Sleeping Dogs - Test
United Fronts offenes Hongkong "weckt" vor allem die Diskussion darüber, wie viel Freiheit noch im klassischen "Open World" steckt.
In gewisser Weise ist Sleeping Dogs ein Opfer seiner eigenen Ambitionen. Bei dem Versuch, das beliebte Grand-Theft-Auto-Muster in ein exotisches Szenario zu versetzen, ist Entwickler United Front übers Ziel hinaus geschossen. Das Spiel macht den ausgereiften Eindruck einer Produktion, die länger in Entwicklung war, als ihr lieb sein konnte und trotzdem das Beste daraus machte. Gerade in der getesteten und technisch makellosen PC-Version trifft der Entwickler eigentlich jeden Ton, wie man ihn aufgrund der losen Inhaltsbeschreibung eines Open-World-Spiels nach GTA-Modell auch erwartet hätte. Das Problem ist, dass das Unerwartete ausbleibt.
Weil ich weiß, dass drei Viertel von euch schon nach unten gescrolled haben, um auf die Note zu schielen, noch bevor sie bei diesem Satz hier angekommen sind, vielleicht ein Disclaimer vorweg, den man nicht deutlich genug herausarbeiten kann. Daher gleich hier, wo noch alle wach und bei Sinnen sind: Dieses Spiel ist kein "Reinfall", kein "Flop", kein "Mittelmaß", sondern gut. Wirklich gut sogar und wenn ich im ersten Absatz von "ausgereift" spreche, dann meine ich das Ernst. Darbt ihr schon länger nach einem neuen Open-World-Abenteuer oder findet Saints Row mitsamt seiner DLC-Armada immer noch nicht lang genug? Erscheint euch vielleicht einfach nur die Wartezeit auf das nächste - letzte? - Wort zum Thema aus dem Hause Rockstar unerträglich? Sleeping Dogs unterhält euch problemlos drei bis vier längere Abende.
Gleichzeitig zeigt es aber auch, dass die Formel, nach der es seinen Hongkong-Thriller strukturiert, Spielern diesseits der 2010er kaum noch neue Momente zu geben hat. Das ist definitiv kein alleiniges Sleeping-Dogs-Problem, sondern vor allem eines, auf das der weltberühmte Autoklau im nächsten Jahr besser eine verdammt gute Antwort parat hat. Aber die Zeiten für GTA-Klone waren nicht ohne Grund schon mal besser. Obwohl es so vieles richtig macht, weist das lobenswert souverän erdachte und zusammengesetzte Undercover-Drama damit schon im ersten Teil Ermüdungserscheinungen auf, wie sie zuletzt ein artverwandtes Spiel wie Assassin's Creed in seiner bereits vierten Ausgabe so plagten. Vorhersehbar im Aufbau, klinisch im Ablauf.
Dennoch gibt es viel zu mögen, was vor allem dem Szenario zu verdanken ist, das die Initialzündung gleich einer ganzen Reihe liebenswerter Eigenschaften ist. Es beginnt schon mit der Aufmachung: Die fürs Spiel verkleinerte Ausgabe Hongkongs geizt weder mit Leben noch mit großen und kleinen Details - zwei Bereiche, in denen Rockstars Konkurrenz Mitte der 00er Jahre regelmäßig auf die Nase fiel. In jeder Licht- und Wetterstimmung ist United Fronts Version der ehemaligen britischen Kolonie sehenswert, wenngleich es nie ganz den natürlichen, ehrlich verlebten Look und Sound eines Liberty City versprüht. Es ist trotzdem ein schöner Augenblick, wenn man feststellt, dass Passanten nicht nur alleine umherstiefelnde Automaten sind, sondern oft auch in Pärchen die wuseligen, neonverhangenen Straßen entlangspazieren und Trivialitäten austauschen.
