Saints Row 4 - Test
Erst wenn du alles verloren hast, hast du die Freiheit, alles zu tun. Egal wie bescheuert es sein mag.
Saints Row IV ist schlicht brillant. Ein Geniestreich der praktizierten Absurdität. Nach dem dritten Teil fragte man sich schon, wo das alles noch hinführen soll, ohne nur noch dämlich zu sein. Es war praktisch unmöglich, sich vorzustellen, dass eine GTA-ähnliche Umgebung noch durchgeknallter sein kann, ohne den Bogen, der schon ganz schön ächzte, endgültig zu überspannen. Auf diesem Weg sah Volition wohl auch selbst keine Chance mehr. Also stellten sie alles auf den Kopf und schufen einfach einen Spielplatz, auf dem nicht nur alles geht, sondern sogar alles irgendwie auch Sinn macht.
Nach einer ganz schwach startenden und unglaublich episch endenden Introsequenz, nach welcher man mir im Anschluss das Grinsen schon aus dem Gesicht hätte prügeln müssen, startet ihr mit nicht weniger als dem Amt des US-Präsidenten. Nach einem kurzen Einblick in eine ganz besondere Amtszeit greifen Aliens an - was sonst - und entführen die Crew der Saints-Gang. Ihr erwacht in einer virtuellen Welt, der Stadt Steelport und wer jetzt Matrix denkt: absolut richtig! Mit dem Unterschied, dass man sich dessen nicht nur bewusst ist und es an einzelnen Punkten auch sehr gezielt und vor allem pointiert auf die Schippe nimmt, das hier hat sogar ein sinnvolles Ende. Ich verrate nichts, aber das erste 'WTF' kommt nach zwei oder so Stunden, aber nein, es endet nicht in der billigsten aller Lösungen, nämlich "es war ein Traum", sondern geht seinen eigenen Weg.
Alles für die Gang
Besagter Weg ist in erster Linie, die Crew zusammenzusuchen, die in ihren eigenen Simulationen gefangen ist. Ihr besucht sie in einer vom Alien Overlord handgebastelten Version ihrer Urängste, was vor allem Serienkennern eine ganze Reihe von "Ach, damals ..."-Momenten beschert, aber auch für Neueinsteiger nachvollziehbar gehalten wurde. Was ihr in diesen Einzelmissionen, die praktisch durchgehend in eigenen Szenarien spielen, erlebt, gehört zum Besten, was je in eine Spiel-Mission gebaut wurde. Saints Row IV spielt mit so vielen Klischees, Anspielungen und Hommagen, dass es mitunter schwer ist, alles gleichzeitig im Blick zu behalten.
Es übertreibt dabei nie, und wenn man dieser Ideenflut manchmal etwas vorwerfen kann, dann, dass einiges ein zu billiger Verweis und keine echte Parodie ist. Denn die nähme die Grundidee auseinander und würde sich darüber lustig machen. Aber bei einem Spiel, in dem eure Figur mit dem robotischen Augapfel aus Portal 2 Sex haben kann, bin ich mir nicht sicher, ob ich mit dieser Kritik auf dem richtigen Dampfer bin. Ich verzichte hier bewusst auf eine Aufzählung, weil es ein wichtiger Teil des Spaßes ist, jedes Mal neu überrascht zu werden. Das will ich euch nicht nehmen. Vor allem aber würde es einfach nur beschrieben dem, was ihr präsentiert bekommt, nicht annährend gerecht werden.
Dass das alles funktioniert und dass ihr die Crew mögt, liegt daran, dass Saints Row mehr noch als zuvor endlich seine eigene Identität als - in diesem Falle wortwörtlich - außerweltliche Super-Sitcom gefunden hat. Als solche experimentiert es mit allem, was Zeitgeist, Nerd-Kultur und der Spaß an der Freude ihr so anschwemmen. Endgültig vorbei sind die Zeiten, wo sich die Serie Vergleiche zu Rockstars Spielen anhören musste, insbesondere, dass sie ja ein schwacher Abklatsch sei. Beide gehen nun noch endgültiger getrennte Wege und auch wenn ich weiß, dass ich diese Zeilen bereuen werde: Ich weiß nicht, wo Volition damit nach Saints Row IV noch hin möchte. Nach dem Abspann endet man so weit draußen, dass es kein Zurück geben kann. Es fühlt sich fantastisch an und so wie das Spiel mit einem breiten Grinsen begann, so endet es auch. Nachdem ihr euch zu den Klängen von ... nein. Diese Szenen kommen so wundervoll getimed, so bewusst und als Belohnung für eure Taten und auch wenn ich mir auf die Zunge beißen muss, weil es so 80s-Mega-Awesome war ... Spielt es selbst!
Träum ich oder wach ich?
