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State of Mind und die Angst der Menschen vor dem Unbekannten

Im Gespräch mit Daedalics Martin Ganteföhr.

"Fakt ist, dass an vielen Dingen, die in State of Mind Thema sind, aktiv gearbeitet wird", sagt Martin Ganteföhr. "Gleichzeitig, heute, in unseren mächtigsten Konzernen." Mit dem Daedalic-Titel erschuf der kreative Leiter gemeinsam mit seinem Team ein Spiel, in dem es um die Zerrissenheiten einer transhumanistischen Zukunft geht. Eine Zukunft, die heute realistischer ist als damals, als er an dem im Jahr 2004 veröffentlichten The Moment of Silence arbeitete.

"Als The Moment of Silence herauskam, habe ich in Reviews gelesen, ich hätte zu viel X-Files geschaut", erzählt er im Gespräch mit Eurogamer.de. "Und damit war das Thema erledigt. Acht Jahre später hat Edward Snowden der Weltöffentlichkeit mitgeteilt, dass es das System, das das Spiel als Fiktion darstellte, in der Praxis gibt. Aber es gehörte nicht so viel Phantasie dazu, das für wahrscheinlich zu halten, es war technisch möglich und strategisch wünschenswert."

Der Unterschied zu State of Mind ist, dass dessen transhumanistische Idee absolut phantastisch sei. Derart "umfassend und ungeheuerlich", dass seine konkretisierte Fiktion dagegen konservativ und klein wirke. Vieles davon, was es im Spiel gibt, ist absehbar und sei auf dem Weg. Die Frage ist: Macht uns das Angst oder nicht?

"Ob man deshalb Angst haben muss, ist eine interessante Frage", erläutert er. "Menschen haben immer Angst vor dem Unbekannten, dabei könnte es ja auch Auswege zeigen. Aber wenn Modelle von gottähnlicher Totalität angekündigt werden, lohnt es sich sicher, Vorsicht walten zu lassen. Die Zukunft gehört ja nicht nur denen, die sie herstellen, sondern auch denen, die darin leben müssen. Nicht alles, was möglich ist, ist auch wünschenswert."

Das Berlin der Zukunft.Auf YouTube ansehen

Erste Denkanstöße für State of Mind erhielt Ganteföhr während seiner Arbeit an The Moment of Silence. Im Zuge dessen beschäftigte er sich mit Büchern, Artikeln und Prognosen von Transhumanisten. "Einfach weil das die Quellen sind, die am selbstbewusstesten allerlei Prognosen zu einer kommenden Techno-Utopie verbreiten", erklärt er. In den Folgejahren habe sich immer deutlicher gezeigt, dass es in Silicon Valley viele Anhänger dieser Denkschule gibt. Das Thema erhielt unter anderem für Spiele eine Relevanz. Er hofft, dass sich noch viele andere Projekte damit befassen und unterschiedliche Perspektiven zeigen - und das auch in anderen Formen der Kultur.

Als Grundlage für das Spiel dienten seine eigenen Recherchen zu dem Thema, die er zum Teil offen legte. "Mir war frühzeitig klar, dass die Geschichte in State of Mind fantastische Elemente enthalten würde, denn im Transhumanismus fällt die Spekulation des Fiktionalen ja mit einem entfesselten Willen zur tatsächlichen Zukunftserzeugung zusammen", erzählt er. "Die Figur des 'Mad Scientists' ist heute nicht mehr zuerst fiktionales Klischee, sondern gesellschaftliche Realität."

