Rage 2 will die Grenzen zweier Genres überwinden, indem es ein drittes schafft
"Wir verheiraten den klassischen id-Shooter mit einer offenen Welt und kreieren damit etwas Einzigartiges."
Rage 2 versucht viele Fehler seines etwas windschiefen Vorgängers auszumerzen, den größten hat es bereits im Sack: eine klare Vision. Was id Software vor sieben Jahren veröffentlichte, war ein faszinierender, gleichwohl merkwürdig inkonsistenter Flickenteppich verschiedenster Versatzstücke, eine ungefilterte Anhäufung interessanter Ansätze, der eine stringentere Marschroute gut zu Gesicht gestanden hätte. Obwohl der neonfarbenen Explosion des Nachfolgers die Lust am Exzess aus jeder Pore dringt, ist das zu beackernde Feld bereits jetzt in aller Konsequenz abgesteckt. Rage 2 mag Wahnsinn sein, aber Wahnsinn mit System.
Das ist auch und gerade die Leistung von Magnus Nedfors. Der schwedische Game Director muss nicht nur die nach allen Seiten auseinanderstiebenden kreativen Prozesse eines, sondern gleich zweier Studios kanalisieren. Nachdem sich id Software mit dem Erstling etwas verhoben und seine angestammte Komfortzone komprimierter, linearer Shooter zugunsten eines weitläufigeren Abenteuers verlassen hatte, hat Bethesda die Texaner mit den Open-World-Spezis von Avalanche verkuppelt. Nicht weniger als "das Beste zweier Welten" soll dabei rumkommen, ein gewichtiger id-Shooter in einer verspielten, weitläufigen Welt.
Dieser "Warum ist da eigentlich noch niemand früher drauf gekommen?"-Plan scheint bislang absolut aufzugehen, wie sich bei unserem Studiobesuch in Stockholm herausstellte. Was dafür neben viel Fingerspitzengefühl und einem Händchen für Arbeitsteilung noch notwendig ist, erzählte uns Nedfors im Gespräch vor Ort.
Als unmittelbar Betroffene wart ihr vom Rage-2-Leak durch Walmart Canada vermutlich noch überraschter als der Rest des Internets. Wie war die Stimmung in den ersten Stunden und Tagen danach?
Nedfors: Nachdem sich die erste Überraschung gelegt hatte, war ich vor allem davon beeindruckt, wie souverän unsere PR-Kollegen damit umgingen. Sie haben nicht die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, sondern sie als Chance begriffen, ein wenig Spaß zu haben.
Wie kam es zur Zusammenarbeit zwischen Avalanche und id Software? Trat eines der Studios mit einem Pitch an das jeweils andere heran, oder fungierte Bethesda als Vermittler?
Nedfors: Ein bisschen von beidem, um ehrlich zu sein. Avalanche steht fortwährend mit vielen verschiedenen Publishern in Kontakt und seit geraumer Zeit führen wir auch mit Bethesda Gespräche. Ich wusste, dass sie bereits länger an uns interessiert waren. Wir hatten natürlich ebenfalls großes Interesse daran, mit Bethesda und speziell mit id Software zusammenzuarbeiten. Irgendwann traten sie also mit einem Angebot an uns heran: "Hey, Leute, wir hätten da eine Idee für ein Kooperation." Als sie uns schließlich fragten, ob wir gemeinsam mit id Software an einer Fortsetzung von Rage arbeiten wollten, waren wir natürlich Feuer und Flamme.
Glücklicherweise fragten sie uns just nach einem Spiel, als wir gerade die Möglichkeit hatten, mit einem neuen Projekt zu beginnen. Es war das richtige Angebot zur richtigen Zeit. Sofern man beständig miteinander im Gespräch bleibt, ergeben sich solche Gelegenheiten irgendwann von selbst.
Auf welche Schwierigkeiten stößt man bei einer Koproduktion, wenn beide Studios mehrere Zeitzonen und tausende Kilometer voneinander entfernt sind?
Nedfors: Die siebenstündige Zeitverschiebung ist definitiv das größte Problem und etwas, an das wir uns erst gewöhnen mussten. Im Gegensatz dazu spielt die geographische Distanz dank Online-Videokonferenzen, der Datenübertragungsrate im Internet usw. kaum noch eine Rolle.
