Sniper Elite 5: Der heimliche König des Stealth kehrt zurück
Zwei Stunden scharf geschossen.
Ja gut, allzu realistische Kriegsspiele stehen angesichts der Situation in der Ukraine nicht gerade weit oben auf meiner Wunschliste. Dass ausgerechnet Sniper Elite 5 bei mir kein mulmiges Gefühl in der Magengegend verursacht, zeigt mir zweierlei. Erstens: wie gut uns die Popkultur dazu erzogen hat, den Zweiten Weltkrieg in einem speziellen Licht, ja, eigentlich sogar in einem separaten Raum zu sehen. Und zweitens: Dass man mit der Zeit und dem andauernden News-Bombardement nicht zu knapp abstumpft. Im speziellen Fall dieses Spiels hauptsächlich aber ersteres, denn wer will sich nicht nach und nach Europa von den Nazis zurückholen?
Sniper Elite 4 ist mittlerweile fünf Jahre her. In dieser halben Dekade habe ich die Reihe sehr schätzen gelernt. Tatsächlich ist sie für mich die beste laufende Stealth-Serie überhaupt. Okay, Hitman hat an manchen Tagen bei mir noch ein Wörtchen mitzureden, weil seine Szenarien noch ausgefuchster sind, aber in Sniper Elite macht die Ausführung eines Plans ebenso viel Spaß wie das vorherige Ausbaldowern. Das kann ich von Nummer 47 Abenteuern nicht immer behaupten. Es stecken einfach sehr viele Feinheiten in dieser Reihe, die man vor allem als jemand, der lange Arma und DayZ gespielt hat, viel zu selten erlebt.
Sniper Elite 5 – wenn Schießen zur Kunstform wird
Ich klemmte mich in den vierten Teil richtig rein, spielte mit den komfortablen Schwierigkeitsreglern, um eine gute Balance aus Zugänglichkeit und Anspruch zu finden und begann zu lieben, wie das Spiel jeden einzelnen Schuss zu einem Kunstwerk erklärte. Wenn man denn die richtigen Settings wählte. In meinem Fall ging das nach und nach. Zunächst ließ ich alle Hilfen an, stellte den Rest der Mechanik aber auf "Authentisch", um ein Gefühl für den Einfluss des Windes und die Geschossphysik zu bekommen und möglichst harte Konsequenzen für mein Versagen zu erfahren. Doch das war nur der Anfang.
Danach schaltete ich nach und nach die visuellen Hilfen ab, die mir wie Mogeln erschienen, und musste mir dann nur noch abgewöhnen, nach jedem versemmelten Schuss den Spielstand neu zu laden. Das Ergebnis war berauschend! Wie viel Spannung dieses Spiel aus jedem einzelnen Angriff zieht, das kenne ich von keiner anderen Reihe mit vergleichbarer Verbreitung (ein Jahr nach Teil drei hatte die Sniper-Elite-Serie schon zehn Millionen Einheiten verkauft!). Es schlägt einfach einen ganz besonderen Spagat zwischen Zugänglichkeit und maximalem Anspruch. Das ist etwas, das man bei all der Kontroverse um Röntgen-Hodenschüsse schnell vergessen kann.
Nach zwei Stunden mit dem fünften Teil, in dem es Protagonist Karl Fairburne ins besetzte Frankreich verschlägt, sieht es ganz danach aus, als ginge es exakt so weiter, wie ich die Serie kenne und liebe. Maximale Flexibilität, viel Planung – und wenn man will, Hardcore-Schusswechsel unter Berücksichtigung von Kugelabfall, Mündungsgeschwindigkeit, Windstärke und dem Verschleiern eigener Schüsse, indem man sie dann abfeuert, wenn gerade andere Umgebungsgeräusche ihren Donnerhall maskieren.
Wer wollt ihr sein? Nazijäger oder unsichtbares Schreckgespenst?
Direkt zu Beginn des Levels, den ich in einer gestreamten Version zwei Mal spielen konnte, machte das Spiel klar, wie sehr es ihm darum geht, dem Spieler die Planung seines Vorgehens zu überlassen. Nach wenigen Metern steht man direkt an der ersten Kreuzung und muss sich überlegen, aus welcher Richtung man sich dem Château nähern will, in dem nicht nur Informationen über ein neues Nazi-Geheimprojekt vermutet werden, sondern auch der General Möller selbst. Letzteres stellt sich alsbald als Irrtum heraus, dennoch sollt ihr in sein Büro vordringen, was sich alles andere als einfach gestaltet. Ihr überlegt also, durch welche Serie an Stellungen, Dörfern und Brücken ihr vordringen wollt und seht euch damit jeweils anderen Herausforderungen und Gelegenheiten gegenüber.
