Sonic the Hedgehog
Mach's gut, alter Freund!
Ich öffnete meinem alten Freund die Tür. Ein bisschen überrascht war ich schon, denn wir hatten uns lange nicht gesehen. Gut schaute er aus! ’Das blühende Leben’ dachte ich noch, während er zu einer lässigen Handbewegung ausholte, um mich zu begrüßen: „Long time no see!“ schallte es mir entgegen – eine Floskel die ich schon immer für furchtbar pseudocool hielt. Aber Schwamm drüber! So ist er halt – der Sonic.
Nachdem wir ein paar steife Höflichkeiten ausgetauscht hatten, verlief die Konversation eigentlich ganz gut – natürlich abgesehen davon, dass eigentlich nur er sprach: „Prächtig“ ginge es ihm, einen „wunderbaren Selbstfindungstrip“ hätte er gerade hinter sich und er wüsste wieder „worauf es ankommt“. Konkurrent Shadow war schließlich spektakulär bei seinem Unterhaltungsauftrag gescheitert. Nun würde er wieder „die erste Geige spielen“. Als er plötzlich von der Couch aufstand, versprach er mir, dass die Welt wieder mit ihm rechnen könnte. Ab jetzt hieße es „Back to the Roots“, tönte er noch bedeutungsschwanger, bevor er die 40 Stufen unseres Treppenhauses in Rekordzeit nahm. Ich sah ihm noch kurz hinterher, als er in Richtung Autobahn verschwand. Gerne hätte ich ihm geglaubt.
Comeback-Show
Das Problem ist nur, dass Sonic derzeit in einer schwierigen Phase steckt. Seit dem Abgang von Papa Yuji Naka weiß Mama Sega anscheinend nicht so richtig wohin mit ihrem Ältesten, der jüngst seinen 15. Geburtstag feierte. Wenn man das frisch gebackene Scheidungskind bei seinem neuesten Abenteuer im Königreich Soleanna begleitet, wird man das Gefühl nicht los, dass Sonic gefangen ist, irgendwo im Niemandsland zwischen Pubertät und Videospiel-Greisentum. Zickig, widerspenstig und stilistisch seltsam orientierungslos auf der einen sowie erzkonservativ, uninspiriert und furchtbar gebrechlich auf der anderen Seite. Es kommt einfach alles zusammen, was die Geduld selbst engster Freunde auf eine harte Probe stellt.
Doch was treibt Sonic eigentlich nach Soleanna? Natürlich die liebreizende Prinzessin Elise. Die Porzellan-Schönheit harrt nämlich in der Gewalt von Dr. Eggman (weiß irgendjemand was für einen Doktortitel der überhaupt hat?) ihrer Rettung, während nebenbei noch Zeitreisen und das Ende der Welt eine Rolle spielen. Die einfallslose Geschichte untermauert ihre Existenzbereichtigung zwar ebenso eindrucksvoll wie hartnäckig mit hübschen In-Game-Cutscenes und noch besseren Render-Sequenzen, bleibt aber dennoch durchweg einfältig und vor allem uninteressant.
Märchenstunde
Ein Sonic hat eigentlich nie eine Story gebraucht, trotzdem besteht Sonic Team darauf, den Spieler zum Teil einer blassen Zauberwelt – die recht wahllos jeglichen Fantasy-Kitsch mit Realwelt-Versatzstücken mischt – zu machen: Bevor Ihr den jeweils nächsten High-Speed-Jump and Run-Abschnitt betreten dürft, künden Euch vor der detailarmen Stadtkulisse NPCs aus der Klonfabrik mittels schmuckloser Textboxen ihr Leid und bitten Euch gegebenenfalls, kleinere Problemchen für sie zu lösen. Während dieser magere Adventure-Part konzeptionell ohnehin schon nicht unbedingt von der attraktiven Sorte ist, bringt die beispiellos verstümmelte Infrastruktur des Spiels jeglichen Fluss komplett zum Erliegen. Beispiel gefällig?
