Shadowrun Returns: Dragonfall - Test
Am Ende gewinnt immer der Konzern. Aber was hatten wir bis dahin Spaß gehabt.
Als die frühesten 90er kamen und die letzten Ausläufer der 80er ausklangen, begann ich mich für ein Weilchen aus den Welten der Video- und Rollenspiele zu verabschieden und das Nachtleben von Berlin zu erkunden. Auf den Spuren von Bowie und Cave ging es - eher ohne Kenntnis solch prominenter und ganz sicher viel wilderer Vorgänger - nach Kreuzberg und vor allem in das frisch aus dem real existierenden Sozialismus entlassene Mitte und Prenzlauer Berg. Während sich in Kreuzberg die Welt stabilisiert hatte und der Kiez als kleinste bekannte Staatsform ein gesundes Equilibrium aus ziemlich arm, aber auch ein bisschen reich, nie zu sexy und vor allem sehr viel Abwechslung nach den wilden Jahren ausruhte und Clubs wie Trash und SO36 nun zum Establishment spätnächtlicher Unterhaltung zählten, herrschte in den Ruinen der Ausnahmezustand. Spontane Partys in fensterlosen Altbaugerüsten, Drogenexzesse unter der Erde im Bunker, Punk im Hinterhof oder ziemlich alternativer Kunstkitsch inklusive Space-Cookies in kleinen Barackenstädten. Es war immer ganz schön chaotisch, es war oft mehr als nur ein bisschen anarchisch, meist verrückt - ich war dabei, als ein Raumschiff in einer Lagerhalle gebaut wurde, was ist daraus eigentlich geworden? - und es hat viel Spaß gemacht.
Zu glauben, dass Berlin eines Tages eine wundervoll durchgeknallte Anarchie mit sehr fluktuierender Macht- und Baustruktur sein würde, fiel für ein paar Jahre so leicht, dass es sich kaum lohnte, Shadowrun: Deutschland in den Schatten zu spielen. Warum Anarchie im Jahre 2050, wenn anscheinend in Teilen der Stadt jetzt schon jeder macht, wozu er gerade Lust hat? Nun, am Ende gewinnt immer der Konzern. Die Ruinen sind so schön saniert, dass ich mir selbst viele der Läden nur von außen leisten kann, ganz zu schweigen von den Wohnungen darüber, in denen 20 Jahre zuvor im Skelett dieses Hauses gefeiert wurde. Die mitunter stadtteilgroßen Nischen sind verschwunden, einzelne gallische Dörfer halten noch aus, aber der oft etwas chaotische Anstrich, den viele Touristen an Berlin so schätzen, ist meistens nur noch ein wohldurchdachtes Geschäftskonzept. Wenn Münchner herkommen und sagen, dass sie Berlin ja so cool und hip finden, denke ich nur: Ach, wärst du doch vor 20 Jahren hier gewesen, in diesem kleinen glorreichen Zeitfenster, in dem es sich so anfühlte, als wäre es eine utopische Version einer eigentlich dystopischen Zukunft. Nun, es bleibt ja immer noch die Zukunft, die war, in ihrer weniger freundlichen Form von 2050.
Es wird persönlicher.
Damit ist für einen eingeborenen Berliner und langjährigen Shadowrun-Spieler Harebrained Schemes Wahl für das Setting ihrer zweiten Kampagne natürlich ein echter Volltreffer. Das für Cyberpunk-Verhältnisse ja schon immer etwas spießige Seattle wurde gegen den Kreuzberger Kiez - hier Kreuzbasar - getauscht und damit scheint auch das Spiel ein wenig mehr Luft zum Atmen zu haben. War die inhaltlich verschachtelte Handlung der Startkampagne im Ablauf dann noch sehr geradlinig, dreht sich das hier: Dragonfall ist eine eigentlich alles andere als komplexe Geschichte, in der ihr nie groß aus dem Blick verliert, worum es geht und warum. Dafür jedoch bietet es deutlich mehr Raum in die Breite, sei es in der Konstellation der eigenen Gruppe oder den Nebenaufgaben und Optionen zur Erkundung des am Ende natürlich immer noch sehr übersichtlichen Berlins.
