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Stöbern in fremden Leben: A Normal Lost Phone

Was würdet ihr wohl machen, wenn ihr das Smartphone eines Fremden finden würdet?

Habt ihr schon einmal ein Smartphone gefunden? Falls ja, werdet ihr vermutlich festgestellt haben, dass es passwortgeschützt ist. Oder dass ihr eine bestimmte Geste auf den Touchscreen vollführen müsst, um Zugriff zu bekommen. Stellt euch nun vor, das wäre nicht so. Was würdet ihr versuchen?

Ich würde vermutlich wissen wollen, wem das Gerät gehört. Nicht nur, damit derjenige es zurückbekommt, das bestimmt auch, aber ich wäre auch einfach neugierig. In vollgestopften U-Bahnen habe ich meistens nicht die geringste Scham, anderen Leuten in ihr Handy zu gucken, während die gerade ihren Liebsten Herzchen-Emoticons schicken. Ist ja voll, alle haben ihre Handys in der Hand, also wohin mit meinem Blick? Genauso würde ich auch handeln, wenn ich ein nicht passwortgeschütztes Telefon finden würde. Ich würde wissen wollen: Welche Musik hört dieser Mensch, welche Nachrichten hat er geschrieben und was macht er in seinem Leben gern. Dank A Normal Lost Phone konnte ich das nun zumindest bei einem fiktiven Charakter herausfinden - und mich nicht mehr losreißen, bis die Credits über mein Display liefen.

Euer Smartphone Home Screen: Schön übersichtlich.

A Normal Lost Phone gibt es zwar auch für Steam, das beste Spielerlebnis hat man aber sicher auf einem Smartphone. Gut deshalb, dass das Spiel auch für iOS und Android erhältlich ist. Gleich zu Beginn findet ihr euch auf dem Startbildschirm eines typischen Smartphones wieder, habt aber zunächst nur Zugriff auf die Kurznachrichten. Da gratuliert der Vater zum Geburtstag, dort erzählt die Schulfreundin von ihrer Magen-Darm-Grippe. Der Handy-Eigentümer heißt Sam und wie es scheint, ist er gerade 18 geworden. Und dann verschwunden. Was passiert ist, müsst ihr nun herausfinden.

Ja, A Normal Lost Phone spielt die gesamte Zeit über ausschließlich auf dem Handy. Ihr wechselt von App zu App und findet so neue Dinge über Sam heraus. Und dennoch hat mich das Spiel frappierend an Gone Home erinnert. Denn je mehr ihr euch in einen Teilbereich des Spiels vertieft, desto mehr öffnen sich weitere Bereiche. Was bei Gone Home ein bestimmter Flügel des verlassenen Elternhauses war, ist bei A Normal Lost Phone die App. Irgendwo in den Kurznachrichten verbirgt sich der Hinweis auf ein WLAN-Passwort, das wiederum verschafft euch Zugang zu euren E-Mails, in denen sich dann Details über euren Dating-App-Account befinden. Eure zwei Accounts, um genau zu sein.

In seinen Mails unterhält sich Sam durchaus mal mit einer Freundin über Magen-Darm-Erkrankungen.

Warum zwei Accounts? Das werdet ihr nach spätestens einer Stunde im Spiel herausfinden. Es ist zugegeben nicht ganz leicht, über die Geschichte von A Normal Lost Phone zu schreiben, ohne sie zu verraten. Was ich aber sagen kann: Dieses Erlebnis lohnt sich. Das Spiel ist hervorragend ins Deutsche übersetzt worden und bedient sich einer realistischen Art WhatsApp-Umgangssprache. So wie die Figuren in A Normal Lost Phone schreiben, so schreiben sie auch in der Realität. Es gibt Tippfehler, es gibt die Typen, die noch nicht festgestellt haben, dass man mit einem Handy auch Kleinbuchstaben tippen kann und es gibt die, die einfach ums Verrecken keine Satzzeichen machen wollen. Ich habe all diese Menschen auch in meinen Facebook- und Twitter-Timelines, ich fühle mich daheim. Keine gekünstelte Jugendsprache, kein Yolo, Gott sei Dank.

Stattdessen: Intime Einblicke in die Gedanken von jemandem, der nicht so ganz weiß, wer er ist. Der noch nicht wirklich erkannt hat, was Erwachsenwerden für ihn bedeutet, der mit seiner Familie nicht klarkommt, der seinen Onkel nicht leiden kann, für den Familienfeiern ein Graus sind. Der nach Gleichgesinnten sucht, sie findet und sich trotzdem noch auf Identitätssuche befindet. Sams Geschichte ist überragend einfühlsam erzählt, selten habe ich so etwas in einem kleinen Indie-Titel gesehen. Am Ende verstehe ich Sams Leiden, all seine Probleme und seinen Frust. Und ich weiß leider auch keinen Ausweg für ihn. Gut, dass Sam einen für sich selbst findet, kurz bevor der Abspann über den Bildschirm läuft.

Smartphone-Dating!

Würde ich A Normal Lost Phone jedem empfehlen? Sicher nicht. Das Spiel beinhaltet ein paar kleinere Rätsel, ist aber ansonsten eine Visual Novel in Form eines Handybildschirms. Es lebt von seiner wunderbaren Geschichte und einer Erzählung, die ganz ohne Helden und Bösewichte auskommt. Sie ist stattdessen durchsetzt von Figuren aus dem Hier und Jetzt. Leuten, die ihr auch in eurer Nachbarschaft treffen könntet. Die Proleten, die Intellektuellen und die Freaks. Wer dabei zu welchem Schlag gehört, bestimmt ihr letztlich selbst. Würde ich A Normal Lost Phone allen empfehlen, die gute Geschichten mögen? Auf jeden Fall.

Entwickler/Publisher: Accidental Queens / Plug In Digital - Erscheint für: PC, iOS, Android - Preis: 2,99 Euro - Erscheint am: erhältlich - Getestete Version: iOS- Sprache: deutsche Bildschirmtexte - Mikrotransaktionen: Nein

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Markus Grundmann Avatar
Markus Grundmann: Seine ersten Videospiele konsumierte Markus auf dem Game Boy. Heute spielt er so ziemlich alles, bei dem er auf Knöpfe drücken kann – mit besonderer Vorliebe für Nintendo und extravagante Indie-Titel.
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