Wie bei jedem Spiel gab es im Verlauf der Entwicklung einige Iterationen, darunter tiefgreifende. Dinge fielen der Schere zum Opfer, andere kamen hinzu. Ursprünglich sei zum Beispiel angedacht gewesen, dass Richards Erkenntnis über die zweite Welt der Höhe- und Wendepunkt der Geschichte ist. "Aber das kam mir bald viel zu absehbar vor", erklärt Ganteföhr. "Zu klein, zu alltäglich, auch schon aus heutiger Sicht. Außerdem wollte ich nicht zuerst die utopischen Technologien des Transhumanismus zum Thema machen, sondern die Geschichten der Menschen, der Nicht-mehr- und Noch-nicht-Menschen, die von ihnen zerrissen sind. Also haben Tilman Schanen, der unter anderem unser Utopia geschrieben hat, und ich das in einer frühen Phase noch einmal durchgearbeitet."

Insgesamt werkelte das Team nahezu drei Jahre an dem Projekt. Nach zwei Dritteln dieser Entwicklungszeit habe es noch einmal intensive Diskussionen über das Spiel gegeben. Dabei stellten sich die Macher verschiedene Fragen, ob zum Beispiel die Geschichte experimentell oder assoziativ sein dürfe. Ob es zu viele Themen gebe und zu wenige davon zu Ende erzählt werden. Oder ob eine klassische Erzählstrategie wie in Hollywood nicht besser wäre, damit die Spieler Antworten erhalten.

State of Mind nutzt einen unverwechselbaren Stil.

"Ich bin kein Riesenfan von solchen Antworten, zumal nicht beim Thema Transhumanismus, da sind gerade Suggestion und Spekulation meines Erachtens starke Mittel", führt er aus. "Aber ich glaube, wir haben ein gutes Maß gefunden. Das Spiel lässt Dinge offen, und das finde ich sehr richtig. State of Mind ist aber gerade durch seine letzte, lange Iteration entschieden zugänglicher und runder geworden, als es das zwischendurch gewesen ist. Und auch das ist sehr gut."

Der "Faceted-Low-Poly-Look" war dabei von Anfang an ein Teil des Konzepts. Er verdeutliche ihre papierne Zerbrechlichkeit, die Zusammensetzung aus "Scherben" und die surreale Wirkung der polygonalen Optik seien für ihn gesetzt gewesen. Für ein Spiel wie State of Mind, das sich mit Virtualität beschäftigt, käme nichts anderes in Frage. Art Director Stefan Wacker habe dieses Konzept in einen unverwechselbaren Stil verwandelt, von dem Ganteföhr überzeugt ist, dass er gut altern werde. Diskussionen über den Look habe es trotz allem noch bis weit in die Hauptproduktion hinein gegeben. "Ich bin immer noch froh, dass wir uns dazu durchgesetzt haben", merkt er an.

"Menschen haben immer Angst vor dem Unbekannten, dabei könnte es ja auch Auswege zeigen."

Martin Ganteföhr

Die Entwicklung des Projekts bezeichnet Ganteföhr als schwierig, nervenaufreibend und dramatisch. Das Team sei um Jahre gealtert. Freundschaften entstanden, es gab Krach und Versöhnungen. "So ist Game Development, es geht immer um alles", erläutert er. "State of Mind ist mit allen seinen Imperfektionen ein Spiel, von dem ich das Gefühl habe, dass es einen ganz eigenen Charakter hat. Ich bin sehr glücklich, dass wir es gemacht haben. Und ich freue mich tatsächlich über das große Spektrum der Resonanz, gerade auch über die gegensätzlichen Reaktionen."

Zwar empfinde er sein Leben lang eine Abneigung gegen Bewertungssysteme in Spieletests, mit den internationalen Bewertungen sei er indes zufrieden. Diese bewegen sich zwischen 70 und 90 Prozent, der Durchschnitt liegt bei 75. Neben Kritik gebe es viel Anerkennung für das Spiel, vor allem von Spielern. Eine Gratulationsnachricht aus dem Deus-Ex-Team würde er sich gerne einrahmen. "Natürlich würden wir gern mehr verkaufen, aber das Leben ist ja noch lang", sagt er.

Keine Zukunft ohne Roboter.

