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Sherlock Holmes: Chapter One Test - Ist das noch Sherlock?

Mit dem neusten Teil machen Frogwares so einiges anders in der Welt von Sherlock: Jünger, actionreicher, offener, aber geht das auf?

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Hilfe, Frogwares hat meine Freizeit ermordet! Chapter One ist ein atmosphärisches Urlaubsparadies für Krimi-Fans mit kleineren Sünden.

Ich bin wie viele verrückt nach Krimi-Storys. Die gehen einfach immer und umso neugieriger war ich auf Chapter One. Der brandneue Fall des Meisterdetektivs heißt Chapter One und hat nun die schwere Herausforderung, den etwas enttäuschenden Vorgänger Devil's Daughter auszubügeln... und das auf einmal mit einer Open World und einem deutlich verjüngten Meisterdetektiv! Aber gelingt dieser Schachzug? Oder rammt der junge Sherlock meiner Erwartungshaltung das Messer in den Rücken? Ein Fall für Eurogamer!

In Chapter One spielt ihr den jungen Sherlock auf seiner Kindheitsinsel

Darf's noch ein bisschen schräger sein?

Willkommen auf Cordona, einer fiktive Mittelmeerinsel im 19. Jahrhundert, dem Geburtsort von Sherlock Holmes. Lange bevor er in London zur Legende wird, reist er zurück zu seinen Wurzeln, zusammen mit seinem besten Freund aus Kindertagen, Jon. Das ist nicht DER John Watson aus London, sondern ein h-loser Seelenverwandter aus der Vergangenheit von "Sherry" (wie er den Detektiv nennt).

Das Mysterium ist schnell klar: Sherlocks Mutter starb früh an einer schweren Krankheit... aber natürlich gibt es da längst verdrängte Geheimnisse. Die müsst ihr enthüllen und Sherrys Kindheit aufarbeiten, während er in verschiedenen Kriminalfällen sein Genie beweist. Ein Hauch Melancholie und Übersinnliches wehen also durch die Hauptstory, in den Nebenfällen wird es dagegen ziemlich absurd.

Lebensnah ist Sherrys kleine Kuriositätenkiste an Fällen nämlich nicht. Dafür lockt sie mit surrealen Momenten, Seancen, Elefanten, verwirrten Künstlern und und und - ein paar feine "Was-zur-Hölle?"-Momente inklusive.

Cordona ist die ehemalige Heimat von Sherlock Holmes und die offene Welt des Spiels

Mir wären ernstere, "logischere" Fälle passend zu den Vorgängerteilen fast lieber gewesen. Bei den wilden Wendungen im Plot klatscht man sich hin und wieder doch ein bisschen gegen die Stirn. Die Gratwanderung zwischen bizarr, ernst und spannend gelingt also nicht immer perfekt, hat aber richtig gute Momente. Wenn man sich ganz auf Sherlocks schräge Abenteuer einstellt, können die einen richtig packen!

Keine Lizenz zum Töten

Im Laufe des Spiels kommt ihr Schritt für Schritt dem Vergangenheitsmysterium näher und löst dabei auch zahlreiche kleinere Fälle. Eure Trickkiste gegen die Verbrecher: Köpfchen, Verkleidungskünste und im Notfall der Revolver. Dabei macht das Detektiv-Spiel eine Sache absolut richtig. Es nimmt euch beim Ermitteln kaum an die Hand. Statt unnötiger Questmarker müsst ihr selbst eure Fallakte studieren, die Karte lesen, das Archiv durchforsten und mehr.

Ein Kniff dabei ist wie immer Sherlocks Kostümtruhe, diesmal beeinflusst euer Look allerdings sogar die Reaktionen der Passanten um euch herum. Diese Puzzle-Idee ist klasse, klappt aber nicht immer reibungslos. Oft probiert man nur wild herum, bis das Outfit sitzt. Auch die Taktik, sich mit Verkleidungen in Bevölkerungsgruppen einzuschleichen, hat manchmal einen etwas schalen Beigeschmack. Trotzdem ist die gut gefüllte Garderobe ein Klassiker unter den Sherlock-Spielereien, die man auch einfach kosmetisch nutzen kann.

Chapter One balanciert auf dem schmalen Grat zwischen absurd und ernst - und kommt bei solchen Outfits ein wenig ins Schwanken

Die Mörder erzittern letztlich vorm altbekannten Deduktions-Menü: In diesem virtuellen Hinterstübchen vernetzt ihr passende Hinweise und überführt mit entsprechenden Schlüssen den Täter - ihr entscheidet selbst, wer am Ende ins Kittchen wandert. Etwas irritierend ist nur der Moment nach den Fällen, denn das Spiel sagt einem teilweise nicht einmal wirklich, ob man mit der Schlussfolgerung nun richtig lag.