Das Spiel dreht sich um seinen einladenderen, bunteren und etwas bevölkerteren Hub und dank einer direkten U-Bahn-Anbindung - Moritzplatz - ist der Weg zu den eigentlichen Runs nie weit. Der Seattle-Hub war kompakter, was das Ausrüsten einfacher machte, indem es alle Händler auf einen Fleck setzte, was nun nicht mehr der Fall ist und etwas mehr Laufarbeit mit sich bringt, aber es fühlt sich deutlich natürlicher an, was in einem Rollenspiel ja auch nicht ganz zu verachten ist.
Das eigentliche Highlight sind allerdings die Figuren. Man merkt bei jeder von ihnen, dass das Team nun, wo das Gerüst steht, weit mehr Zeit hatte, sich um sie zu kümmern. Drehte sich Dead Man's Switch noch um den singulären Helden, wird nun oft schon Biowares Qualität in dieser Sparte angerufen, wenn es darum geht, Dragonfall zu beschreiben. Es ist nicht abwegig. Jeder einzelne hat seine eigene Vergangenheit und seinen bevorzugten Modus Operandi, wie die Dinge zu handhaben sind. Haltet ihr euch an Letzteres, werdet ihr in den nun noch einmal ausgefeilteren Gesprächen mehr über Ersteres erfahren. Die Tiefe, wie weit man dort einsteigen kann und was man an Tageslicht holt, ist noch nicht auf dem Niveau der besten Figuren des kanadischen Branchenlieblings, aber dafür hat man nicht das Gefühl, das Harebrained spezielle Lieblinge im Portfolio seines Spiels hat. Wen auch immer ihr am liebsten mögt, er oder sie hat mindestens so viel zu bieten wie die Runner, die ihr aufgrund persönlicher Vorlieben eher stiefmütterlich behandelt.
Dragonfall bietet deutlich subtilere Antwortmöglichkeiten, die meist nicht direkt in das klassische Dreigestirn aus „gut, blöde, böse" fallen.
Es ist vor allem ein netter Zug, dass ihr nun ein Team von Runnern habt, die handlungsbedingt einem gemeinsamen Ziel folgen müssen. Das bedeutet, dass ihr nun nicht mehr unbedingt für jeden Run teuren Angestelltenlohn an Söldner entrichten müsst, sondern euch besser Gedanken macht, wie das Kernteam zusammenarbeitet. Das lohnt sich nicht nur finanziell, wie in Dragon Age gibt es jetzt auch ein paar kurze Bonusdialoge oder Einsprüche bei Entscheidungen, wenn ihr die richten Leute dabei habt. Nicht, dass es so schon wenig zu diskutieren gäbe. Dragonfall bietet deutlich subtilere Antworten, die meist nicht direkt in das klassische Dreigestirn aus „gut, blöde, böse" fallen. Oft lassen sich die Auswirkungen nicht direkt vorhersehen, an einigen Stellen waren sie mir zu subtil, aber man gab sich doch spürbare Mühe, die sich am Ende für das Rollenspielgefühl auszahlte.
Mythen und Legenden
Die Handlung selbst greift so tief in die Mythologie-Kiste des Erwachten Deutschlands, dass ich nachgucken musste, ob man es sich für das Spiel ausdachte oder ob der Kanon es kennt. Aber ja, man bediente sich eines existierenden Shadowrun-Mythos und gibt ihm nun unerwartete Aufmerksamkeit. Ehrlich gesagt ärgert es mich ein wenig, dass wir als Spielgruppe damals diese Facette nie entdeckten und keine kleine Kampagne darum aufbauten. Es ist stimmig, anfänglich mysteriös genug und bietet zum Ende hin genug Drama, um die 7 bis 15 Stunden - je nachdem, wie viele der Nebenmissionen ihr angeht und wie schwer ihr es euch Optionsmenü einstellt - ausgesprochen gut unterhalten zu sein. Ich werde mich nicht zu einem „besser als Bioware sowieso und besser als alles andere!" hinreißen lassen, wie ich es schon in Bezug auf Dragonfall las, aber nach der Spielzeit machte ich rundum zufrieden den Rechner aus, ließ mich im Stuhl zurücksinken und war kurz zufrieden mit mir und der Welt. Immer ein gutes Zeichen für das Ende einer Kampagne.