Sonic begibt sich mithilfe des Radars zu seiner nächsten Zielperson und fordert sie zu einem Plausch auf. In einer Textbox wird der blaue Blitz nun gefragt, ob er helfen will. Fällt seine Antwort positiv aus, starrt man die nächsten knapp 25 Sekunden ungläubig einen Ladebildschirm an, nur um dann in exakt derselben Umgebung die Aufgabenstellung in ein bis zwei Sätzen erläutert zu bekommen. Habt Ihr begriffen, was man von Euch will, lädt das Spiel erneut 15- 20 Sekunden. Der zu absolvierende Parcour bzw. eine Hol-,Bring- oder Suchaufgabe dauert meist ungefähr eine Minute. Nach der Endabrechnung samt Ranking präsentiert Euch das Spiel erneut die schwarze Leere des „Now Loading“-Screens, gefolgt von den Jubelarien des Bittstellers.
Jetzt geht’s aber wirklich weiter, oder? Falsch! Bevor das zweifelhafte Abenteuer seinen Lauf nehmen darf, muss man noch eine weitere Rechenpause der 360 in Kauf nehmen. Wer das schon schlimm findet (und das ist es in seiner Regelmäßigkeit tatsächlich), dem erzähle ich besser nicht, was passiert, wenn man eine Aufgabe aus irgendeinem Grund noch einmal versuchen muss… . Vollkommen schleierhaft wie ein derartiger architektonischer Lapsus den Testern bei Sega entgehen konnte. Freilich fällt dies während der ziemlich espritlosen Adventure-Parts besonders auf. Doch auch vor und nach den Jump and Run-Passagen könnt ihr überdurchschnittlich lange das Joypad aus der Hand legen.
Trotzkopf
In der Zeit zwischen den Ladepausen wird Sonic auf einmal bockig wie ein Kandidat bei RTLs „Supernanny“. Die Hochgeschwindigkeitssequenzen, die seit jeher das Alleinstellungsmerkmal der Serie waren, leiden unter teils unbarmherziger Erbsenzählerei. des Kollisionssystems, katastrophaler Kameraführung und übersensibler Steuerung. Während Sonic schätzungsweise mit Warp 6 durch wahnwitzige Loopings und Korkenzieher scheppert, macht das Spiel – farbenfroh und mit knackscharfen Texturen – wie immer am meisten her. Bis man merkt, dass es dann eigentlich kein Spiel mehr ist, denn man wurde bereits zum Zuschauer degradiert.
Sollte man dies nicht wahrhaben wollen und trotzdem das Spiel zu steuern versuchen, bedeutet das tatsächlich eine Gefahr für Leib und Leben des Bläulings. Ehrlich wahr: Ich habe in einem Jump and Run noch nie dermaßen viele Bildschirmleben ohne offensichtliches Selbstverschulden lassen müssen. Immer hat man das Gefühl, dass Kollege Zufall die Zügel in der Hand hätte und nicht etwa man selbst. Angesichts der übersensiblen Steuerung kein Wunder. Selbst hochbegabte Feinmotoriker finden sich sehr oft abseits der Strecke wieder. Bei den spektakulären Kameraschwenks weiß man nie so genau, welche Eingaberichtung das Programm derzeit von einem erwartet oder ob überhaupt ein Eingreifen des Spielers erwünscht ist. Erschwerend hinzu kommt noch, dass viele Absprungpunkte schlecht einsehbar oder nur schwer zu treffen sind – so etwas darf in einem Jump and Run dieser Größenordnung einfach nicht passieren. Schwer zu sagen, warum ein Spiel dieses Tempos derart unerbittlich mit dem Spieler ins Gericht geht.
