Tesla Effect: A Tex Murphy Adventure - Test
Die 90er: Ich wär gern länger geblieben, ich glaub, wir haben Geschichte geschrieben.
Es war 1994, also vor ziemlich genau 20 Jahren, als Under a killing Moon erschien: bereits das dritte Spiel um Tex Murphy, diesen ewig gestrigen Detektiv der Zukunft, aber das erste und einzige, das wirklich Aufsehen erregte. Es war das Jahr, als die CD-ROM ein neues Zeitalter der Computerspielgeschichte verhieß, mit genug Speicherplatz für filmreife Videosequenzen und orchestrale Musik, Raum für große Geschichten, wie sie sonst nur Hollywood zu erzählen wusste.
Ein Jahr zuvor hatte The 7th Guest diese Ära eingeläutet: viel FMV, viel Render, viel musikalischer Bombast, und selbst wenn das theatralische Schauspiel der Akteure vor den Green-Screen-Hintergründen immer etwas dilettantisch wirkte, so vermittelten sie doch nach den Jahren grobpixeliger Nüchternheit das Gefühl, hier einen Blick in die Zukunft eines Mediums erhaschen zu dürfen. Endlich würden Spiele das sein, was in den Augen vieler ihre Bestimmung war: ein Hollywood-Film, in dem man selbst die Hauptrolle übernahm. Doch bereits The 7th Guest nahm das Scheitern dieses Genres vorweg: Zwischen all dem Schnickschnack war vor allem viel Schnickschnackschnuck - viel Film, wenig Spiel.
Im selben Jahr wie The 7th Guest erschien Doom und zeigte, wohin die Reise wirklich gehen sollte: Hier gab es keine Story, keine Cut-Scenes, hier ging es um spielerische Freiheit, das Erkunden einer Welt, pure Interaktion, Nervenkitzel und die Freude am gemeinsamen Erleben. Abenteuerspielplatz statt Popcornabend.
Tex and the City
Under a killing Moon bildete eine der wenigen Ausnahmen von der Regel. Nicht, weil es der bessere interaktive Spielfilm gewesen wäre, sondern obwohl es einer war. Under a killing Moon hatte den Vorteil, dass es aus der Tradition klassischer Point-and-Click-Adventures kam, kein Hollywood-Film zum Mitspielen sein wollte, sondern ein Spiel, das seine Geschichte mit den Mitteln Hollywoods erzählte.
Als ich seinerzeit die ersten Screenshots von Under a killing Moon zu Gesicht bekam, konnte ich nicht glauben, was ich dort sah: Das Spiel versprach mir die damals als „fotorealistisch" und „hochaufgelöst" empfundene Grafikqualität eines The 7th Guest, doch nicht wie dort als vorberechnete CGI-Geisterbahn, sondern in Echtzeit-3D, mit aller dazugehörigen Bewegungsfreiheit. Under a killing Moon war ein richtiges Adventure mit spannender Handlung, interessantem Setting, sensationeller Grafik und einzigartigen Ideen. Vor allem aber hatte es eines: Tex Murphy.
Es ist erst wenige Wochen her, als ich mit meinen Kollegen, wie so häufig nach Feierabend, in endlose Nerdgespräche verfiel, wir darüber philosophierten, wen wir für den besten Spielecharakter aller Zeiten hielten. Meine Wahl fiel, ohne lang zu überlegen, auf ihn: diesen tollpatschigen Privatdetektiv, der mit Trenchcoat und Fedora-Schlapphut einer anderen Zeit entsprungen scheint, jener Zeit der großen Kriminalgeschichten eines Raymond Chandler, des Bourbon und der Femme fatales. Ein Mann, den das Leben fortwährend mit Füßen tritt und der dennoch stets darum bemüht ist, sich seine Anständigkeit zu bewahren.
"Er ist irgendwas zwischen Humphrey Bogart und Donald Duck, Manny Calavera und dem Last Boy Scout, Peter Venkman und dem Blade Runner."
Dem Ironie und eine scharfe Zunge als einzige Waffen gegen die Widrigkeiten einer von Grund auf verkommenen Welt verblieben sind, in der jeder gegen ihn zu sein scheint. Irgendwas zwischen Humphrey Bogart und Donald Duck, Manny Calavera und dem Last Boy Scout, Peter Venkman und dem Blade Runner. Tex Murphy ist zugleich Spielball und Spreisel in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, immer zur richtigen Zeit am falschen Ort, der Ritter von trauriger Gestalt, der die Welt für all die anderen rettet, die sich im Gegensatz zu ihm in ihr zurechtfinden, der die Prinzessin befreit, nur um sie am Ende doch nicht zu kriegen.
