Tap my Katamari: Mein virtueller Stressball
Es war das oder ein Ticket nach West Virginia.
Das letzte Jahr über war ich Nachrichten-Junkie. Aus dem üblichen Zeitungslesen - online natürlich, ich bin 40, nicht 140 - wurde ein geradezu süchtiger Konsum. Ich abonnierte die Web-Ausgaben von New York Times und Washington Post, trieb mich fast täglich auf dem Atlantic und dem Guardian herum und öffnete morgens noch aus der Vertikalen heraus fast religiös Real Clear Politics und FiveThirtyEight, um einen Zahlensalat zu konsumieren, vom dem ich jetzt weiß, dass es eine schöne Fantasie war. Dazu kam eine ungesunde Dosis aus Wolf Blitzer und Morning Joe. Ich dachte, ich hätte es ganz gut gecovert. Bis um etwa 4:30 unserer Zeit am 9.11.2016 dann war klar, dass Donald Trump der nächste US-Präsident wird.
Ich hatte jede seiner Entgleisungen mitbekommen - die eigentlich ein konstantes politisches Zugunglück neben dem Gleisbett waren -, die drei eigentlich bisher in dieser Realität für unmöglich gehaltenen Debatten, Rudy Gulianis Drift in die Welt kompletter Realitätsnegation, die er so lange durchhielt, bis plötzlich alles wahr wurde. Wie konnte das sein, steckte ich auch in der Media Bubble? Und dabei bin ich doch nicht mal groß auf Facebook gewesen. Seriöse Leute standen auf den Schienen, als der rassistische, misogyne und fast schon außerirdisch dumme Clown-Express gerade rechtzeitig die Spur fand, um sie alle zu erwischen.
Ich fiel in ein Nachrichten-Loch. Welchen Sinn hatte es, all das weiterzulesen? Irgendwas davon? Meine erste Reaktion war, für ein paar Jahre einfach mal ein Rassist, Frauenhasser und dumm zu werden. Warum dagegen schwimmen? Das scheint in Mode zu sein, einfach mal probieren. Das hielt nur fünf Minuten, ich und mein Anstand konnten uns nicht mal so richtig durchringen die eigene Frau im Befehlston in die Küche zu scheuchen, wo sie nach Meinung scheinbar nicht weniger hingehörte, um Kaffee zu machen. Wie sollte ich da ein anständiger Pussy-Grabber werden. Sexismus ist gar nicht so einfach, muss man scheinbar auch erst mal lernen. Auch mit der bunten Bevölkerungszusammensetzung hier im Wedding hatte ich nie so die Probleme, sie scheinbar auch nicht mit mir, das ist eine schwierige Startposition für Rassismusambitionen. Und ein kurzer Blick auf Breitbart News zeigte mir, dass ich wahrscheinlich auch nicht blöd genug für diese Art von Leben bin.
Ich lag im Bett und wollte meinem üblichen News-Koller nachgehen. Aber es ging nicht. Ich konnte das nicht lesen. Der Finger verharrte über einer App nach der anderen. Und wanderte zurück. Wieder hin zum News-Folder. Wieder zurück. Schließlich tippte er beherzt zu, blieb auf dem Folder und schob ihn geschlossen in den Müll. Tschüss, Frau Huffington, 99,9 Prozent my ass.
Ich starrte auf mein Handy. Und jetzt? Da waren Apps zum Arbeiten, für Musik - war mir sicher nicht nach -, Netflix - sinnlos, "reality is stranger than fiction" - und Shopping, aber das war das letzte, was ich jetzt wollte. Außer vielleicht um zu gucken, ob Amazon Now innerhalb einer Stunde einen Jahresvorrat an Dosennahrung und einen Regenwassersammler schicken kann. Vielleicht noch einen Geigerzähler, die Apokalypse wurde ja oft genug ausgerufen, sollte Trump gewinnen.
Orientierungslos wanderte der Finger über die App-Welt. Zu einem Spiel, das ich vor einer Weile mal installiert und nie gestartet hatte. Tap my Katamari. Katamari. Bunt. Lustig. Das könnte jetzt das Richtige sein.
Es war nicht nur das Richtige. Es war das perfekte Spiel für die perfekte Katastrophe. Es ist stumpf und hohl. Ihr macht nichts außer mit dem Finger schnell zu tippen, dadurch rollt der Ball auf einer ewigwährenden Ebene, rollt Sachen auf und Münzen fallen raus. Die braucht ihr nicht verfolgen, ihr nehmt sie in der gleichen Bewegung mit. Ihr levelt wie gestört. In 20 Minuten hatte ich über 100-mal aufgelevelt, wie wundervoll! Nach einer Stunde noch zigmal mehr!
Mein Gehirn begann im Angesicht dieses ewiglich kullernden, bunten Balls und der sich immer wiederholenden drei Katamari-Songs langsam zu verabschieden und rutschte in einen wundervollen Stupor, die Angstzustände verflüchtigten sich, Blutdruck und Herzfrequenz traten den Weg nach unten an. Ich hatte den ultimativen virtuellen Stressball gefunden.
An jedem anderen Tag hätte ich mich über dieses Katamari geärgert und gefragt, was das soll. Jetzt weiß ich es: Es war die Instant-Therapie, die ich brauchte, um nicht dem Reflex nachzugeben, mein Handy in den See zu werfen, nach West Virginia zu ziehen, mir eine Schrotflinte oder gleich ein AR-15 zu kaufen und zu hoffen, dass es sich direkt unter den Irren am sichersten leben lässt. Can't beat 'em, so join 'em.
Nach einem Stündchen Ballrollen ging es mir gut genug, um eben doch Kaffee zu machen ohne Selbstgespräche über das Ende der Welt zu führen. Nach drei Tagen immer mal wieder zwischendurch Katamari-Kullern begann ich, so etwas wie vorsichtigen Restoptimismus für mein weiteres Leben zu entwickeln. Jetzt, nach knapp einer Woche, habe ich mich sogar getraut, meine ehemals geliebte New York Times aufzumachen. Ich war noch nicht direkt bereit für Artikel wie "Stephen Bannon geht ins Weiße Haus", für so etwas musste ich erst kurz den Katamari rollen. Ich war noch nicht ganz bereit, den Kopf aus dem Sand zu nehmen, aber der erste Schritt war getan. Ich denke, ein paar Wochen noch, dann bin ich bereit, mein Bestreben, ein gut informierter und nicht sonderlich besorgter Bürger zu sein, fortzusetzen. Das wird in dieser Welt zwar nicht einfacher, und "Ignorance" ist wirklich "bliss", aber mein Ding ist es glaube ich dann doch nicht auf Dauer.
Also, wenn die Welt scheinbar mal wieder untergeht und ihr braucht eine Pause: Tap my Katamari.