Apropos irritierend: Chapter One hat zahlreiche gute Rätsel, in denen wir Tathergänge rekonstruieren oder eine chemische Analyse durchführen. Frogwares konnte es aber trotzdem nicht lassen und es musste unbedingt wieder Action mit rein. Nach der gefürchteten Quicktime-Flut im Vorgänger eher ein Grund zu Sorge. Diesmal funktionieren die Kämpfe allerdings ganz anders, denn Chapter One kombiniert in Kampfszenen nämlich Third-Person-Shooter mit Reaktionstests.

Jon und Sherry - eine echte Bromance zwischen den beiden Ermittler-Freunden, oder?

Wenn Sherlock in den Action-Szenen einfach nur wild herumballert und Leute tötet, gibt es im Anschluss Punktabzüge und Ärger mit Jon, der immer auf eure Moral achtet. Besser ist es, Gegner außer Gefecht zu setzen. Dafür nutzt Sherlock alle Möglichkeiten um ihn herum - Lampen runterschießen, den Hut vom Kopf ballern und Manöver mit Köpfchen, die gut zum Meisterdetektiv passen. Im Anschluss müsst ihr möglichst schnell bestimmte Knöpfe drücken.

Eigentlich ein schlauer Mix aus Schnelligkeit und Grips, der irgendwie auch den Ehrgeiz weckt ("Diesmal schaffe ich das aber!"), in der Umsetzung aber frusten kann, vor allem wenn man eher Rätselkopf als Shooter-Profi ist. Kleiner Vorteil: Viele der Ballereien sind nur optional und wenn das Überwältigen gar nicht klappt, dann muss es eben doch rohe Gewalt sein - Sorry, Jon!

Die Open World - Elementar und trotzdem stimmig

Nach einem Tutorial-Fall geht es ab auf die Insel und zugegeben, die Grafik ist nicht unbedingt auf AAA-Niveau. Der Grund dafür ist allerdings schnell entschlüsselt. Genau, lieber Watson: Chapter One ist eben ein Indie-Game und das kann trotz kleiner Mankos immer noch mit solider Grafik aufwarten.

Neben den bekannten Frogwares-Wachsgesichter hat die Spielwelt optisch ein paar überraschend bezaubernde kleine Fleckchen zu bieten. Gerade das Fernweh-Gefühl am virtuellen Mittelmeer kommt bestechend gut rüber - auch dank der extrem stimmungsvollen Mystery-Begleitmusik (den Soundtrack gibt es auf Spotify - dankt mir später!)

Ananas auf Pizza?! Der leidenschaftliche Jon will die Welt wohl einfach brennen sehen.

Auch kleine Details machen die Spielwelt lebendiger. Jon hüpft zum Beispiel stets mit uns quer über die paradiesische Insel, trinkt im Hintergrund Tee, planscht im Meer oder entspannt am Pool. Während ihr ermittelt, könnt ihr den Guten Jon überall in der Open World entdecken und das ist eine ziemlich nette "Wo-Ist-Walter"-Spielerei, nur ohne den gestreiften Pulli.

Die Dialoge zwischen dem analytischen Sherlock und seinem lebhaften Kumpel sind ohnehin ein Herzstück des Spiels, und man kann einfach kaum anders, als den gegensätzlichen Jon schnell lieb zu gewinnen - Geheimnisse um seine Person gibt natürlich trotzdem.

Altbekannt bei Frogwares Sherlock-Spielen: Hübsche Gesichter, aber leider statisch.

Cordona sieht also schön lebendig aus und bietet zahlreiche Geheimnisse, aber braucht es dafür eine Open World? Ich würde fast sagen: Nein. In den begrenzten Gebieten der Vorgänger-Titel kam die Atmosphäre auch gut rüber und der Fokus auf die Fälle war deutlich stärker. Wegen meiner hätte das auch so bleiben können. Schön anzusehen ist die Insel trotzdem - vor allem bei Nacht - und macht Lust auf Strandurlaub. Ich gebe der Open World also zähneknirschend meinen Segen, Frogwares.

Sherlock Holmes: Chapter One Fazit

Open World, jüngerer Detektiv, "richtige" Action-Kämpfe... ich war skeptisch, ob das noch der Sherlock ist, den man aus den Vorgängern kennt und liebt und nein, das ist er nicht. Das ist aber gar nicht schlimm! Auch den jungen Sherry gewinnt man sehr lieb, denn Chapter One ist packend, herrlich schräg und unterhaltsam. Elemente wie Action, Open World und Co. in einem Rätselspiel muss man nicht zwingend gut finden und ich persönlich hätte beides nicht gebraucht, um einen tollen Sherlock zu erleben. Das Gesamtkonzept funktioniert aber trotzdem und wird von der wunderbaren Atmosphäre der Insel, den spannenden Ermittlungen und den Dialogen zwischen Sherry und Jon letztlich sicher getragen.

Das Ergebnis ist ein extrem atmosphärisches Mystery-Rätselspiel mit Mut zum Absurden, das euch die Gedankenspiele nicht zu einfach macht. Krimi-Begeisterte würde ich ohne zu zögern zu 20 Stunden und mehr mit diesem Spiel verurteilen. Aber auch für alle anderen mit einer Begeisterung für langsam erzählte Mysterien kann das ein ganz großer Fall werden!

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