South of the Circle – Test: Kalter Krieg, die große Liebe – und euer Versprechen für die Ewigkeit?
Nicht nur das Leben schreibt gute Geschichten.
Ich will nicht mit Peter tauschen! Denn gemeinsam mit Kollege Floyd ist er nach einem Flugzeugabsturz in der Antarktis gestrandet. Per Funk erreichen sie natürlich niemanden und so bleibt Peter nichts anders übrig, als den Schutz der kleinen Propellermaschine zu verlassen und im ewigen Eis nach Hilfe zu suchen. Wir schreiben das Jahr 1964 und zum Glück befinden sich da schon verschiedene Forschungsstationen in der Umgebung, die erste davon in unmittelbarere Nähe. Also schiebt man Peter durch den dichten Schnee in Richtung des roten Lichts, das in der Ferne blinkt...
... um schnell festzustellen, dass das rote Licht zu dem Signal eines Bahnsteigs gehört, an dem Peter vor einigen Jahren in einen Zug stieg. Er ist dort Clara begegnet, in die er sich verlieben und mit der er ein gemeinsames Leben planen würde. Ganz recht: Die Suche nach Hilfe in der Antarktis wechselt sich ab mit den Erinnerungen an das Kennenlernen und Zusammenkommen mit Clara – was in hervorragend geschriebenen und elegant gefilmten Szenen geschieht, deren Dialoge man mit Multiple-Choice-Entscheidungen behutsam lenkt.
Was gestern war
South of the Circle gehört zu den Spielen, die vor allem eine Geschichte erzählen wollen und diese Geschichte dreht sich eben um Peter, der in Cambridge an seiner akademischen Laufbahn feilt, und Clara, die genau wie er dort unterrichtet und forscht. Sie spielt in den frühen 1960-er Jahren, zu einer Zeit, in der Geschlechterrollen klar verteilt, die Spannungen des Kalten Krieges im Alltag spürbar und kommunistische Russen das Böse schlechthin waren.
In dieser Zeit gerät Peter zwischen alle Stühle: mit seinem sowohl gesellschaftlich als auch politisch sehr konservativem Professor auf der einen Seite und Clara auf der anderen, die sich für den Stopp des atomaren Wettrüstens engagiert, sowie Freunden und Familie, die ebenfalls mit ganz eigenen Motiven an ihn herantreten. Und natürlich hängt auch immer die Frage im Raum, was eigentlich in der Antarktis geschieht, wo er in komplett verlassenen Forschungsstationen nicht die Hilfe findet, auf die er gehofft hatte.
Dieses Dreieck aus geheimnisvollem Krimi, gesellschaftlicher Spannung und behutsamer Romanze gelingt State of Play (so der Name des Entwickler-Studios ohne jede Verbindung zu Sonys gleichnamiger Streaming-Konferenz) beziehungsweise Autor und Regisseur Luke Whittaker ausgesprochen gut, zumal das alles gleichwertige Bausteine derselben Geschichte sind. Auch die zwei Zeitebenen – Peters Gegenwart und seine Erinnerungen an die Zeit in Cambridge – kommen am Ende auf eine Art zusammen, die ebenso logisch ist wie sie nachdenklich macht.
Mir hat es jedenfalls zu denken gegeben und das tut es heute noch. Was unter anderem daran liegt, dass ich mich so sicher fühlte mit den Entscheidungen, die ich an Peters Stelle traf, und weil mir die Art und Weise, mit der er in die Vergangenheit blickt, so vertraut vorkam, bevor das Ganze schließlich einen Dreh verpasst bekam – keinen Twist im Sinne einer großen Wendung, nur einen leicht versetzten Blickwinkel –, der ein neues Licht auf die Erinnerungen wirft. Eins das man viel früher hätte sehen können. Im echten Leben sowieso. Das ist nämlich der Punkt, den Whittaker so zielgenau trifft: Seine Geschichte ist nicht nur spannend und gefühlvoll, sondern auch überraschend lebensnah.
Plansequenz statt stark geschnitten
Dass ihm das gelingt, liegt zum einen an seiner cleveren Inszenierung, denn trotz der einfachen Pinselstriche und Farbgebung erwecken überzeugende Animationen die Figuren zum Leben. Ganz besonders sind es außerdem die englischen Sprecher, allen voran Olivia Vinall als unheimlich charmante Clara, denen ich die gesamten vier Stunden lang gerne zugehört habe. Zwar kommt Peter als derjenige, dessen Erinnerungen man erlebt, für mein Empfinden etwas zu kurz. Er müsste manchmal etwas mehr Elan an den Tag legen, anstatt bei allen Dialogoptionen fast durchgehend sehr zurückhaltend aufzutreten. Doch das ist nur eine Kleinigkeit und umso stärker trägt Clara eben als emotionaler Aufhänger einen Großteil der Erzählung.