Aktenzeichen hoch aufgelöst
Seinen letzten Auftritt hatte Tex Murphy 1997 im Spiel Overseer, einem Remake des ersten Teils Mean Streets. Die Rahmenhandlung von Overseer endete mit einem bösen Cliffhanger, doch nach der Übernahme von Entwickler Access durch Microsoft sollte der geplante Nachfolger nie in Produktion gehen. Die Zeit von FMV-Adventures war vorbei. Access sollte sich auf Sportspiele, allen voran ihre damals populäre Golfsimulation Links, konzentrieren.
Jahrelang suchten die geistigen Väter Aaron Conners und Chris Jones nach einer Möglichkeit, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen, produzierten gar ein Hörspiel, um den Fans wenigstens die brennendsten Fragen zu beantworten, die sie mit dem offenen Ende entzündet hatten. Doch eine Wiederkehr als Phoenix aus der Spieleasche schien immer unwahrscheinlicher. Bis Kickstarter...
657.196 Dollar holten sie sich für den Arbeitstitel „Project Fedora" aus der Crowd, das restliche Budget der insgesamt 1 Mio. steuerte das von Conners und Jones gegründete Studio Big Finish Games selbst bei. Am 7. Mai erschien das 16 GB schwere Tesla Effect auf Steam und GOG. Zum Vergleich: Under a killing Moon brachte es damals auf vier CD-ROMs mit gerade mal knapp 2 GB - bei doppelt so hohem Budget.
"Tesla Effect ist das Spiel, das Under a killing Moon vor zwanzig Jahren gerne gewesen wäre."
Die Unterschiede sind enorm: Tesla Effect ist das Spiel, das Under a killing Moon vor zwanzig Jahren gerne gewesen wäre. FMV in der Pracht messerscharfer 2K-HD-Auflösung statt pixelig-ruckeliger Videofensterchen, flüssiges Fullscreen-3D und glasklarer Ton. Das ist zwar heutzutage nicht ansatzweise etwas Besonderes, doch führt es eindrücklich vor Augen, mit welchen aus heutiger Sicht unvorstellbaren Einschränkungen die Entwicklung damals vonstattengehen musste. Allein die Fortschritte der letzten Jahre in Sachen Videokompression, Editing-Software und 3D-Tools dürften dafür gesorgt haben, dass das Spiel trotz höheren Aufwands deutlich weniger kostete als sein 20 Jahre alter Vorgänger.
Die Befürchtung, die nach wie vor theatralisch vor Green-Screen-CGI-Hintergründen agierenden Schauspieler entblößten sich im vollen HD-Scheinwerferlicht endgültig ihres Dilettantismus, bewahrheitet sich glücklicherweise kaum. Gelegentlich durchaus vorhandene unfreiwillige Komik wirkt eher nostalgisch charmant denn lächerlich. Im Gegensatz zu den deutschen Untertiteln, die offenbar über weite Strecken mit dem Google Translator übersetzt wurden und daher regelmäßig den Unterhaltungswert peinlicher Phishing-Mails gewinnen.
Quark hoch zwo
Das unter HD-Lupe nicht zu übersehende fortgeschrittene Alter von Tex-Murphy-Darsteller (und Spieldesigner) Chris Jones hingegen wird durch einen simplen Story-Kniff erklärt: Sieben Jahre sind seit dem Ende von Overseer vergangen. Sieben Jahre, die komplett in Tex' Gedächtnis fehlen. Sieben Jahre, in denen er zeitweise verschollen war, sich mit zwielichtigen Gesellen eingelassen hat und sogar selbst zu einem gemeinen Kerl geworden ist. Und natürlich mal wieder als Spielball finsterer Mächte mit Weltzerstörungskomplex dienen musste, deren Absichten und Gut-Böse-Zuordnung sich wegen Erinnerungslücke lange Zeit nur Pi mal Daumen schätzen lassen.
Wie es sich für einen richtigen Film noir gehört, ist die Anzahl der Personen, Plot-Enthüllungen, Wendungen und Erklärungen so kompliziert, dass es bisweilen schwerfällt, ihnen zu folgen. Hier empfiehlt sich: mehrfach spielen. Denn auch dank zahlreicher Dialogverzweigungen bekommt man viele Gags und Szenen erst beim wiederholten Durchgang zu sehen. Zwar gibt es auch mehrere Endsequenzen, doch wirklich nachhaltige Entscheidungen sind kaum vorhanden. Tesla Effect ist ein reinrassiges Adventure, kein The Walking Dead.
"Dank zahlreicher Dialogverzweigungen bekommt man viele Gags und Szenen erst beim wiederholten Durchgang zu sehen."
