Defcon
Packende Striche
Mein Herz pocht wie wild, als die letzten U-Boote der eigenen Flotte im Einsatzgebiet auftauchen. Noch genau zwei Minuten und die Raketen sind schussbereit. Erstaunlich, wie langsam auf einmal die Uhr tickt. Plötzlich nähern sich drei Abfangjäger auf dem Radar. Kurz bevor sie zum Angriff übergehen, preschen meine Raketen in Richtung Richtung New York los und die U-Boote tauchen wieder ab. In nicht einmal 10 Minuten zerfallen in der anvisierten Metropole neun Millionen Einwohner zu Staub. Eine schrecklich hohe Zahl, ein erschütternder Gedanke. Ich weiß das, schlucke kurz...und grinse.
DEFCON spielt mit dem Gewissen. Was hier abläuft ist hässlich und krank, man führt einen knallharten Atomkrieg, um möglichst viele Punkte zu sammeln. Mit jedem getöteten Zivilisten auf feindlicher Seite wächst der Highscore, mit jedem Bürger, den man selbst preisgeben muss, schrumpft er. Ein brutales Spiel – ohne Blut, Splatter und herumfliegende Gedärme. Wenn per Skype verbundene Gegner jubeln, weil sie just irgendwo auf der imaginären Welt vier Millionen Stadtbewohner vaporisieren, stellt es mir die Nackenhaare auf. Obwohl es nur ein paar lächerliche Zahlen in einem Spiel betreffen, nur virtuelle Bürger. Es fühlt sich trotzdem am Rande falsch an, sich nur Sekunden später selbst darüber zu freuen, eines der Karos zu verkleinern, die auf der Weltkarte Städte darstellen. Da ist es völlig egal, dass die Grafik minimalistisch ist. Die ist halt einfach so, die muss so sein. Das lässt Platz für den eigenen Geist und für die Fantasie.
Der Ablauf der ultimativen Katastrophe
Alles fängt ganz friedlich an: Bei DefCon 5 platziert man Radaranlagen, Luftstützpunkte und Silos mit Raketenabschussrampen und Flugabwehr auf seinem Kontinenten, die Flotte mit U-Booten, Kriegsschiffen und Flugzeugträgern entlang der Küste. Ein unerbittlicher Countdown kündigt die nächste Alarmstufe an. Ein paar Clicks hier und da und der Aufbau-Part ist vorbei. Weitere Einheiten bekommt man im Spielverlauf nicht und sparen ist auch nicht möglich. In der zweitniedrigsten Stufe beschränkt sich die Handlungsfreiheit der bis zu sechs Mitspieler noch auf das Verschieben der Flotten, die ersten Kampfflugzeuge steigen in die Luft. Wer mit Skype spielt, schlicht Waffenstillstände oder gar Bündnisse. Ab DefCon3 lebt die sechsgeteilte Weltkarte auf.
Kampfflugzeuge und Schiffe beschießen sich, Flugzeugträger orten U-Boote und alles was unbefugt in Reichweite von Abwehrstationen kommt, wird gnadenlos vom Himmel gepustet. Dabei bietet jedes der sechs Gebiete einige Vor- und Nachteile. Europa ist klein und leicht mit Silos abzudecken. Grenzt dafür aber an drei potentielle Gegner, die in unmittelbarer Schlagdistanz auf die großen europäischen Städte liegen. Afrika hingegen ist weitläufig und auf den ersten Blick schwer vollständig zu schützen. Im Gegenzug liegen die großen Ballungsräume recht nah beieinander. So unausgewogen es auch zunächst scheinen mag, eingefleischte Strategen finden sich schnell zurecht und führen mit Geschick jede Macht zum Sieg.
Der Countdown tickt weiter und erreicht eine Stufe, die in der Realität glücklicherweise nur ein einziges Mal während er Kubakrise ausgerufen wurde – Defense Condition 2. Jetzt kommen die Bomber ins Spiel. Sie sind es, die die ersten Atombomben abwerfen - falls man ihnen den Weg ins Feindgebiet freimachen kann. Falls nicht, ballern die feindlichen Abfangjäger das Fluggerät schnell vom Himmel. U-Boote tauchen an den Küsten auf, man betrauert die ersten Toten. Es herrscht ein kleines Chaos. Und Paranoia! Geschlossene Bündnisse wandeln sich im Minutentakt. Nur keine Grenze bloßgeben, nur keinen Partner aus den Augen lassen. Die besten Freunde sind oft die größten Schweine.
DefCon 1 - Jeder stirbt
Die Hölle bricht aber erst so richtig los, wenn der höchste Alarmpegel erreicht ist. Überall auf dem Globus rüsten Flugabwehrstationen zu Abschussrampen für Nuklearwaffen um. “LAUNCH DETECTED“, blinkt es im Feindgebiet auf. Am Radar ist noch lange nichts zu sehen. Man wartet und visiert selbst die wichtigsten Ziele an, ganz bedacht natürlich. Wer zu früh los legt, vergeudet Raketen, weil der Feind sie abfängt. Wer verspätet abfeuert, tötet zu wenige, um zu gewinnen. Am Ende gleicht die Welt einer Wetterkarte – nur, dass die vereinzelten Schauer tödlich sind.
Und just in dem Moment, in dem die letzten Raketen auf die bevölkerten Städte rasen, schaltet jemand die Spielgeschwindigkeit auf langsam. Millimeterweise bewegen sich die Marschflugkörper, die Spannung steigt schier ins Unerträgliche. Noch ist nichts gewonnen, noch nichts verloren – alles kann sich in den letzten Sekunden des finalen Countdown entscheiden.
Selten ging ein so einfaches Spiel so tief. Was anfangs wie ein Strategiespiel mit wenigen Optionen aussieht, entfaltet schon nach wenigen Matches eine unheimliche taktische Komplexität und verursacht gewaltige Gefühlsausbrüche: Paranoia, schlechtes Gewissen, wahnsinnige Freude über schwere Treffer. Das kleine Arschloch in mir triumphiert, wenn ich kleine Orte zu Gunsten von großen Städten opfere. DEFCON entpuppt sich als intelligente Perle, die mit meinen tief verwurzelten Werten spielt, ohne dabei aber belehrend zu wirken. Das ist wichtig. Introversion hat einmal mehr alles richtig gemacht und aus ihren kleinen Mitteln etwas Großes erschaffen. Und vor allem zu dem Preis. Ich will DEFCON nicht mehr missen.
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