Klasse sind außerdem die vielen Kamerafahrten, die sich zum Beispiel langsam auf Charaktere zu bewegen, sie umkreisen, wenn der Fokus eines Gesprächs verlagert wird, und sich anschließend wieder aus der Szene zurückziehen. State of Play kommt über weite Strecken ganz ohne Schnitte aus, wodurch man stärker in die Momente hineingezogen wird. Gerade gegenüber den starren Schuss-Gegenschuss-Tiraden der meisten Videospiele empfinde ich diese Inszenierung als Wohltat.
Klasse auch, dass sogar die Wechsel zwischen Gegenwart und Erinnerung oft mit sehr einfallsreichen Übergängen vollzogen werden! Das eingangs erwähnte rote Licht der Forschungsstation beziehungsweise des Bahnsignals ist nur eins von vielen Beispielen. Nicht vergessen will ich außerdem den Soundtrack, der mal leise Emotionen begleitet, bei drohender Gefahr langsam anschwillt und später geheimnisvoll im Hintergrund lungert: Ed Critchleys Musik verleiht dem Abenteuer je nach Szene genau die richtige Schwere oder entwaffnenden Charme.
Bedauerlich ist, dass technische Ärgernisse mitunter so stark auffallen, dass sie sogar in einigen wichtigen Momenten stören. Bücher oder Taschen, die in Kleidungsstücke hineinragen, sind noch das kleinere Übel. Auffallender sind Objekte in den Händen der Protagonisten, wenn sie nicht wie vorgesehen gegriffen werden, sondern sich in seltsamen Winkeln wegdrehen. Auch auf das gelegentliche Ruckeln sich bewegender Charaktere hätte ich gerne verzichtet.
Vom Gefühl diktiert
Umso mehr mag ich dafür die Dialoge – nicht nur, weil sie verdammt gut geschrieben sind, nämlich so wie Menschen sich tatsächlich unterhalten, anstatt einem Publikum den Inhalt vorzukauen, sondern auch wegen des cleveren Dialogsystems. Immerhin bekommt man keine ausformulierten Sätze oder Wortgruppen vorgesetzt, sondern Symbole, die die Art und Weise beschreiben, mit der Peter antworten könnte.
Das kann selbstbewusst, fragend, einfühlsam, ängstlich oder enthusiastisch sein, wobei man die Symbole recht schnell verinnerlicht und immer nur maximal drei davon zur Wahl stehen. Und obwohl man mit diesem System gar nicht weiß, was genau er daraufhin sagen wird, entwickelt man ein erstaunlich gutes Gespür dafür, wie er auf zum Beispiel Clara reagiert. Man ist kaum damit beschäftigt, Sinn und mögliche Konsequenzen einer Option zu erörtern, sondern auf angenehm intuitive Art emotional beteiligt.
Natürlich gibt es auch hier diese typischen Situationen, in denen die dann abgespielte Reaktion nicht dem entspricht, was man als Spieler ausdrücken wollte. Ob Peter selbstbewusst ablehnen oder zustimmen wird, weiß man ja nicht. Man hat es aber ohnehin nicht in der Hand und lasst euch versichert sein, dass euch daraus keine Nachteile entstehen. Die normalen Entscheidungen färben lediglich den Verlauf der aktuellen Unterhaltung, während kritische Entscheidungen als solche markiert und auch immer eindeutig identifizierbar sind. Ihr könnt ohnehin nicht falsch spielen, kein schlechtes oder gutes Ende finden.
South of the Circle – Test-Fazit
Lasst euch einfach von dieser wundervollen Erzählung treiben! Ihr seid Teil davon, ohne sie zu schreiben. State of Play beziehungsweise der federführende Luke Whittaker wissen genau, auf welches Ende sie hinaus wollen und werden euch (mit kleinen Varianten) auch genau dorthin leiten – indem sie mit einer eleganten Kamera sehr charmante sowie erfreulich lebensnahe Charaktere einfangen und die verschiedenen Ebenen ihrer spannenden, romantischen Geschichte in einer starken Pointe zusammenführen. Nein, ich will tatsächlich nicht mit Peter tauschen. Wenn auch aus Gründen, die mit seiner Reise über das ewige Eis nichts zu tun haben. Dabei steckt am Ende doch viel mehr von mir in ihm drin, als es mir recht ist. Und das ist ohnehin der größte Erfolg dieses gefühlvollen Spiel-Films.