Die Handlung selbst greift tief in die Mythologie-Kiste des Erwachten Deutschlands.
Im Zuge all dessen gibt es einen ganzen Schwung neuer Waffen, Zauber und Spielzeuge, neue Runner im Söldner-Pool und Gegner, die für mehr Abwechslung sorgen. Was leider fehlt, ist nach wie vor eine bessere Gegner-KI. Sucht ihr eine Herausforderung, dann solltet ihr gleich auf Hart spielen. Das mitunter leicht suizidale Verhalten der Feinde lässt sich zwar immer noch gut ausnutzen, aber wenigstens sind sie dann deutlich gefährlicher. Auch blieb es bei den immer noch verdächtigen Würfelwürfen der Trefferwahrscheinlichkeit. Sechs Schüsse mit je 50 Prozent Wahrscheinlichkeit und kein Treffer? Ist natürlich nicht unmöglich oder auch nur zu unwahrscheinlich, aber trotzdem fühlt es sich einfach nicht richtig an. Gleiches gilt allerdings auch für den Feind, insoweit ist das Spiel immerhin fair. Außerdem gibt es ja nun die Möglichkeit, jederzeit zu speichern und zu laden, wenn man sich mal zu sehr verschaukelt fühlt.
Es gibt wohl eine Reihe von Quest-Bugs. Wie so oft und auch schon beim Hauptspiel blieb ich von diesen verschont, es ist also durchaus möglich, durchzukommen und alles zu erleben, wie es wohl gedacht ist. Aber die Berichte sind zu spezifisch und glaubwürdig, als dass ich Zweifel ob ihrer Authentizität hätte. Patch folgt, nehme ich an, bis dahin legt man wohl besser auch mal von Zeit zu Zeit einen neuen Speicherstand an, statt sich nur auf das Auto-Save zu verlassen.
Ein weiteres Problem ist der aktuelle Stand der Übersetzung. Die Menüs sind übersetzt, der Rest nicht. Oder nicht so richtig. Oder es ist alles nur ein Teil des Settings. Manchmal sind kurze Sätze in Deutsch, während alles andere in Englisch abläuft. Wie sich herausstellte, kann man auf Englisch umschalten - das verhinderte ein scheinbar sehr spezieller Bug in meinem Falle zuerst - und Dragonfall dann komplett in dieser Sprache spielen. Die fertige deutsche Übersetzung von Dragonfall ist in Arbeit, kann aber noch ein wenig dauern.
Dragonfall ist ohne Frage eine deutlich stärkere Kampagne als Dead Man's Switch. Die Charaktere sind nicht nur zahlreicher, sie sind besser ausgearbeitet und vor allem untereinander in ein kleines soziales Wechselspiel eingebunden, das sie lebendiger wirken lässt. Es gibt mehr Optionen und Spielraum, sei es in den Gesprächen, den Wegen, wie eine Mission zu bewältigen ist, oder dem, was man drumherum so veranstalten kann. Der Hintergrund des Berlin-Settings wie auch die Handlung selbst nutzen weniger ausgetretene Pfade, als es in Seattle der Fall war. Mit anderen Worten: Wenn ihr Shadowrun Returns eh schon mochtet, dann bekommt ihr hier ein paar sehr einladende Abende, die den geforderten Preis sogar trotz all der ambitionierten Bastelprojekte, die man für lau laden kann, durchaus rechtfertigen. Ich würde sogar so weit gehen, dass das Doppelpack den Einstieg für bisher zurückhaltende Zweifler sehr viel leichter machen könnte. Es wird dann zwar etwas teurer, aber Dragonfall gelingt es noch leichter, einen in den Bann einer Zukunft, die in Berlin fast mal herrschte, zu ziehen.