Der größte Teil des Spiels sind aber natürlich nicht die Missionen, sondern die offene Welt von Steelport. Während Neo in seiner Matrix im ersten Teil der Eine war, aber sonst noch eher eine Lusche, startet ihr nach einer kurzen Eingewöhnungsphase direkt mit Neo Reloaded durch. Markenzeichenartiges In-die-Knie-gehen-und-Sprung inklusive, gefolgt von Gleitflug und Speed-Dash. Hey, es ist Virtual Reality und es gibt keinen Grund, nicht schon groß zu starten und von da an zu sehen, wo es hingeht. Es erinnert in seinen Bewegungen stark an ein Xbox-360-Frühwerk von Realtime Worlds, in dem Springen, Rennen und Gleiten auch die Fortbewegung des klugen Mannes war. Schade fast, denn auch das Autofahren fühlt sich in Saints Row 4 sehr natürlich an, durchaus vergleichbar mit den Vorgängern, aber noch ein wenig runder. Nur warum ans Steuer setzen, wenn man das Ferrari-Imitat zu Fuß überholen kann. Ihr genießt so eine unglaubliche Freiheit und zum Ende hin werdet ihr die gar nicht so kleine Stadt in zwei, drei Minuten komplett durchqueren können.
In 15 Sekunden rennt ihr auf einen Wolkenkratzer und segelt von dort aus wohin auch immer.
Es macht die Zugänglichkeit zu den vielen, vielen Mini-Missionen so viel angenehmer, als es selbst in den auch schon komfortablen zweiten Ausgaben von inFamous oder Prototype war. In 15 Sekunden rennt ihr auf einen Wolkenkratzer und segelt von dort aus wohin auch immer. Ihr hüpft wie ein Flummi von Sammel-Item zu Sammel-Item, die sowohl in Form wie auch der Funktion eure Fertigkeiten zu verbessern wiederum an besagten Realtime-Worlds-Klassiker erinnern - 'Skills for Kills, Mr. President, Skills for Kills' - und seid dank einer gelungenen Steuerung einfach glücklich. Was auch immer ihr mit euren Möglichkeiten anzustellen versucht, es gelingt. Oder zumindest scheitert es nicht daran, dass die Steuerung mit dem hohen Tempo nicht klarkommen würde. Nur beim normalen Laufen spielt es sich ungelenk. Aber das kommt eh so gut wie nie vor.
Wo geht es so elegant hin? Speed-Racing zu Fuß. Nur konsequent, Autos sind zu langsam. Aliens töten in allen Variationen, jede Menge davon. Genkis Spielshow, in der ihr per Telekinese Menschen, Autos und Fuzzy-Köpfe durch Ringe werft. Super-Fight-Club. Kleine Hacking-Puzzles, um Shops freizuschalten. Alles davon ist durchaus unterhaltsam, was mein Spielstand, der viel weiter fortgeschritten ist, als es für einen seriösen Test nötig ist, bezeugen kann. Aber der Wahnsinn ist bei diesem Spiel so sehr Methode, dass diese Dinge mehr die nette Grundlage, als der eigentliche Spaß an der Freude sind. Genkis Spielshow wird für mich nie wieder so sein, wie das eine Mal in der einen Mission, als ... Nein, Martin, nein! Lass sie es selbst spielen. Alles schick, aber für ein Open World Spiel ist es doch erstaunlich, dass man nicht in die Richtung von größer, größer und größer ging, sondern sich wirklich auf die wichtigen Dinge konzentrierte und sich Mühe gab, diese in der angemessenen Qualität abzuliefern. Ein guter Ansatz, der für mich hundertprozentig aufging, auch wenn das eine im Vergleich zu anderen Spielen dieser Art verkürzte Spielzeit bedeutet. Saints Row IV lässt sich gut in zehn Stunden beenden, zwanzig bis fünfundzwanzig sollten euch nah das das "alles gesammelt" bringen.
Ich bin nicht intolerant gegenüber X. Ich hasse alle Menschen
Wie immer dürft ihr natürlich Zeit mit der extrem umfangreichen Charaktergestaltung verbringen. Ich bin nicht der Typ dafür, ich bastelte mir meinen Super-Bodalicious-Master-Chief in Command zusammen und lebte glücklich mit ihm durch das ganze Spiel. Aber ansonsten ist es egal, ob ihr einen Body-Builder im 'Kleinen Schwarzen' oder Frauen in Fracks bevorzugt, Saints Row ist da immer noch für alle Wünsche offen. Am meisten Freude hatte ich noch mit der Stimmen-Auswahl. Männliche Stimme eins bis drei, weibliche Stimme eins bis drei, Nolan North. Der Mann ist wirklich angekommen und darf das sogar an einer sehr unerwarteten Stelle mit einem kleinen Vierte-Wand-Witz kommentieren.
"Was Gewalt und Sexismus angeht ... Ernsthaft, diesem Spiel sollte das ab 18 verweigert werden?"