"Doch wo der schrankförmige Superheld ab und an mit seinen etwas zu wieselflinken Moves genau so im Clinch liegt, wie mit den Schlägern des Jokers, stehen die Kung-Fu-Kunststücke dem drahtigen Wei Shen deutlich besser zu Gesicht."
Vor allem auf inhaltlicher Ebene bereichert der fernöstliche Hintergrund das Erlebnis. Die Geschichte vom jungen Undercover Cop Wei Shen, der eine Triadenbande infiltriert, liefert genügend interessante Ansätze, die im ersten Drittel des Spiels das etwas ausgeleierte Korsett Sleeping Dogs blickdicht verschleiern. Einer davon ist natürlich der Nahkampf, der den überwiegenden Teil der Action zu Fuß ausmacht. Die Martial-Arts-Massenkeilereien passieren nach tadellos nachempfundenem Batman-Arkham-City-Muster. Doch wo der schrankförmige Superheld ab und an mit seinen etwas zu wieselflinken Moves genau so im Clinch liegt, wie mit den Schlägern des Jokers, stehen die Kung-Fu-Kunststücke dem drahtigen Wei Shen deutlich besser zu Gesicht. Mit nur einer Schlagtaste, deren Einsatz nur im Rhythmus variiert werden muss, einem Griff-Button und einem Konter-Knopf spult ihr mühelos toll choreografierte Schlagfolgen und Knochenbrecher ab, ohne jemals übermächtig zu sein.
Die Fledermaus hatte zwar die angenehme Angewohnheit, einem auch nach vielen Spielstunden noch hier und da einen bisher ungekannten Konter zu präsentieren, was man von United Fronts V-Mann nicht sagen kann. Dafür beherrscht Wei an bestimmten Hotspots fast jeder Kampfarena einfallsreich umgesetzte Umgebungs-Finisher. Meine eingedeutschte PC-Version hatte sogar noch besonders schlimme Gemeinheiten, wie herumstehende Kreissägen und von der Decke hängende Fleischerhaken in Petto. Nach der neuerlichen Meldung über nachträgliche Schnitte bin ich mir aber nicht mehr so sicher, ob die in der verschobenen finalen Fassung noch vorhanden sein werden. Doch so oder so: Die Kämpfe sind schnell, dynamisch und sehen fantastisch aus - Blut und Gekröse an Freund und Feind inklusive. Eindeutig das Glanzstück des Pakets.
Weder die deutlich selteneren Schießereien, noch die Autorennen reichen dabei ganz an die Güte des Kampfsystems heran. Wer das Fahrverhalten einer halbvollen Badewanne nicht leiden kann, mit dem Rockstar seine Autos serienmäßig ausstattet, wird mit Sleeping Dogs zwar deutlich glücklicher sein. Gleichzeitig sind die Karossen aber auch etwas zu leicht, weshalb es der motorisierten Fortbewegung im Spiel trotz der an sich passablen Handhabung und des guten Geschwindigkeitsgefühls ein bisschen an Wucht und Vehemenz mangelt. In der Folge versprühen Crashes und all die anderen Gemeinheiten, die man sich in Spielen dieser Sorte mit mehreren hundert PS unterm Gesäß sonst so vornimmt, nicht die Gefahr, die sie könnten.
Das wird vor allem deutlich, wenn man vorhat, in den Straßenrennen Weis Ansehen zu steigern. An den Kursen und dem Rennfeeling ist für sich genommen wenig auszusetzen, man hat aber selten das Gefühl, wirklich in einem tonnenschweren Metallgeschoss mit vier Rädern zu sitzen. Ich für meinen Teil hielt mich schnell an die zahlreich vorhandenen Motorräder und war im Grunde auch gut zufrieden mit ihnen. Schade, dass trotz vieler schlimmer Kollisionen und manchmal unglücklich anzusehender Ragdoll-Abflüge aber nie wirklich die Angst hochkam, ich könnte Wei alle Knochen brechen.
