Rage 2 wird nicht, was der erste Teil hätte sein sollen - es wird mehr als das
Die Antwort auf die Frage, warum wir Videospiele spielen.
Rage 2 fackelt nicht lange. Keine Spur von falscher Bescheidenheit oder unsicher dahingestotterten Begrüßungsfloskeln. Alles hieran ist ein Null-auf-hundert-Spiel, sei es der offensiv-humorige Konter des ärgerlichen Walmart-Leaks, der Verzicht auf geschönte CGI-Ankündigungs-Trailer zugunsten tatsächlicher Spielszenen oder so ziemlich alles an dem neonfarbenen Fiebertraum, der sich nach dem Startmenü über euren Bildschirm ergießt. Der zweite Teil hat seinem etwas handzahmen und für ein Spiel voller kreischender Mutanten sowie donnernder Wüstenbuggys erstaunlich zugeknöpften Vorgänger bereits jetzt einiges voraus. Diese gelöste Handbremse, der unverfälschte, kompromisslose Spaß an dröhnendem Exzess strömt Rage 2 aus jeder Pore und komplementiert das anarchische Szenario auf eine Weise, wie es dem Erstling vor sieben Jahren zu keinem Zeitpunkt gelang.
So viel Wahnsinn hätte man den grundsympathischen, bodenständigen Menschen hinter Avalanche gar nicht zugetraut. Fast ein wenig schüchtern führten sie bereits vor der E3 eine schlurfende Redakteursmeute durch ihr lichtdurchflutetes Büro im Herzen Stockholms, von dem ich mich im Nachhinein frage, in welche dunkle Ecke es die Arbeiten an Just Cause 4 und Generation Zero verbannte. Das Gebäude mit Blickkontakt zum gegenüberliegenden Dice-Hauptquartier empfing an diesem Tag neben international zusammengewürfelten Pressevertretern auch eine Handvoll Id-Software-Entwickler, allen voran Studiochef Tim Willits. Gemeinsam mit Avalanches John Fuller, dessen Jobtitel sich am besten als "extrem wichtig" zusammenfassen lässt, sprach er im augenzwinkernden Duktus eines Mannes mit über zwanzigjähriger Erfahrung über die Fehler des 2011 erschienenen Vorgängers und die augenscheinlichen Vorteile dieser überraschenden Kooperation.
Für gewöhnlich wäre das nun der Zeitpunkt für gegenseitige Lobhudeleien und obwohl auch Willits und Fuller nicht völlig ohne dieses Ritual auskamen, verdrängte ihre aufrichte Anerkennung füreinander doch jeden Anflug von Fremdscham, der diesen Situationen für gewöhnlich zu eigen ist. Mehr noch als an der ungestelzten Wortwahl lag dies in der gegensätzlichen Ausrichtung beider Studios begründet. Avalanche und Id Software sind Meister ihres Fach, doch ihre Expertisen könnten kaum weiter auseinanderliegen: Während die Texaner auf engstem Raum penibel choreographierte Gewaltorgien inszenieren und Spieler damit (auf die bestmögliche Art) an der kurzen Leine halten, gewährt man diesen in den 8.000 Kilometer weiter östlich gezimmerten offenen Welten ein Höchstmaß an Freiheit.
Diese auf den ersten Blick kaum zu vereinbarenden Stärken soll Rage 2 in sich vereinen, und nicht nur gemessen an den während der starken Bethesda-Pressekonferenz abgefeuerten Szenen scheint der Plan bislang hervorragend aufzugehen. Wenn man dem knapp siebenminütigen Gameplay-Feuerwerk irgendetwas vorwerfen konnte, dann höchstens, nicht live gespielt worden zu sein. Ob man die ohnehin lange Show-Laufzeit nicht weiter aufblähen wollte oder warum auch immer die Entscheidung gegen live eingespielte Szenen ausfiel: Sie hatte jedenfalls nichts mit dem eigentlichen Shooter zu tun.
Der spielt sich nämlich exakt so performant, peitscht euch genauso erbarmungslos voran wie all das, was bislang über die offiziellen Kanäle an die Öffentlichkeit drang. Was ab der Zweieinhalb-Minutenmarke des E3-Features abging und vor Ort in Stockholm spielbar war, wird zu gleichen Teilen von einem guten Schuss der grandiosen Doom-DNA sowie dem Spiel mit der Bewegung und über bloße Schusssalven hinausgehenden Fähigkeiten befeuert. Mit beeindruckender Wucht schiebt sich jede einzelne der 100 pro Minute abgefeuerten Kugeln erst aus dem glühenden Lauf eurer Waffe und Sekundenbruchteile später bereits in alles, auf das sie trifft - seien es in gleißenden Feuerbällen zergehende Fässer oder die zerfurchten Großhirnrinden eurer Feinde.
Id-Spiele im Allgemeinen und Rage 1 sowie Doom im Besonderen sind Lehrstücke von in Videospielen zelebrierter Körperlichkeit. Jede Aktion erfordert eine Reaktion, und wenn a) eine aus nächster Nähe abgefeuerte Schrotflintensalve und b) ein armer Teufel wenige Zentimeter vor der Mündung ist, ergibt c) wahlweise entsetzte Blicke oder glucksendes Gegacker, in jedem Fall aber einen von Blut und Gekröse verzierten Ragdoll-Effekt. Mit auf Maximum gedrehter Schlagzahl fräst ihr euch auf diese Weise durch eingedellte Mutanten- wie irokesenfrisierte Menschenschädel. Währenddessen erfreut ihr euch nicht nur am chaosstiftenden Werkzeug zwischen euren verkrampften Fingern, sondern an all den kreativen Möglichkeiten, die sich in Kombination mit den zusätzlichen Fähigkeiten des stoischen Protagonisten ergeben.
