Syberia: The World Before - das Gedicht unter den Adventure-Games
Beim neusten Point-And-Click von Microids handelt es sich um den 4. Teil der bekannten Reihe und um das letzte Videospiel von Benoît Sokal.
Eine Sache ist sofort wieder unbestreitbar: Benoît Sokal hat mit Syberia ein ganz besonderes Universum mit einem eigenen, bittersüßen Gefühl geschaffen, das wunderbar mit Sentimentalität, aber auch Überraschung spielt. Mit The World Before erscheint nun auch das letzte Werk, an dem der belgische Zeichner mitarbeiten konnte und somit eine Art virtueller Nachruf in Sepia. Dieser sieht vielleicht nicht aus, wie ein AAA-Game, füllt für mich aber eine kleine, poetische Lücke in meinem Adventure-Herzen, die andere Franchises einfach nicht stopfen können.
Syberia: The World Before - Inhalt:
Immer langsam mit den jungen Spielen!
Wollte man es etwas hochtrabend erklären, könnte man das Syberia-Setting irgendwo zwischen Retro-Futurismus und magischem Realismus einordnen. Wem das zu dick aufgetragen ist, dem kann ich stattdessen sagen: Die Geschichte spielt in einer fiktiven, alternativen Realität in der Retro-Automaten eine besondere Rolle einnehmen. In The World Before werden sogar zwei Handlungsstränge beleuchtet, einer zu Beginn der 2000er, der andere aus den späten 30er-Jahren.
Auch in Teil vier dreht sich alles wieder um die Ex-Anwältin Kate Walker, deren Story in Teil drei aus Sicht einiger vielleicht ein bisschen von den rostigen sibirischen Eisenbahnschienen gerollt und entgleist ist. Jetzt ist sie allerdings zurück, um ein paar Sünden wieder gutzumachen. Aus der Kälte eines sibirischen Gefangenenlagers bricht sie noch einmal zu einem überraschend langsam erzählten Abenteuer in stimmungsvollen Bildern auf.
Das ist eine der großen Besonderheiten von Syberia: Das Erzähltempo läuft im Gegensatz zu den rasanten Actiontiteln und FPS-Monstern, die man heute gewöhnt ist, verwirrend ruhig und das muss nichts Schlechtes sein. Okay, nicht jeder Dialog und jede Wendung zu Beginn des Spiels ist ein Treffer - klar, Kate sieht ein paar Minuten lang ein altes Gemälde, das ihr ähnlich sieht und ist gleich komplett heiß darauf? That escalated quickly. Aber die tollen Ideen und die liebevolle Vertonung reichen aus, um einen trotzdem rasant hineinzuziehen.
Mit der poetischen Erzählweise ist Syberia jedenfalls selbst unter den Story-Adventures ein kleiner Außenseiter, das macht aber den besonderen Charme aus. Selbst ich ungeduldiger Zappelphilipp empfand die Syberia-Spiele immer als extrem willkommene Abweichung von der Norm. Okay, ich gebe es zu, immer hat es bei mir mit der andächtigen Stimmung nicht hingehauen, aber ich habe es versucht!
Manchmal war es für mich dann ein wenig wie Meditationsversuche nach vier Gläsern Wodka-Energy und eine hyperaktive Klickorgie auf unüberspringbare Cutscenes, aber es war schön, sich mal ein wenig zur Ruhe zu zwingen. Wenn man etwas zum zweiten oder dritten Mal anklickt - aus Versehen - wäre es dann aber doch nett, die ausgelutschte Sequenz endlich überspringen zu können.
Gefühls-Expedition ins Uncanny Valley
Noch ist Syberia aber natürlich eine echt spezielles Franchise und das Budget dafür wuchs auch nicht auf sibirischen Tannen. Bei all der Atmosphäre, all der rührseligen Hintergrundmusik, ist das natürlich nicht Triple-A. Klar, das kann man Syberia als Nischenspiel eigentlich nicht vorwerfen, vor allem, weil die Grafik mit all den Jahren einen langen Weg zurückgelegt hat - nur eben etwas langsamer als andere Franchises.
Und trotzdem: egal, wie dramatisch manche Spielszenen auch sind (gleich am Anfang kommt zum Beispiel eine, die eigentlich echtes Tragik-Potenzial haben müsste), mit den leicht versteinerten Gesichtsregungen in Syberia geht immer etwas Gefühl verloren.
Ich liebe die Stimmung des Spiels trotzdem, aber mein mechanisches Herz blutet ein wenig (oder leckt?), wenn ich überlege, was in Sachen Atmosphäre noch drin gewesen wäre. Syberia ist eben trotz der leidenschaftlichen Adventure-Fan-Gemeinde kein Blockbuster und das spiegelt sich natürlich im Budget. Logisch, aber doch ein wenig schade.
Obwohl die Optik rein technisch ein wenig hinterherhinkt, merkt man trotzdem jedem Bild des Spiels an, wie akribisch der Stil durchdacht ist, wie viel Liebe zum Detail darin steckt und wie stark auf Atmosphäre und Emotionen gesetzt wurde. Auch Symbole und Detailreichtum kommen nicht zu kurz, auf jedem Hintergrund hat man das Gefühl, dass alles perfekt in die nostalgische Sepia-Realität von Syberia passt und entdeckt immer wieder kleine Überraschungen - ein wenig wie ein ausgereiftes Filmset.
Was mich in der Story noch alles erwarten wird, weiß ich noch nicht und ich glaube, dass nicht alle Wendungen und Twists butterweich sein werden. Das unverkennbare Syberia-Gefühl hat mich allerdings schon jetzt gepackt - ein letztes Mal abtauchen in eine ganz besondere Welt, die im Adventure-Genre ihresgleichen sucht.
Das Point-and-Click-Abenteuer Syberia: The World Before von Microids gibt es seit Kurzem für den PC (zum Beispiel bei Epic Games), Konsolen-Versionen sollen aber folgen.