Severed - Test
Guacamelee war kein Zufallstreffer.
Man möchte fast Beifall klatschen, wie selbstverständlich und ohne große Fanfaren Drinkbox mit Severed einen der besten und wohl letzten Vita-Exklusivtitel raushaut. Keine finanziell zweifellos attraktivere Fortsetzung des grandiosen Guacamelee - bis heute einer der erinnerungswürdigsten und charakterstärksten Metroidvania-Spiele überhaupt -, sondern etwas Neues, das noch keiner kennt. Etwas Frisches, Eigenständiges auf Basis einer neuen neuen Idee. Manche mögen das zu diesem Zeitpunkt und auf dieser Plattform als Irrsinn bezeichnen. Die, für die es gedacht ist, dürfen sich aber freuen, dass dieses außergewöhnliche Studio diesem wundervollen Handheld die Treue hält.
Und was für ein Treuebeweis es doch ist: Die Geschichte der jungen Sasha, die schwerverletzt und um einem Arm ärmer ein Massaker überlebt, ist eines der coolsten und eigenständigsten Rollenspiele der letzten Zeit. Von einer wenig vertrauenerweckenden Kreatur, die sich am trefflichsten als "Voldemort mit einem Gesicht nur aus Zähnen" beschreiben lässt, bekommt das Mädchen ein unheimliches Schwert überreicht, das ihr helfen soll, ihren Bruder und ihre Eltern zu retten. Damit beginnt eine Reise durch verschachtelte Dungeons, die ganz klassisch schrittweise und nur mit 90-Grad-Drehungen der alten Dungeon-Master-Spiele oder - jünger - Legend of Grimrock durchforstet werden.
Die Exklusivität für die Vita schlägt sich in den gut gemachten Touch-Controllen nieder, die in erster Linie im Kampf zum Einsatz kommen. Dieses Spiel will definitiv, dass das Handheld auf euren Knien oder einem Tisch vor euch liegt. Gelaufen wird per D-Pad, während das nicht ganz koscher wirkende Schneidwerkzeug wie bei Fruit Ninja euren Fingerbewegungen auf dem Display folgt. Das wäre arg gimmickhaft, hätte Drinkbox die Kampfbegegnungen und die Feinde nicht so clever designt. Kurze Wischer richten weniger Schaden an als lange. Wild über den Screen zu polieren, bringt aber wenig.
Gepanzerte Stellen an Feinden unterbrechen zum Beispiel die so wichtigen Kombos. Die gewähren nicht nur bei entsprechender Aufrüstung irgendwann einen Schadensboost. Sie sind auch immens wichtig, um am Ende eines Kampfes mit finalen, gezielten Schlägen verschiedene Körperteile von seinen Gegnern abzutrennen. Die sind die zentrale Währung, um Sashas Fähigkeiten zu verbessern, denn Fertigkeitenpunkte oder Exp gibt es im traditionellen Sinne nicht. Wichtig ist auch und vor allem das Zeitmanagement. Umgibt euch eine Reihe unterschiedlicher Gegner mit verschiedenen Attacken und Aktionen, müsst ihr genau auf deren Cooldowns achten und euch so mit ihnen beschäftigen, dass sie möglichst nicht zum Zug kommen. Gelingt es ihnen doch, einen Schlag loszuwerden, müsst ihr rechtzeitig entgegen der Schlagrichtung wischen, um ihn zu parieren.
Durch diese Regeln ist jeder Kampf wie ein neues Puzzle, aber auch die Action kommt nicht zu kurz, denn beim schnellen Schnetzeln auf dem Bildschirm kommt man schon mal in einen Rausch. Das Feedback für Treffer ist nämlich sehr befriedigend und ständig muss man aufpassen, es nicht zu übertreiben, und seine Angriffe einstellen, bevor der Gegner seine Fäuste wieder hochbekommt oder sich seine Panzerung regeneriert.
Zwischen den Kämpfen entschlüsselt ihr dank einer vorbildlich umgesetzten Dungeon-Karte den Aufbau der Verliese. Der ist immer verschachtelt genug, um nicht auf den ersten Blick transparent zu wirken, aber so übersichtlich gelöst, dass praktisch keinerlei Leerlauf entsteht und lange, ereignislose Wege perfekt umschifft werden. Abgesehen von einigen nicht verpflichtenden Verstecken und kleineren optionalen Rätseln kommt hier keiner ins Stocken, während man sich gleichzeitig auch nicht unterfordert fühlt und den Eindruck hat, durchaus etwas zu entdecken in Severed.
Der RPG-Unterbau gibt sich dazu passend sehr schlank. Wie gesagt kommt das Spiel ohne Erfahrungspunkte aus. An festen Stellen bekommt man zusätzliche Fähigkeiten, wie die Möglichkeit, die Tageszeit zu ändern, oder einen Blendzauber, der Feinde für einen Moment betäubt. Aber ansonsten läuft die komplette Charakterentwicklung über erbeutete Körperteile, die man in unterschiedlicher Anzahl kombiniert, um verschiedene Skills zu erstehen. Fehlt das eine oder andere Teil, darf man durch zusätzliche Währung, "Innereien", transmutieren, um sich das Upgrade doch noch zu holen.
Das klingt nicht gerade appetitlich, eher ziemlich morbide, und das Spiel zieht das auch über die komplette Länge durch. Regelmäßig wird es geradezu schockierend niederschmetternd. Wie Sasha hier eine Tragödie nach der anderen durchmacht, das nimmt einen schon mit. Angesichts der farbenfrohen Scherenschnitt-Optik, der man die Verwandtschaft zu Guacamelee direkt ansieht, hatte ich das so nicht erwartet. Schön, von einem Spiel mal so hinters Licht geführt zu werden.
Wie seinerzeit schon das Luchador-Metroidvania erwischte mich Severed aus dem Nichts. Klar, ist es nicht das ergonomischste oder reisetauglichste Vita-Spiel, aber es ist eines der seltsamsten und handwerklich ausgereiftesten. Drinkbox besitzt unglaubliches Verständnis dafür, einem Spiel satte, befriedigende Mechanismen einzubläuen, die einen auch dann ohne Unterlass weiterziehen, wenn man eigentlich schon längst was ganz anderes machen solle. Okay, nach sechs Stunden ist Schluss, aber diese Zeit hochkonzentrierter Dungeon-Crawlerei geht nicht spurlos an einem vorüber.
Wenn es das jetzt gewesen sein soll in Sachen exklusiver Vita-Spiele, nun gut. Ich könnte mir schlimmere Arten vorstellen, den Vorhang für ein unterschätztes System fallen zu lassen.