Hey, niemand dreht euch eine Nase, wenn ihr das Abenteuer lediglich mit durchgedrückter rechter Schultertaste bewältigen wollt. In diesem Fall entgeht euch aber eines der größten von Rages zahlreichen Alleinstellungsmerkmalen - und eine jener überdrehter Erfahrungen, für die wir Videospiele lieben. Wo sonst könnt ihr Granaten-Baseball-spielende Punks via Ground-Pound in die Höhe befördern, mit einem Wingstick-Bumerang noch aus der Luft pflücken und an eine Wand neben ein Gegnergrüppchen nageln, ehe ihr mit einem Raketenwerferschuss die gesamte Gang auf einen Schlag zerbröselt? Breit grinsend halten euch die Entwickler einen bunten Strauß absurder Skills entgegen, die ihr in ihrem DIY-Baukasten nur noch auf möglichst kreativ-makabere Weise aneinanderreihen müsst, bis ihr eure Feinde im Overdrive-Modus schließlich als fleischgewordener Berserker mit Dauerbeschuss in der Luft jongliert, ehe sie dort wie mit rotem Glibber gefüllte Piñatas zerplatzen. Klingt gut, sieht fett aus - und fühlt sich noch viel besser an. All das soll aber nicht nur Trailer-tauglicher Selbstzweck, sondern bis zu einem gewissen Grad notwendig sein, um mit angemessenen Strategien auf die verschiedenen Fraktionen und Gegnertypen reagieren zu können.
Wer den Id-Teil von Rage 2 unter "Sichere Bank" verbucht, lehnt sich damit jedenfalls nicht sonderlich weit aus dem Fenster. Etwas mehr Zurückhaltung verlangt hingegen noch die Avalanche-Seite eines Open-World-Spiels, über dessen Welt bislang wenig mehr als eine grobe Verortung der Geschichte durchgesickert ist. Grob über den Daumen gepeilt 25 Jahre liegt der grau-braune Erstling zurück - Zeit genug für die gebeutelte Erde, sich einen Teil ihrer zur trostlosen Wüste zerbombten Oberfläche zurückzuerobern. "In Rage 1 hatten wir eine Lieblingsfarbe: Braun", witzelt Willits. "Wir mochten sie so sehr, dass wir jede ihrer Schattierungen nutzen." Nun hingegen durchziehen leuchtende Farbkleckse die gesamte Landschaft, von zähflüssigen Sümpfen über dicht bewachsene Wälder bis hin hitzeflirrender Steppe.
Alle Bereiche sind miteinander verbunden: "Was ihr seht, könnt ihr auch erreichen", bringt es das Id-Urgestein auf den Punkt. Idealerweise legt ihr diese sportlichen Entfernungen hinter dem Steuer eines beliebigen Wagens zurück, mit denen ihr querfeldein durch die Walachei brettert oder Verfolger abschüttelt. Letzteres sollte in der Fahrerkabine des "Phoenix" kaum noch nötig sein, dem Batmobil der Postapokalypse, das ihr mit neuen Waffensystem und Karosserieteilen sukzessive zu einer Festung auf vier Rädern ausbaut. So zumindest die Theorie. Nichts davon war bislang spielbar, auch wenn ich mein Geld eher darauf verwetten würde, dass Bethesda derlei Elemente lediglich zum häppchenweisen Anfüttern bis zur Veröffentlichung im Frühjahr 2019 zurückhält - nicht etwa, weil man es verstecken müsste.
Ganz ohne den zur Zurückhaltung mahnenden Zeigefinger geht es also trotz aller Zuversicht auch bei Rage 2 nicht. Wie gesagt, noch wissen wir hier weitestgehend nichts über die Welt eines Open-World-Spiels, ausgerechnet. Und obwohl ich Avalanche in dieser Hinsicht gern einen gewissen Vertrauensvorschuss einräume, versäumten sie das Zerstreuen ähnlicher Befürchtungen bereits mit der Ödnis von Mad Max, dessen Welt vor allem groß und sonst nicht viel war. Auch die flapsigen Dialoge gehen den Bewohnern dieser irrwitzigen Post-Postapokalypse noch weit weniger gewitzt von den Lippen als etwa ihren Kollegen drüben bei Borderlands.
Doch all das ist ohnehin nichts, was diesen Adrenalinrausch noch bremsen könnte, sobald er erst einmal Fahrt aufgenommen hat. Mit Waffe im Anschlag und mutiertem Gesocks im Fadenkreuz verengt sich euer Blickfeld zusehends, bis ihr in einem neonfarbenen Tunnel der Gewalt von Gegner zu Gegner tänzelt, gleichermaßen berauscht von eurer eigenen todbringenden Choreographie und der Farbexplosion auf dem Bildschirm. Viel besser als das werden Videospiele nicht.
Entwickler/Publisher: Avalanche & id Software/Bethesda - Erscheint für: PC, PS4, Xbox One - Geplante Veröffentlichung: Frühling 2019 - Angespielt auf Plattform: PC