In jeder anderen Hinsicht lief die Zusammenarbeit seit dem ersten Tag absolut reibungslos. Die Mentalität unserer Studios ist sehr ähnlich: Beide sind ein wenig verrückt, ein wenig over-the-top. Wir nehmen weder uns noch unsere Spiele übermäßig ernst. Für beide Studios geht es in erster Linie um eine spaßige Spielerfahrung - dadurch sind wir speziell zu Beginn der Konzeptionsphase sehr schnell zusammengewachsen.
Wie ist die Arbeitsteilung zwischen beiden Teams organisiert: Arbeitet jedes Studio ausschließlich an seinem Aspekt des Spiels?
Rage 2 wird überwiegend in Stockholm entwickelt. Es basiert auf unserer "Apex"-Engine, an der wir über die vergangenen Jahre hinweg gefeilt haben, also entsteht es hauptsächlich bei uns, wenn man so will. Mit dem Erstellen von Assets oder dem Schreiben des Codes ist es beim Entwickeln eines Spiels aber längst nicht getan. Es geht auch darum, sich neue Ideen einfallen zu lassen, Tests durchzuführen, für ein knackiges Spielgefühl zu sorgen und so weiter. All diese Elemente entstanden und entstehen in enger Zusammenarbeit beider Studios.
Tim [Willits] und ich übernehmen eher kreative Aspekte und hatten gerade zu Beginn der Entwicklung nahezu täglich Kontakt. Auch mit anderen Bereichen betraute Gruppen tauschen sich aber in wöchentlichen Konferenzen aus. Unsere Animatoren haben etwa eng mit denen von id Software zusammengearbeitet und beide Seiten konnten eine Menge Wissen austauschen.
Nun ist id Software für vieles bekannt, vor allem aber für seine technische Expertise. Trotzdem basiert Rage 2 auf der "Apex"-Engine. Wie kam es zu dieser Entscheidung und war sie so etwas wie ein Ritterschlag für Avalanche?
Nedfors: Lass es mich mal so formulieren: Wir sind technisch ebenfalls durchaus beschlagen. Wir sind Experten, was das Entwickeln von Open-World-Spielen anbelangt. Unsere gesamte Technologie ist darauf ausgelegt. Wir alle spielen und entwickeln für unser Leben gern Open-World-Spiele. Das ist es, was wir hier bei Avalanche tun.
Als wir zu Beginn mit id über die Ausrichtung des Spiels gesprochen haben, wollten alle Beteiligten eine offene Welt erschaffen - nicht nur wir, sondern auch sie. An dieser Marschrichtung gab es von Anfang an nichts zu rütteln. Damit wir aber auch die Art von Spielwelt entwickeln konnten, die uns vorschwebte, mussten das Ganze auf der "Apex"-Engine basieren. "Mit eurem Wissen und Talent können wir einen id Shooter innerhalb einer Avalanche-Welt kreieren", das war unser Credo. Im Grunde stand die Frage nach der genutzten Technik also nie wirklich im Raum - die Wahl fiel mehr oder weniger von selbst auf unsere Engine.
Wie oft wurdet ihr bereits nach Lootboxen und einem Battle-Royale-Modus gefragt?
Öfter als uns lieb ist. [Lacht] Aber nein, wir werden weder Lootboxen noch einen Battle-Royale-Modus anbieten.
Rage 2 zieht offenkundig viel Inspiration aus Spielen wie Mad Max, Just Cause und Doom. Doch was hebt es von diesen Vorbildern ab, was macht es einzigartig?
Nedfors: Die Kombination all dieser Elemente. Wir verheiraten hier einen id-Shooter mit einer typischen Avalanche-Open-World. Für mich ist das etwas Einzigartiges. Klar, es gibt mehr als genug Open-World-Shooter auf dem Markt. Wir injizieren unserem aber die Over-the-top-Action, die sowohl id als auch wir so lieben - das hebt uns von anderen ab. Rage 2 ist überdrehter, intensiver, es ist rasend schnell, es hat jede Menge Action und noch mehr Explosionen - die Leute stehen auf Explosionen!
