsteren Prämisse und der häufig sehr melancholischen Stimmung nicht an Farben und wohldosierter Leichtherzigkeit.

Abseits der Handlung locken in eurem Planwagen auch ein Herausforderungsmodus gegen attraktive Belohnungen sowie Übungsmatches. Vom Hauptmenü aus darf man die Riten auch im (leider ausschließlich) lokalen Zwei-Spieler-Modus angehen, was erstaunlich viel Spaß macht, aber einen Kontrahenten erfordert, der das Spiel ebenfalls lange gespielt hat, sonst hat hier nur einer Spaß - und der auch nur kurz. Ein Online-Modus wäre hier daher umso schöner gewesen. Dass er fehlt ist verständlich. Wenn es dem (kleinen) Entwickler so sehr um die Handlung und das Erleben der Welt geht wie hier, ist der beachtliche Mehraufwand, den die Entwicklung eines Online-Parts bedeutet, wohl nicht zu stemmen.

15 Stunden braucht man ungefähr und darf sich in einer Weltengestaltung ergehen, die sichtlich Inspirationen aus Prog-Rock-Plattencovern der Siebzigerjahre zog, lernt Charaktere kennen, über die man gerne noch mehr erfahren hätte und geht auf in dieser Fremdartigkeit, selbst dann noch, wenn man eigentlich deutlich weniger Lesestoff erwartet hatte. Das hier ist nicht für jedermann, so viel ist klar. Und auch ich bewundere Pyre eher als dass ich es liebe. Aber als eigenständiges, eigenwilliges Werk eines der talentiertesten und mutigsten Studios unserer Zeit, sollte man es auf jeden Fall gespielt haben. Es gibt nichts Vergleichbares.


Entwickler/Publisher: Supergiant Games - Erscheint für: PS4, PC - Preis: 19,99 Euro - Erscheint am: Termin - Sprache: Englisch - Mikrotransaktionen: Nein - Getestete Version: PC

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