Mit Bezug auf die sporadisch eingestreuten Missionen mit deckungsbasierten Schusswechseln muss man sagen, dass United Front gerade inszenatorisch einiges richtig macht. Vor allem, wenn Wei mit der Waffe im Anschlag einen Bocksprüng über eine hüfthohe Deckung vollführt und dabei automatisch eine John-Woo-Gedenkzeitlupe zugeschaltet wird, fühlt man sich definitiv im richtigen (Hongkong-)Film. Es sieht gut aus, und die Projektile schütteln die Feinde ordentlich durch. Allerdings sind die Abschnitte immer sehr schlauchig und kontrolliert und das Aiming fühlt sich nur so lange klasse an, wie man den nächsten Gegner sucht. Dann übernimmt eine nicht abschaltbare Zielhilfe, den Rest und klemmt sich mit Gummiband an die Mitte des Gegners, was ich mehr als einmal ziemlich irritierend fand. Trotz guter Ansätze und schön reaktiver Umgebung bleibt das fliegende Blei wenig mehr als eine willkommene Abwechslung zum Rest des Triadenalltags. Im GTA-Verhältnis gemischt, würde der Baller-Part das Spiel nicht tragen. Muss er hier zum Glück aber auch nicht.
Dazu passt, dass euch Sleeping Dogs die Waffen nach einem Einsatz fast immer wieder wegnimmt. Wer in GTA sporadisch Massaker und Polizeiverfolgungsjagden zum Sport erklärte, wird in dieser Hinsicht enttäuscht. Ein Arsenal baut sich Wei nie auf. Vielleicht entwaffnet man einen Gesetzeshüter und erledigt zwei weitere mit der Pistole. Sobald der Staat aber schwere Geschütze auffährt, steigt man besser in einen Wagen - und ist sie nach einem verhältnismäßig kurzen Sprint auf der nächsten Geraden von mehr als 500 Metern Länge auch direkt wieder los. Die Alternative ist, ganz, ganz schnell im Kugelhagel unterzugehen. Inhaltlich machen derartige Meltdowns natürlich keinen Sinn - schließlich ist Wei Polizist im Undercover-Einsatz. Trotzdem merkt man hier, dass ihr in dieser Welt nicht so frei seid, wie euch die mit Beschäftigungsicons gesprenkelte Stadtkarte glauben machen will.
"Und was ist überhaupt Freiheit? Sich von einem Missions-, Nebenjob- oder Minispielmarker zum nächsten zu hangeln und dabei neue Outfits und Moves freizuschalten? Mehr Hongkong-Dollar zu verdienen, als man jemals wird ausgeben können?"
Und was ist überhaupt Freiheit? Sich von einem Missions-, Nebenjob- oder Minispielmarker zum nächsten zu hangeln und dabei neue Outfits und Moves freizuschalten? Mehr Hongkong-Dollar zu verdienen, als man jemals wird ausgeben können? Auch hier: Bitte nicht falsch verstehen. Alles, was das Spiel neben der zentralen Undercover-Geschichte feilbietet, ist vollkommen passabler Genre-Standard. Die Handvoll mit der Handlung verwobenen Kriminalfälle, die ihr in eurer Freizeit vom Mob für die Polizei erledigt - durchaus ... riskant für einen Undercover-Mann - sind sogar erzählerisch auf einem Level mit der Haupt-Geschichte. Immerhin darf man hier ein bisschen Detective-Luft schnuppern, wobei es gleich doppelt schade ist, dass ihr auch hier nur einem Pfeil hinterherlauft und immer eine Serie niemals abänderbarer Aktionen durchlauft. Nur die härtesten 100-Prozentler werden dagegen das anspruchslose Karaoke-Minispiel mehr als drei Songs durchexerzieren oder alle Überwachsungskameras hacken. Und selbst die eigentlich ganz unterhaltsamen Gefälligkeiten für die Zivilbevölkerung wiederholen sich öfter, als gut für euren Enthusiasmus wäre, sich nebenher mit ihnen zu beschäftigen.