Wir haben bislang viel von der offenen Welt gesprochen, aber kaum davon, was diese für uns bereithält. Welche Aufgaben und Zerstreuungen können wir neben den Hauptmissionen erwarten?
Unsere Hauptmissionen machen nur einen kleinen Teil des Spiels aus. Wir wollen den Spielern auf ihrer Tour durch die Welt möglichst viele Aktivitäten anbieten und gewissermaßen ist bereits das ziellose Erkunden selbst eine. Natürlich kann man den "Fortschritt" darin schlecht in Zahlen messen, aber wer will, kann jede Menge neuer Gebiete entdecken.
Ansonsten sind natürlich viele Aktivitäten Shooter-basiert, weil wir, na ja, nun mal einen Shooter entwickeln. Darum geht es hier schließlich. Warum es zu all den Gefechten kommt, variiert aber von Gebiet zu Gebiet. Ich kann leider noch nicht konkreter werden, aber es wird auf jeden Fall mehr als genug zu tun geben.
Bereits mehrmals wurde die Präsenz des Spielers in der Welt und die Konsequenzen seiner Handlungen angerissen. Was genau können wir uns darunter vorstellen?
Nedfors: Alles, was ihr tut, hinterlässt Spuren in der Welt. Vertreibt ihr eine Banditengruppe aus einem Teil der Welt, werden sich dort womöglich andere Leute niederlassen. Genauso könnt auch einem Händler beim Eröffnen eines neuen Geschäfts helfen. Doch was ihr auch tut: Jede eurer Aktionen wird sich auf eure Umwelt auswirken. Auf diese Weise formt jeder Spieler seine ganz eigene Welt.
Das Gunplay von Rage 2 weist offenkundig zahlreiche Parallelen zu Doom 2016 auf und fühlt sich daher ähnlich wuchtig an. Trotzdem könnte die Struktur beider Spiele unterschiedlicher kaum sein. Doom schleust seine Spieler durch lineare, vergleichsweise kleine Abschnitte. id Software hat diese bewusst so angelegt, dass sie das Verhalten und Vorgehen der Spieler bestmöglich voraussagen können, was ihnen wiederum erlaubt, eine gewaltige Action-Choreographie zu inszenieren.
Im Gegensatz dazu wirft uns Rage 2 in eine riesige, offene Welt. Spieler können ihre Ziele in beliebiger Reihenfolge und buchstäblich aus allen Richtungen angehen. Das macht es für euch als Entwickler nahezu unmöglich, ähnlich orchestrierte Schießereien zu erzeugen, wie id es in Doom tat. Daher die Frage: Welche Anpassungen waren notwendig, um den typischen Doom-Flow auch abseits enger Action-Schläuche beizubehalten? Was hat euch die größten Probleme beim Erzeugen intensiver Kampfsituationen innerhalb einer offenen Welt bereitet?
Nedfors: Das ist einer jener Punkte, die uns zu Beginn der Entwicklung das meiste Kopfzerbrechen bereitet haben. In Doom ist weitestgehend klar, mit welchen Waffen der Spieler einen Raum betritt, aus welcher Richtung er das tut und wie seine Spielerfahrung bis zu diesem Punkt aussah. In offenen Welten gibt es diese Gewissheiten für uns Entwickler nicht; wir wissen ja nicht mal, mit welcher Ausrüstung ein Spieler ausgestattet ist, da sowohl Fähigkeiten als auch Waffen in völlig verschiedenen Reihenfolgen gefunden werden können. Trotzdem sahen wir uns mit der Herausforderung konfrontiert, vor dieser Ausgangslage eine ähnliche Kampfdynamik wie in Doom zu erzeugen. Ausgehend von unseren Erfahrungen mit früheren Spielen sowie id Softwares Shooter-Expertise war jedoch schnell klar, wie wir uns diesem Problem nähern mussten: über die künstliche Intelligenz unserer Gegner.