Und wie es sich für ein Tex-Murphy-Adventure gehört, dreht sich die Geschichte um eine bisweilen ziemlich krude Mischung aus Verschwörungstheorie und Mystery. Diesmal um den titelgebenden Physiker Nikola Tesla, dem nicht nur die Erfindung einer elektrischen Superwaffe und, ähm, irgendwas mit Wiedergeburt angedichtet wird, sondern auch ein Zauberradio, das mit dem Jenseits kommunizieren kann. Etwas zu weit jenseits der Grenze zum Humbug ist das allerdings besonders zum Ende hin schon...
Doch darum geht es nicht. Die Geschichte eines Tex-Murphy-Spieles ist keine der Handlung, sondern der Sprache: geschliffene Dialoge zwischen beißendem Sarkasmus und bitterer Ironie, stets auf der schmalen Grenze zwischen Pathos und völliger Albernheit, wie sie nur große Meister beschreiten können, ohne dabei abzustürzen. In dem wilden Genre-Patchwork aus Krimi, Science-Fiction, Mystery und James Bond ist Tesla Effect im Herzen möglicherweise gar eine Komödie.
Hausieren geht über Studieren
Eine schmale Gratwanderung vollführt auch das Rätseldesign. Zu Beginn ist man lange Zeit fast ausschließlich damit beschäftigt, immer und immer wieder die gleichen Gesprächspartner abzuklappern, bis man denjenigen gefunden hat, dem eine neue Information einfällt, mit der man dann wiederum von vorne hausieren geht. Wenig einfallsreich.
Noch schlimmer: Mehrfach muss man einen ganzen Haufen in der Location versteckter Gegenstände zusammensuchen. Spielkarten, Teile eines zerbrochenen Artefakts, Sprossen für eine Leiter, Bruchstücke eines Passwortes... Fühlt sich mehr nach Ostereiersuche an als nach Abenteuer. Ohne die zuschaltbare Hotspot-Funktion per Taschenlampe (übrigens eine hübsche Idee!) wäre ich dabei aufgeschmissen gewesen. Genervt hat es trotzdem manchmal.
"Klassisches Gegenstände-Kombinieren gibt es natürlich auch, so richtig schwierig wird es aber nur höchst selten."
Und dann sind da noch die etlichen Minispiele: Schieberätsel, Logikaufgaben, Labyrinthspielchen. So Zeug eben. Mal mehr, mal weniger unterhaltsam, waren sie mir jedenfalls - wie schon im Vorvorgänger The Pandora Directive - eine Spur zu zahlreich. Klassisches Gegenstände-Kombinieren gibt es natürlich auch, so richtig schwierig wird es aber nur höchst selten. Der Beigeschmack, den Tesla Effect auf diese Weise erhält, ist so leider genau der des berüchtigten Interaktiven-Spielfilm-Genres, den Under a killing Moon seinerzeit noch so erfolgreich von sich weisen konnte.
Es war einer dieser Momente, über die ich noch lange sagen werde: „Dass ich das noch erleben durfte...". Es war wie das plötzliche Wiedersehen mit einem alten Freund, der vor langer Zeit versehentlich für tot erklärt wurde. Tex Murphy, mit seinem Trenchcoat und dem Fedora, in seinem fliegenden Speeder zwischen den Hochhäusern im nächtlichen San Francisco des Jahres 2050, dazu seine Stimme, wie sie mit einer Mischung aus trockenem Humor und Fatalismus eine Welt beschreibt, die nur noch aus Gosse zu bestehen scheint. Wer immer in den 90ern Bekanntschaft mit Under a killing Moon und seinen Nachfolgern gemacht hat, für den dürfte allein das sagenhafte Intro von Tesla Effect zu den emotionalen Höhepunkten des Spielejahres gehören. Ja, ich habe mehr als nur eine Träne verdrückt...
Im Gegensatz zu manch anderem per Kickstarter finanzierten Retro-Adventure wirkt Tesla Effect nicht wie ein Relikt aus einer anderen Ära, die besser Vergangenheit geblieben wäre, sondern im Gegenteil: wie das Spiel, das die Vorgänger damals schon hätten sein wollen - ohne die zahlreichen technischen Einschränkungen jener Zeit. Tesla Effect steckt damit aber auch seine Zielgruppe genau ab: Es ist ein Spiel für seine Kickstarter-Backer, die Fans von früher, die heute erwachsen sind - in etwa die gleichen, die sich auch die Neuauflage des Yps-Heftes kaufen.
Für Kinder der Gegenwart mag Tesla Effect hingegen etwas trashig wirken. Auch die Handlung macht bisweilen einen Schlenker zu viel über die Grenze zum Humbug, und die Rätsel leiden streckenweise unter fahrlässiger Einfallslosigkeit. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, die Welt durch die Augen von Tex Murphy sehen zu dürfen. Und das ist heute wie gestern nicht weniger als ein Privileg.