Mir gefiel sehr, wie jeder der Orte auf der großen Karte zu seinem eigenen kleinen Rätsel wurde, für das man diverse, mal elegante, mal clevere, mal besonders rabiate Losungen finden konnte. Zu Beginn spielte ich auf maximales Chaos, nutzte Fallen, wie an Kränen hängende Paletten, oder günstig platzierte Gasflaschen, um mich anschließend aus dem Staub zu machen und einen anderen Winkel für Folgeattacken zu suchen. Der klassische Stealth-Weg, wahlweise ohne Todesopfer zu hinterlassen, bietet sich aber ebenso an, wie der komplette Geistermodus, bei dem euch eigentlich niemand bemerkt.
Es macht großen Spaß, in einem Sniper-Elite-Level nach dem besten Weg zu suchen – und das Château Berengar bildet da keine Ausnahme. Im Gegenteil, die Mission wirkt gigantisch groß, aber auch im Detail, also im Inneren des Chateaus sehr fein ausgearbeitet. Überhaupt steckt hier sehr viel mehr Leben drin als zuletzt, inklusive Fahrzeuge, die entlang der Straßen patrouillieren (und gute Ziele für Tellerminen sind). Wenn das Spiel das Niveau und den Detailgrad der Umgebungen hält, wird man in jeder einzelnen Mission viele, viele Stunden beschäftigt sein. Wer gerne experimentiert, findet immer wieder neue Wege, sein Vorgehen zu optimieren, optionale Ziele zu erfüllen und alle Werkbänke sowie alles an Geheimdienstinformationen zu entdecken. Vor allem auf den Koop freue ich mich in dieser Hinsicht, wenn man seine Abschüsse koordiniert und sich abspricht, wie vorzugehen ist.
Das sind die neuen Features in Sniper Elite 5
Zu den Neuerungen gehört unter anderem die neue Möglichkeit, zum Zielen in eine FPS-artige Sicht zu wechseln, also direkt über Kimme und Korn der Waffe zu blicken, anstatt über Karls Schulter. In meiner Anspielsitzung ging das so gut von der Hand, als wäre es schon immer so gewesen. Das gilt auch für das Klettern, das erst im letzten Teil Einzug hielt und für das ich nun gefühlt noch mehr Gelegenheiten entdeckte. Auch ist es schön, ähnlich wie in Hitman neue Startpunkte für die Mission zu entdecken, die man für künftige Anläufe als Ausgangspunkt wählen darf. Ein weiteres Feature, das Premiere feiert, ist der Fokus-Modus, den ihr euch wie eine Art sechster Sinn vorstellen könnt, wie es ihn zum Beispiel auch in The Last of Us gibt. Im authentischen Modus ist der aber, ebenso wie der Skilltree für Karl, deaktiviert und das ist wohl auch besser so.
Die letzte der größeren Neuigkeiten ist der Invasionsmodus, den ich zwar noch nicht ausprobieren konnte, den ich mir in diesem Spiel aber als besonders spannende Steigerung des "Authentisch"-Schwierigkeitsgrades vorstelle. Dringt ein anderer Spieler als gegnerischer Scharfschütze samt Fallen und allem Drum und Dran in das Spiel eines anderen ein, wird Stealth noch wichtiger. Klar, wenn eine Mission mit nur einem Schuss schon wieder vorüber sein kann.
Technisch reißt das Spiel keine Bäume aus, was man vor allem an den Gesichtern gut festmachen kann. Dennoch ist Sniper Elite 5 ganz, ganz weit entfernt davon, ein schlecht aussehendes Spiel zu sein. Der Detailgrad, die schöne Farbpalette und die glaubwürdig gestalteten Umgebungen tun viel für die Immersion, auch wenn die Engine schon ein paar Jährchen auf dem Buckel hat. Vor allem den Sound muss ich lobend erwähnen. Insbesondere die Schussgeräusche aus Karls Arbeitswerkzeug sind markerschütternd – und flößen im Zusammenspiel mit den grotesk brutalen Zeitlupen-Abschüssen wahnsinnigen Respekt vor Schusswaffen ein, bei dem einem schon mal ein wenig anders wird. Ich nicht einmal sicher, ob ich das per se sadistisch oder gewaltverherrlichend finde. Mir machen diese Gewehre und Pistolen eine Heidenangst. Ein interessanter und sicher auch beabsichtigter Effekt.
Zeit für ein erstes Fazit
Sniper Elite 5 also: Mehr vom exzellenten Gleichen – nur eben größer und lebendiger als zuvor, wie es aussieht: Ein höchst flexibler Attentats- und Spionagespielplatz, der so gut wie jedes Tempo beherrscht. Ich muss sagen, nachdem ich eine Weile vergessen hatte, dass dieses Spiel ansteht, freue ich mich jetzt doppelt darauf: Zum einen, weil mir sehr gefiel, was ich mir letzte Woche anschauen durfte, zum anderen, weil es nicht einmal mehr einen Monat entfernt ist.
Für mich ist Sniper Elite der ungekrönte König der Stealth-Spiele. Während der Großteil der Spieler in erster Linie an die ruhenden Serien von Solid Snake, Sam Fisher oder – mit etwas Abstand – an Agent 47 denken, merken sie gar nicht, dass jemand anderes leisen Fußes längst deren Platz eingenommen hat. Und das ist vielleicht der ultimative Stealth-Move an der ganzen Sache.