Überrascht haben ihn die empörten Reaktionen mancher Leute bezüglich des Hauptcharakters, dem bekannten Journalisten Richard Nolan. Und das, obwohl er sich im Klaren darüber war, dass eine unsympathische Hauptfigur für harsche Kritik sorgen würde. In Alex' Test kam der Protagonist ebenfalls nicht gut weg.

"Deshalb müssen solche Figuren gemacht werden", betont Ganteföhr. "Wenn dieselben Leute, die sich beispielsweise in der Rolle des zynischen Intensivtäters in GTA abfeiern und die zugehörigen Figuren als fiktional beziehungsweise satirisch entschuldigen, sich dann maßlos darüber aufregen, dass in einem Adventure eine fiktionale Hauptfigur lügt, fremdgeht und fragwürdige Entscheidungen trifft - dann ist das doch ein interessanter medialer Moment."

"Ich wusste immer, dass wir nicht der Telltale-Erzählformel folgen würden."

Martin Ganteföhr

Das Team sei stolz auf das, wozu sich sich State of Mind am Ende entwickelte. Wie jeder Entwickler würden das Team gerne zurückgehen und Dinge ändern, aber die Spielentwicklung sei ein Prozess des Entdeckens. Es gehe darum, den Entwicklungszustand loszulassen, obwohl man just herausfand, wie es eigentlich hätte sein müssen. Ganteföhr ist überzeugt, mit State of Mind viele Dinge gemacht zu haben, die man im Studio sehr gut und richtig finde.

"Das Spiel erzeugt einiges an Welt, an Charakter, und - wie ich hoffe - auch an Assoziationsraum", erläutert er. "Wir haben außerdem viele Dinge sein gelassen, die wir falsch fanden, obwohl sie Hype waren. Das ist viel schwieriger als man denkt. Ich wusste immer, dass wir nicht der Telltale-Erzählformel folgen würden. Und genauso klar war uns, dass ein Projekt wie STOM auf keinen Fall in die Falle eines 'richtigen' Story-Branchings tappen würde, mit vielleicht fünf Prozent des Budgets entsprechender Major-Produktionen. State of Mind, so sehe ich das, ist ein sehr schönes Game geworden, und es wird seinen Weg schon machen."

Die Technologie wird immer wichtiger.

Vieles von dem erhaltenen Feedback habe das Team kommen sehen, was für positive wie auch für negative Kritiken gelte. Von der Dichte und dem Design des Gameplays bis hin zur Hollywood-Vollständigkeit, Fragmentierung und Interaktionsfähigkeit der Geschichte. Da Spieler keine homogene Gruppe sind, sei es immer eine Frage des Ausschnitts, der dabei betrachtet werde. Aus den verschiedenen Soziotopen des Gamings kämen komplett widersprüchliche Nachrichten.

"Eine Portion Mut zur Polarisierung, zum Risiko - übrigens auch zum Fehler - muss man mitbringen, wenn man etwas in diese Wildnis stellt", sagt Ganteföhr. "Keine Erkenntnis ist von Dauer. Kritik gibt mir immer sehr zu denken. Ich bin weder taub noch blind, weder hirntot noch gefühlskalt. Aber das Medium gehört uns ja allen zusammen, und es sendet in beide Richtungen. Wir alle haben Erwartungen an unsere Games, wir sitzen da im selben Boot, und ich schätze, wir müssen uns gemeinsam weiterentwickeln."

Führt uns das alles am Ende zu einem State of Mind 2? "Natürlich haben wir Ideen, wir haben dieses Universum ja gerade erst entdeckt, eigentlich ginge es jetzt erst richtig los", erzählt er. "Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich in den letzten 22 Jahren meiner sogenannten Karriere noch nie ein Sequel gemacht habe." Aber wie heißt es so schön? Es gibt für alles ein erstes Mal. Hierbei ebenfalls? Das zeigt uns die Zukunft.

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