Was Gewalt und Sexismus angeht ... Ernsthaft, diesem Spiel sollte das ab 18 verweigert werden? Erst einmal sollte man meinen, dass nun, da alles virtuell ist, Volition so richtig über die Stränge schlägt. Genau das ist jedoch nicht der Fall, im Gegenteil. Saints Row scheint sich da eher bewusst im Zaum zu halten. Nach der absurden Orgie des zweiten und immer noch überbordenden Exzessen des dritten Teils nimmt man sich noch mehr zurück. Gut, es gibt noch Momente, in denen der "Held" einer wehrlosen Frau zweimal mit der Faust ins Gesicht schlägt und ihr dann das Auto klaut. Soweit geht nicht mal die bayrische Polizei.
Dieser beim Carjacking zufällige Augenblick war der einzige, in dem ich mich wirklich unwohl fühlte. Bis ich mich daran erinnerte, dass ja alles doppelt virtuell ist. Ich spiele ein Spiel im Spiel. Das macht es doch alles gut, oder? Nein? Hm. Nun, wenigstens ist es universell, den Mann im nächsten Auto traf es nicht weniger hart. Der Sexismus ist ebenfalls inzwischen so allumfassend, dass niemand ernsthaft beleidigt sein sollte. Egal, ob Mann oder Frau, Mensch oder Maschine, ob Petticoat zur Shotgun-Wedding oder String-Tanga beim Männerstrip. Die Gang der Saints fand eine Art des Zusammenlebens, die mehr einer neurotischen, außerirdischen Kommune in der Zeit sexueller Revolutionen entspricht, als etwas, das man heute in liberal-zivilisierter Gesellschaft als kontrovers betrachten dürfte.
Bei aller Zurückhaltung, der eine Punkt, in dem Volition statt dessen gerne etwas mehr hätte zulegen dürfen, ist die Technik. Während es auf dem PC gut, aber auch nicht legendär aussieht und selbst das inzwischen seit dem zweiten Teil etwas in die Jahre gekommene, grobschlächtige Design der Figuren rüberretten kann, erscheint es auf der Xbox teilweise schon ganz schön abenteuerlich, solltet ihr euch zu nah an eine Textur wagen. Ich bin auch nicht pingelig, was Tearing angeht, aber was auf der Konsole in den Zwischensequenzen passiert und - zum Glück weit dezenter - auch im Spiel selbst, das zeigt deutlich, dass spätestens jetzt die Zeit anbricht, in der sich bei den Entwicklern die Spreu vom Weizen trennt. Nur die Besten können bis ganz an die Grenzen der alten Hardware gehen, andere müssen Kompromisse machen. Die Fernsicht ist trotzdem ausgezeichnet, viele Details zeugen davon, dass man sich nicht mit dem Baukasten zufriedengab, sondern der Welt eine Identität geben wollte und dabei auch durchaus Erfolg hatte. Trotzdem, wer die Wahl hat, greift hier klar zum PC.
Vor der Welle der tausend schlechten "Parodien" im Kino gab es eine Phase, in der die Zucker-Brüder oder Mel Brooks aus großen Werken des Films ihre eigenen Kreationen zauberten und ihnen bestechend den Spiegel vorhielten. Mal subtil, oft mit dem Holzhammer, aber immer auf den Punkt. Saints Row wird die Serie sein, der das ebenfalls gelingen wird. Sie sind mit Nummer Vier noch nicht ganz da, aber man hat sich offenbar genau für diese Richtung entschieden und nutzt eine Mischung aus linearen Stages und dem Gerüst der Open World, um diesen Weg zu gehen. In einem inhaltlichen Befreiungsschlag warf man alle alten Fesseln ab. Nun genießt Volition die neue Freiheit in ganzen Zügen, um euch in einen wilden Mix aus Absurditäten und Spaß zu werfen. Jede Mission ist so eigen, dass sie ein eigenes Spiel sein könnte - teilweise praktisch auch ist - und immer wurden sie genau für diesen einen Moment entworfen, in dem sie funktionieren. Immer im richtigen Moment, nie länger als der Witz auch wirklich willkommen ist.
Dazu noch spielt sich Saints Row IV hervorragend, das ist sicher ein Bonus. Aber die wirkliche Leistung ist, dass Saints Row nach der mental instabilen Findungsphase auf dem besten Weg ist, das traumwandlerisch sicher zwischen Infantilität und Genie wandelnde Enfant Terrible der Spielewelt zu werden. Und das, ohne nur ganz billig mit Blödsinn um sich zu werfen. Im Reigen der großen Budgets ist es die eine Serie, die weder sich noch den Rest der Welt so übertrieben ernst nimmt, wie es sonst der Fall zu sein scheint. Habt einfach mal eine Runde Spaß und gönnt euch das. Es ist so erfrischend!