Call of Juarez
Wer zuerst zieht...
Die Luft flirrt. Jeder Schritt ist eine Qual unter der sengenden Sonne. Billy schleppt sich der Farm seiner Mutter entgegen. Die Zunge klebt ihm am Gaumen vor Durst. Die Fetzen, die der junge Halbindianer auf seinem geschundenen Leib trägt, haben bereits die rostbraune Farbe des Präriestaubs angenommen. Irgendetwas stimmt nicht. Dieses Knistern ist nicht normal. Plötzlich ein gellender Schrei ...
Reverend Ray wirkt imposant, wie er den Bürgern des schäbigen Städtchens Hope von der Kanzel der Dorfkirche Gottes Wort entgegenschleudert. Seine inbrünstige Eloquenz macht fast vergessen, dass er in der Gegend einst als Revolverheld gefürchtet war. Doch heute ist Ray geläutert. Den flinken Umgang mit dem Schießeisen hat er in all den Jahren trotzdem nicht verlernt. Seine flammende Predigt wird der Pfarrer an diesem Tag nicht zu Ende führen: die Holztür des Gotteshauses springt auf, eine junge Frau stürmt herein. Das Entsetzen ist ihr ins Gesicht geschrieben, als sie atemlos etwas von einem Unglück stammelt, das sich auf der Farm von Rays Bruder Thomas ereignet hat.
Der Reverend eilt zum Ort des Geschehens, vermeintlich auf alles gefasst. Doch dann packt ihn doch das Grauen: Auf dem Hof des Anwesens liegen die Leichen von Thomas und dessen Frau - übel zugerichtet. Blutverschmiert. Die Gliedmaßen bizarr verdreht. Auf dem weit geöffneten Tor der brennende Scheune prangen in leuchtenden Lettern die Worte "Call of Juarez". In unmittelbarer Nähe der Toten: ein Fremder, ein heruntergekommener Typ mit indianisch anmutenden Gesichtszügen und einer blutigen Peitsche in der Hand. Der Mörder, auf frischer Tat ertappt? Doch ist das nicht Billy, der aufmüpfige Stiefsohn von Rays Bruder? Sollte er tatsächlich die beiden ...? Unbändige Wut erfasst Ray. Zur Rache entschlossen, heftet er sich sofort an die Fersen des Fliehenden ...
Gespaltenes Ego
"Call of Juarez" ist ein epischer Western mit allen Ingredienzien, die das Genre ausmachen: kantige, wortkarge Typen mit zusammengekniffenen Augen, immer schnell dazu bereit, eine Auseinandersetzung mit bleihaltigen Argumenten beizulegen. Schroffe Landschaften, in denen hinter jedem Busch, hinter jedem Felsvorsprung der Tod lauern kann. Staubige Goldgräbersiedlungen, in deren Saloons der Whisky in Strömen fließt und rassige Schönheiten ihrem Gewerbe nachgehen. Der Kampf ums Überleben und Rache für erlittene Schmach bestimmen das Dasein. Es gilt das Recht des Stärkeren.
Beleuchtet wird das harte Wild-West-Leben aus zwei gänzlich unterschiedlichen Perspektiven: "Call of Juarez" versetzt Euch einmal in die Rolle des getriebenen Außenseiters Billy, einer guten Seele ohne Chancen, immer auf der Flucht. Billy schleicht sozusagen geduckt durchs Leben, wie ein gehetztes Kaninchen. Seine beste Freundin ist seine Peitsche, die er als tödliche Waffe einzusetzen vermag, mit deren Hilfe er aber auch Abgründe überwinden oder Steilwände emporklettern kann. Dann wieder schlüpft Ihr in die Haut des Dorfgeistlichen Ray, der trotz seines seelsorgerischen Berufs ein alter Haudegen geblieben ist und sich bestens auf den Umgang mit Feuerwaffen versteht. Am liebsten trägt Ray in beiden Händen gleichzeitig Schießeisen, beweist aber auch mit dem Gewehr auf große Entfernungen immer wieder seine Treffsicherheit. In Duellen hat er den Finger meist schneller am Abzug als seine Kontrahenten. Dabei kommt ihm der so genannte Konzentrations-Modus zugute, der das Spiel für eine kurze Phase sozusagen in Zeitlupe ablaufen lässt. Ray kann so schneller ziehen und in aller Ruhe auf den Gegner zielen.
In Hope und Umgebung gibt es für Euch viel zu tun. "Call of Juarez" ist zwar ein klassischer Ego-Shooter, reizt die Möglichkeiten des Genres jedoch bis zum letzten aus. Das Gameplay ist rasant und spannungsgeladen, es gibt kaum Elemente, die den Spielfluss bremsen oder die Story ins Stocken bringen. Und wenn Ihr Euch doch mal an einer Stelle länger die Zähne ausbeißt, dann meist, weil Ihr das in der Realität auch tun müsstet. Wenn Billy beispielsweise aus Hope fliehen will und dabei den allgegenwärtigen Wachposten ausweichen muss, ist schon eine gehörige Portion Fingerspitzengefühl und Schlauheit vonnöten, wollt Ihr nicht von den gegnerischen Kugeln zersiebt werden: von hinten anschleichen, den richtigen Zeitpunkt abwarten, über Kisten unbemerkt auf Hausdächer klettern, jede sich bietende Deckung ausnutzen usw. "Thief" lässt grüßen.
Als Ray habt Ihr es da schon wesentlich leichter und könnt nach Herzenslust ballern. Doch auch der Reverend muss auf der Hut sein: der Feind ist meist in der Überzahl. Schützen lauern oft gut versteckt auf Hausdächern oder hinter taktisch klug positionierten Holzfässern. Sie sind ständig in Bewegung. Damit gilt auch für Ray: jeder unbedachte Schritt könnte sein letzter sein ...