Besonders schade: Die Undercover-Geschichte bleibt nach viel versprechendem Start deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurück. Bedenkt: Wei ist Undercover-Polizist und es wird auch durchaus thematisiert, dass durch ihn erbrachte Beweise gegen die Triade hinfällig sind, wenn er selbst zum Mörder wird. Die Mission, die nach dem ersten Viertel des Spiels darauf hinsteuert, ob der Protagonist diesen Punkt ohne Rückkehr tatsächlich überschreiten wird, endet in enttäuschender, wenngleich in einem Videospiel dieser Couleur sicher nicht unerwarteter Weise. Noch lange bevor ich für die entscheidende Schlüsselszene das erste Mal eine Schusswaffe in die Hand bekam, hatte ich schon meinen ersten Gangster mit dem Kopf in einen Industrieofen gehalten. Ab dann war es auch vorbei mit Weis Zwiespalt. In jeder folgenden Mission hat er deutlich mehr Menschenleben auf dem Gewissen, als der komplette Rest seiner Kollegen. Die Skrupellosigkeit, mit der er in der Folge vorgeht, verspielt jeglichen Bonus, den man dem vermeintlich komplexen Charakter Weis zuvor zugestand.
Für Stirnrunzeln sorgt auch, wie Sleeping Dogs Randcharaktere einführt und dann wieder fallen lässt. Mehrere potenzielle Freundinnen werden vorgestellt und im Rahmen einer eigenen Mission hofiert. Ein anschließender Überwachungsbericht, den man aufs Handy bekommt, streut sogar hier und da Zweifel an der Ehrlichkeit der "Love-Interest vom Dienst". Aber noch bevor man sich Gedanken darüber machen kann, ob die Dame vielleicht von anderen Triadenbossen geschickt wurde, um Wei auszuspionieren, macht sie auch schon wieder der nächsten Platz. Handlung und Charaktere sind letzten Endes bei Leibe nicht schlecht. Sie bleiben nur hinter dem bunten Strauß an Möglichkeiten zurück, den man zu Beginn des Spiels noch vor Augen hatte.
Es liegt also weniger daran, dass Sleeping Dogs dieses eine große Versäumnis runterziehen würde, auf das man stichhaltig mit dem Finger zeigen könnte. Die einzelnen Elemente und das grundlegende Gameplay von Moment zu Moment sind United Front durchweg unterhaltsam gelungen. Einige Figuren mag man sogar, obwohl man eigentlich nicht sollte. Und doch hat man am Ende Probleme, sich deutlich genug an große Teile des Spiels zu erinnern, um Freunden ein genaues Bild davon zu malen. Vor allem strukturell und erzählerisch hätte ich den Entwicklern mehr Mut gewünscht, aber so etwas passiert wohl, wenn man sich ewig darauf konzentriert - mit einigem Erfolg wohlgemerkt -, seine Kern-Mechaniken gut hinzubekommen.
Dabei kann man für diese Sorte Spiel, wenn man mal ehrlich ist, doch schon länger die Uhr ticken hören. Open World war einmal, mittlerweile sind Sandboxes das Wort der Stunde. Um als solcher Sandkasten durchzugehen, eine Umgebung, in die der Spieler auch etwas hineinsteckt, anstatt sie nur nach Missionsmarkern abzugrasen, überlassen Titel wie Sleeping Dogs aber zu wenig dem Zufall. Diese "Open-Worlds" kontrollieren das Erlebnis rigide und entwickeln sich damit vom einstigen Vorbild an Interaktion und Mach-was-du-willst-Attitüde zu mehr und mehr antiseptischen Welten. Die imponieren mechanisch gesehen zwar vielleicht, sind aber nicht mehr in der Lage, zu überraschen. Was das angeht, ist Sleeping Dogs' Timing in Zeiten von kreativen Spielwiesen wie DayZ und Minecraft fast schon tragisch.
Die beste denkbare Honkong-Kopie eines GTA circa anno 2007 also. Wie klingt das für euch?