Wir haben lange die Köpfe zusammengesteckt, uns immer wieder andere Szenarien überlegt, aber am Ende lief es stets auf die KI hinaus und darauf, wie sie in unterschiedlichen Situationen reagiert. Wir mussten sie verstärkt darauf trimmen, eher systemisch als gescriptet zu agieren. In linearen Spielen pflanzt man der KI vor allem wiederkehrende Routinen ein, man sagt ihr zum Beispiel: "Du läufst von A nach B und gehst anschließend hinter C in Deckung." Dieses Vorgehen funktioniert in offeneren Welten allerdings nicht. Stattdessen muss eine KI dort analytisch an eine Situationen herangehen: "Okay, wenn der Spieler dort drüben ist, ergibt sich daraus für mich als Gegner die Gelegenheit, ihn von Punkt XY in den Rücken zu fallen."
Außerdem muss eine künstliche Intelligenz natürlich in der Lage sein, die ihr zur Verfügung stehenden Werkzeuge der Situation angemessen zu nutzen und den Spieler genau zu beobachten. Als Spieler könnt ihr aus verschiedenen Richtungen in denselben Kampf einsteigen. In Innenbereichen ist die ganze Angelegenheit natürlich ein wenig linearer, aber die Grenzen von Innen- und Außenarealen sind oft fließend, das macht es für uns nicht leichter. Völlig ohne Schlüsselpunkte kommen wir deshalb auch nicht aus. Wir müssen zumindest gelegentlich wissen, dass Spieler an Punkt X gehen müssen, um Schalter Y umzulegen.
Das kommt jetzt vielleicht ein bisschen großspurig rüber, aber ich sag's trotzdem, was soll's: Wir entwickeln "echte" KI, während andere Shooter ihren Routinen einfach sagen, was sie zu tun haben. Für uns ist eine KI, die Situationen analysieren und entsprechend reagieren kann, absolut unverzichtbar. Das ist der gravierendste Unterschied und zugleich die größte Herausforderung.
Mit dem Phoenix haben Spieler ihren eigenen Buggy zur Verfügung, der sie über das gesamte Spiel begleitet und sukzessive zur rollenden Festung ausgebaut werden kann. Aber warum sollte man sich noch hinter das Steuer eines anderen Fahrzeugs setzen, wenn man seinen persönlichen Wüstenpanzer in der Garage hat?
Nedfors: Nun, natürlich zwingt euch niemand dazu. Aufgrund der großen Auswahl verschiedener Fahrzeuge wird es aber ziemlich verlockend sein, auch mal ein anderes Vehikel zu nutzen. Klar, es gibt den Phoenix, der vermutlich die beste Wahl für kampfbetonte Manöver ist. Andere Wagen sind aber womöglich schneller und effektiver darin, unwegsames Gelände zu passieren. Für verschiedene Situationen gibt es verschiedene Fahrzeuge - und zwar jede Menge davon.
Wird es möglich sein, andere Wagen ebenfalls über eine längere Zeit zu behalten, oder muss man jedes Mal aktiv nach ihnen suchen?
Nedfors: Sagen wir mal so: Es wird ein System geben, mit dem ihr Fahrzeuge sammeln könnt.
Warum hätte es euch nicht aus der Ruhe gebracht, wenn auf der E3 ähnlich gelagerte Spiele wie Borderlands 3, Brink 2 und Bulletstorm 2 angekündigt worden wären?
Nedfors: Jetzt rede ich eher als Magnus der Spieleentwickler, nicht der Business-Typ. Aber würde ich mir über alle anderen Spiele da draußen den Kopf zerbrechen, wäre ich niemals in der Lage, das zu tun, was ich täglich mache. Man muss einfach cool bleiben können. Vor allem aber muss man Vertrauen in sein eigenes Spiel besitzen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir an einem einzigartigen Produkt arbeiten, das sich im Markt behaupten wird.
Natürlich gibt es ähnliche Spiele. Bei derart vielen Spielen auf dem Markt bleibt das nicht aus. Doch das spielt kaum eine Rolle. Entscheidend ist, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, an das zu glauben, was man tut, und kontinuierlich die Dinge voranzutreiben, die einem wichtig sind.
Ich respektiere viele andere Entwickler und habe jede Menge Spaß damit, ihre Spiele zu spielen. Trotzdem glaube ich, dass Rage 2 diesen durchaus einiges voraus hat. Es ist das überdrehteste, das actiongeladendste der genannten Spiele und wird seinen Platz finden.