Mit Schießen, Schleichen und Sprengen ist es in den "Call of Juarez" jedoch längst nicht getan. Was wäre ein Western ohne Schlägereien? Lasst doch zwischendurch einfach mal die Fäuste sprechen! Und was ist mit Pferden? Ihr könnt Euch natürlich auch auf Rösser schwingen, um schneller von A nach B zu gelangen oder Eure Gegner aus dem Sattel ins Visier zu nehmen. Mit Hilfe von Öllampen legt Ihr Brände, um Widersacher aus ihren Verstecken zu treiben. Oder Ihr greift zum Wassereimer, um Feuer zu löschen, damit Ihr selbst keinen Schaden nehmt. Gerade Ray zeigt, dass auch gesetzte Gottesmänner sehr agil sein können: Er tritt widerspenstige Türen mit dem Fuß ein, schiebt und stapelt Kisten, klettert Leitern hoch, balanciert in schwindelnden Höhen über morsche Holzbretter und springt auch mal locker von einem Balkon zum nächsten.
Bigosch-Western
Die Leute, die sich dieses facettenreiche Melodram ausgedacht haben, sitzen weder in Hollywood noch im Land der Spaghetti-Western, sondern in Wroclaw (ehemals Breslau), der viertgrößten Stadt Polens. Techland heißt die Software-Schmiede, die sich vor "Call of Juarez" bereits mit dem futuristischen Ego-Shooter "Chrome" einen Namen gemacht hat. Die "Chrome"-Engine bildet auch das technische Rückgrat von "Call of Juarez", erweitert mit Shader Model 3.0-Unterstützung zur Realisierung u. a. von Lichtbrechungen und Tiefenunschärfe-Effekten. In der Theorie bietet das Western-Spektakel somit eine ungeheuer stimmungsvolle Grafikpracht und schafft recht naturgetreue Abbilder ganz typischer Western-Szenarien: die Luft flimmert wirklich, Rauch- und Nebelschwaden wabern, das Sonnenlicht bricht sich auf glitzerndem Wasser und erzeugt realistische Echtzeit-Schatten, atemberaubende Feuer-Effekte lassen einem beim Spielen selber ganz heiß werden. Hinzu kommt eine realistische Physik, die es erlaubt, nahezu jeden herumliegenden Gegenstand zu benutzen. Kisten, Fässer oder Steine lassen sich aufeinander stapeln, verschieben oder werfen.
Leider werden die wenigsten Spieler "Call of Juarez" in seiner vollen Pracht erleben. Die Hardware-Anforderungen sind derart exorbitant, dass selbst Rechner, die die Empfehlungen des Herstellers voll erfüllen, zeitweise noch überfordert sind. Gerade bei den üppigen Graslandschaften und Waldabschnitten sinkt die Framerate bei vollen Details derart in den Keller, dass einem beim Spielen der Spaß vergehen kann. Was ganz am Anfang als rasante Verfolgungsjagd zwischen Billy und Ray gedacht ist, wird zu einer kaum mehr steuerbaren Zeitlupen-Ruckelorgie. Ihr könnt hier aber ganz leicht Abhilfe schaffen, indem Ihr die Grasdarstellung in den Optionen auf "niedrig" setzt - der bildschönen Optik tut das in der Praxis keinen Abbruch. Auch der Unterschied zwischen hoher und mittlerer Soundqualität ist eigentlich kaum wahrnehmbar, bringt aber Performance-Gewinne.
Habt Ihr das Ruckel-Problem einmal gelöst, gibt es für Euch im Westen kein Halten mehr: "Call of Juarez" steuert sich mit Maus und einigen wenigen gut erreichbaren Keyboard-Tasten butterweich, jeder Schuss und jeder Sprung ist präzise und sitzt. Nervig sind einzig Billys verzweifelte Versuche, die richtigen Stellen zu finden, an denen er mit seiner Peitsche "andocken" kann. Dass es im Wilden Westen reichlich derb zugeht, darauf weist schon hin, dass die USK "Call of Juarez" keine Jugendfreigabe erteilt hat. Erst diejenigen unter Euch, bei denen die Härten eines bereits mindestens 18 Jahre währenden Lebens in der Prärie schon tiefe Furchen ins Gesicht gegerbt haben, dürfen in "Call of Juarez" den Revolver sprechen lassen.
Seit LucasArts' mittlerweile reichlich angegrautem "Outlaws" hat es für den PC kein wirklich ernst zu nehmendes Western-Abenteuer mehr gegeben. "Call of Juarez" füllt nun endlich diese Lücke. Spannungsgeladenes Gameplay mit gehörig Abwechslung zwischen Schleichen und Ballern, starke, gut herausgearbeitete Charaktere und perfekte Wild-West-Atmosphäre - was will man mehr?! Das Schwergewicht liegt bei "Call of Juarez" eindeutig auf der epischen Einzelspieler-Geschichte. Der Multiplayer-Modus bietet dagegen kaum Neues und wirkt wie ein etwas liebloses, aber obligatorisches Anhängsel. Richtig geärgert habe ich mich allerdings über die schwerfällige Engine, die erst nach diversen Anpassungen in den Einstellungen ihren Dienst halbwegs flüssig verrichtet. Geärgert deshalb, weil mir schon bei "Chrome" wegen beinahe unspielbaren Ruckelorgien vor Wut einige graue Haare gewachsen sind. Bis heute hat es Techland anscheinend nicht geschafft, diese gravierenden Performance-Schwächen auszumerzen. Trotzdem: Wer auf Western steht und einen dicken Rechner unter dem Schreibtisch stehen hat, sollte sich "Call of Juarez" nicht entgehen lassen.