Geht beim Handling dann doch mal alles glatt, hilft eben das Leveldesign nach: Mit all seinen Abzweigungen und versteckten Rails zum Grinden machen einige Level einen recht imposanten Eindruck und laden sogar dazu ein, alternative Routen zu testen. Landet man aber nicht millimetergenau auf einer solchen Schiene ist’s Essig mit der Schlitterpartie. Obendrein bremsen nicht selten unvermittelt hereinploppende oder schlicht unfair platzierte Hindernisse den Igel in 0,2 Sekunden von 100 auf 0. Warum manche Bumper oder Beschleunigungsstreifen Sonic schon mal über den Rand einer Klippe katapultieren ist mir ein Rätsel. Wenn dann noch zwischen dem Punkt des Ablebens und dem letzten Checkpoint eine 20-sekündige, fast vollautomatische Rennsequenz liegt, sollte man schon ein sehr ausgeglichenes Wesen haben, damit die teure Hardware keinen Schaden davon trägt.
Hier und da stellt Euch Sonic the Hedgehog eine kleine Armada Lego-Roboter oder Lavamonster in den Weg. Wie angewurzelt spulen diese ihre ein bis zwei Distanzattacken herunter, bis Ihr sie mit einem Stakkato an Homing Attacken innerhalb weniger Sekunden gefahrlos in ihre Einzelteile zerlegt. Der zielsuchende Kugelsprung ist nach wie vor Sonics Patentrezept gegen aufmüpfige Öljunkies – natürlich endet aber auch er ganz gerne mal in einem Freiflug jenseits der Levelbegrenzung.
Featuring…
Schon Sonic Adventure 1 hatte den Beweis angetreten, dass die Einführung neuer Spiel-Charaktere, nicht unbedingt eine gute Idee ist – zumindest nicht, wenn diese kaum mehr Profil haben als ein Paar sechs Jahre alter Turnschuhe. Dennoch griff man diese Idee für das schon schlechte Shadow the Hedgehog erneut auf, anstatt die mittlerweile sieben Jahre alte Spielmechanik einmal gründlich zu überholen. Da ist es nur konsequent, dass auch Sonic the Hedgehog krampfhaft neue Helden in das überbevölkerte Sonic-Universum quetscht. Die Fähigkeiten des guten halben Dutzends könnte man problemlos auf einen handelsüblichen Jump and Run-Charakter vereinen. Stattdessen ärgert man sich über überflüssige, weil zu ähnliche Spielfiguren, fußlahme und indirekte Tails- oder Silver-Abschnitte und wundert sich, wozu genau Shadow einen Führerschein braucht.
Per Splitscreen dürfen Sonic-Fans ihr Leid mit mitfühlenden Freunden teilen. Die Coop oder Battle Abschnitte leiden aber selbstverständlich unter denselben Designschwächen, die schon im Hauptspiel jeglichem Spaß den Prozess machten und sind deshalb nicht wirklich der Rede wert.
Die Liste der Ärgernisse ist einfach zu lang, als dass man Sonics Comeback noch reinen Gewissens als mittelmäßiges Spiel bezeichnen könnte. Technisch stellenweise katastrophal (Ladezeiten, Slowdowns, Stadtlevel), konzeptionell unausgegoren (Charakter-Overkill, wenig abenteuerlicher Adventure-Part) und widerborstig wie ein Igel nur sein kann (Steuerung, Kamera, unfaires Leveldesign) trieb mir Sonic the Hedgehog regelmäßig Tränen in die Augen. Was war nur aus ihm geworden?
Während ich gestern über all diese Versäumnisse ziemlich nachdenklich wurde, klingelte das Telefon. Es war Sonic. Er entschuldigte sich für seinen Überfall von neulich. „Hey, ich bin Dir wohl ziemlich über den Mund gefahren“ bemerkte er erwartungsvoll. Doch was sagt man einem alten Freund, wenn man nichts Nettes sagen kann?
„Du hast gut ausgesehen!“ antwortete ich.
Knapp 60 Euro müsst Ihr für Sonics neuesten Sargnagel berappen.